Favorite Entries 2013

31.12.2013

2013 revisited

(2012, 2011, 2010, 2009, 2008, 2007, 2006, 2005, 2004, 2003, 23. Dezember)

1. Mehr Kohle oder weniger?

Mein Steuerberater weint bei der Frage. Deutlich weniger, weil kaum gearbeitet, aber viel studiert.

2. Mehr ausgegeben oder weniger?

Weniger für Amazon, mehr für Flüge. Und Miete. Und Gerätschaften, die ich plötzlich zweimal brauche (Messer, Pfannen, Sandwichtoaster). Mein Steuerberater weint immer noch.

3. Mehr bewegt oder weniger?

Ich habe neuerdings ein Fahrrad und benutze es ausgiebigst.

4. Der hirnrissigste Plan?

Eigentlich bin ich gerade mitten drin in diesem Plan. Klingt hirnrissig, fühlt sich aber nicht so an.

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5. Die gefährlichste Unternehmung?

„Dass deine Sattelschraube locker war, wusstest du nicht, oder?“

6. Der beste Sex?

Kannnichklagen.

7. Die teuerste Anschaffung?

27 Mal HAM-MUC und retour.

8. Das leckerste Essen?

Ich esse nur noch lecker. Meine üblichen Lieblinge wie Broeding (München) und Trific (Hamburg) haben wieder überzeugt, Essers Gasthaus (Köln) sowie die Alte Friesenstube (Westerland/Sylt) kommen neu auf die Liste. Besonders schöne Abende, essen- und gesellschaftsmäßig, waren der hier mit Kolleginnen in Hamburg und der hier am Flaucher. Und natürlich jeder mit dem Kerl, Frau @hammwanich und Lektorgirl. (Runner-up: Oktoberfestbiere. Alle, in jedem Zelt.)

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9. Das beeindruckendste Buch?

Comic: Christophe Blains Quai d’Orsay und Chris Wares Building Stories.

Sachbuch: Werner Haftmanns Malerei im 20. Jahrhundert und Walter Benjamins Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.

Fiktion: Connie Palmens I.M. und Iwan Gontscharows Oblomow.

10. Der ergreifendste Film?

Stories We Tell auf dem Filmfest München. Runner-up: Gravity, Holy Motors (DVD) und Love Steaks (wobei der nicht ergreifend war, aber toll).

11. Die beste CD? Der beste Download?

Django Django.

12. Das schönste Konzert?

Ich war auf keinem, aber dafür im Theater: Fegefeuer in Ingolstadt in den Münchner Kammerspielen war großartig.

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13. Die meiste Zeit verbracht mit …?

… über beide Ohren grinsen, während ich in der LMU saß.

14. Die schönste Zeit verbracht mit …?

… über beide Ohren grinsen und vom Flughafen abgeholt werden.

15. Vorherrschendes Gefühl 2013?

„Wenn ich dafür auch noch Geld kriegen würde, wär’s das Paradies.“

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16. 2013 zum ersten Mal getan?

In der Pinakothek der Moderne gewesen. (Hier langes, peinlich berührtes Schweigen des Drittsemesters vorstellen.) Im Kölner Wallraf-Richartz-Museum gewesen. In der Berliner Gemäldegalerie gewesen. Mit sehr viel Bauchschmerzen meine Stimme zur Bundestagswahl abgegeben. Funky Krankheit diagnostiziert bekommen. Oper gesungen.

17. 2013 nach langer Zeit wieder getan?

Fahrrad gefahren. Klausuren und Hausarbeiten geschrieben. Geschichte studiert. Ins Theater gegangen. Ins Sprengelmuseum gegangen. Den Kölner Dom besucht.

18. Drei Dinge, auf die ich gut hätte verzichten können?

Dieser eine beschissene Abend in dieser eigentlich großartigen Bar. Der SemesteranfangserkältungGrippeBronchitisNERVKRAM. Funky Krankheit.

19. Die wichtigste Sache, von der ich jemanden überzeugen wollte?

Dass ein netter Mensch das tollste Auto der Welt kaufen möge. Hat leider nicht geklappt. Jetzt kommt der Racker doch in eine Auto24irgendwas-Börse.

20. Das schönste Geschenk, das ich jemandem gemacht habe?

Ich hoffe, meine Zuneigung.

21. Das schönste Geschenk, das mir jemand gemacht hat?

Ich habe gleich von mehreren Leuten tolle Geschenke bekommen: Zeit. Aufmerksamkeit. Hilfsbereitschaft. Zuverlässigkeit. Von Lesern und Leserinnen Dinge von meinem Wunschzettel (Christmas all year long!). Und dann war da noch dieses Minion-Monopoly.

22. Der schönste Satz, den jemand zu mir gesagt hat?

„Nee, das ist noch nicht vom Tisch.“

23. Der schönste Satz, den ich zu jemandem gesagt habe?

„Mein heutiges Referatsthema lautet …“

24. 2013 war mit einem Wort …?

Awzum.

30.12.2013

Bücher 2013

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29.12.2013

2013 auf Instagram

Ich bin sehr spät auf der Party, aber ich habe in diesem Jahr Instagram für mich entdeckt. Ist nett da, sehr klein und übersichtlich.






















28.12.2013

What Anke Ate in 2013

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15.12.2013

YOLO

Am Dienstag spielten meine Lieblinge vom FC Bayern ihr letztes Spiel in der Gruppenphase der Champions League und ich hatte ein Ticket – aber am Tag darauf auch mein erstes Referat in Geschichte.

Seit vier Wochen wühlte ich mich durch sämtliche Bibliotheken in meiner Nähe und Ferne, analog und digital, um an Literatur über die englische Frauenbewegung zu kommen. Nach dem ersten Einführungsbuch (das ich nicht nur meinem Kurs als sehr entspannten Einstieg in das Thema empfohlen habe, sondern hiermit auch euch) hangelte ich mich durch die ganzen tollen Datenbanken, die wir erklärt bekommen hatten, suchte Aufsätze, wuselte in Fußnoten rum, denn da stecken ja immer die Bücher, die mich zu weiteren Büchern führen und hatte schließlich einen Aufbau fürs Referat. Erstmal erklären, wie der rechtliche Stand von bürgerlichen Mittelstandsehefrauen im viktorianischen England war. (Für die Arbeiterklasse und die unverheirateten Damen hatte ich leider keine Zeit in meinen lausigen 20 Minuten Referatszeit.) Daraus ableitend dann die Ziele der ersten Frauenvereine, von denen das Wahlrecht nur eines war. Dann die zwei großen Organisationen NUWSS und WSPU aufdröseln, politische Ziele und Mittel erwähnen, dann die Auswirkungen auf die Gesellschaft und dann irgendwann nach drei Stunden ein Fazit. Zusätzlich wünschte sich unsere Dozentin für die Referate einen Einblick in den Forschungsstand (das kannte ich bisher noch nicht) und eine Leitfrage, die wir im Fazit beantworten sollten. Auch das bekam ich irgendwie hin, wobei mir der Forschungsstand am meisten Probleme machte, weil ich noch nie nach einem solchen gesucht hatte. Ging aber auch. In meine Referatskladde eingearbeitet, Handout für die KommilitonInnen erstellt und wie gewünscht eine Woche vor dem Referat an die Dozentin geschickt.

Sie sendete es mir mit ein paar Anmerkungen zurück und der Frage, ob man einige Teile kürzen und andere umstellen könnte. Ich machte mich an die Arbeit und stellte fest, dass das doch mehr war als „nur ein bisschen kürzen und umstellen“, suchte nochmals nach Literatur, kürzte dafür allerdings wie eine Irre, schickte das neue Handout am Montag zur Dozentin, saß am Dienstag erst in der Uni und dann immer noch am Referat, das partout nicht kürzer als 25 Minuten werden wollte (ich hatte es mir inzwischen achtmal in acht Varianten selbst erzählt) und guckte immer nervöser auf die Uhr. Das Spiel nahte, ich war im Kopf aber in England bei den bombenlegenden Frauen und merkte: Da will ich auch bleiben.

Daher bot ich mein Ticket auf Twitter an, bekam einige bedauernde Smileys von Menschen, die ich vom tpmuc kenne und die sich schon auf das Spiel freuten, und dann entwickelte sich dieser Dialog:

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So drastisch (und so großartig) fiel mir das eigentlich erst in diesem Moment auf.

Seit gut einem Jahr wird mein Tag nicht mehr von Briefings und Meetings bestimmt, sondern von Seminaren und Vorlesungen. Seit gut einem Jahr stehe ich nicht mehr jeden Wochentag um 7 auf, sondern mal um 6, mal um 8 und mal klingelt nicht mal der Wecker (gasp!). Ich sitze nicht mehr in Agenturen oder im Home Office, sondern in Hörsälen, Seminarräumen und vor allem Bibliotheken. Und genau diese kleinen Racker machen mich fürchterlich glücklich. Ich liebe es so sehr, mitten in einem Stapel Bücher zu sitzen und lauter Gedankengängen zu folgen, die mir bis vor wenigen Sekunden neu und unbekannt waren. Ich liebe es, mich von Fußnoten zu noch einem Buch leiten zu lassen, das in der tollen Historicumsbibliothek oder meinem Liebling, der KuGi-Bib, quasi direkt hinter mir steht. Ich muss nur zugreifen und schon steht mir noch mehr Wissen zur Verfügung. Ich hätte selbst nicht gedacht, wie viel Spaß es mir macht, dazuzulernen. Ganz simpel: Kopf aufmachen, lesen, lernen, fertig. In sämtlichen Seminaren, selbst dem einen, das sich etwas zieht und zäh ist und ein bisschen nervig, habe ich alle fünf Minuten das Loriot’sche „Ach was?!“ im Hirn, weil ich schon wieder etwas gelernt habe. Die Verbindungen, über die ich schon mal bloggte, werden mit jedem Kurs und jedem Buch dichter, und ich kann kaum beschreiben, wie großartig ich das finde.

Ich bin so begeistert davon, zwischen vielen schlauen Menschen zu sitzen, die im Idealfall im Seminar genauso gerne diskutieren wie ich, die genau wie ich kunsthistorische Theorien anzweifeln oder sich spontan in sie verlieben, die über Geschlechterbilder nachdenken, über die Zensur während der Aufklärung, über den städtebaulichen Unterschied von Regensburg und München, über die Entstehung der Universitäten im Mittelalter, über handschriftliche Signaturen in alten Büchern und was sie bedeuten, über (hoffentlich) ungewollt rassistische Konzepte in Ausstellungen, über feministische Kunst, ach, über alles, was bisher nicht auf meiner Agenda stand, aber jetzt auf einmal da ist und mich und meine Standpunkte täglich herausfordert.

Es ist so befreiend, akademische Dialoge zu führen, wie ich es nie vorher vermutet hätte. Ich merke jeden Tag, wie sehr es mich befruchtet, fordert, ändert, über Dinge nachzudenken, über die ich sehr lange nicht oder noch nie nachgedacht habe. Und deswegen fiel es mir überhaupt nicht schwer, mich von meiner Fußballkarte zu verabschieden, denn ich wollte lieber noch eine Runde über die Suffragetten nachdenken und das Referat richtig gut machen und nicht nur gut – was mir laut Feedback der Dozentin auch gelungen ist.

Was ich derzeit täglich mache, ist für mich persönlich der Inbegriff von carpe diem. Ich tue den ganzen Tag Dinge, die mir Freude bereiten und mich erfüllen. Dass dafür meine Ersparnisse draufgehen, nagt zwar manchmal an mir, aber da sind wir wieder beim carpe diem: Wenn mir morgen ein Klavier auf den Kopf fällt, habe ich von der ganzen Kohle auch nichts mehr. Also werfe ich sie den Münchner Vermietern und der Lufthansa in den Rachen und bekomme im Gegenzug einen Tagesablauf, der mich definitiv glücklicher macht als die goldene Nase in der Agentur.

Mein Bachelorstudium ist in sieben Wochen halb durch, und ich überlege jetzt schon, ob ich mir auch noch den Master leisten kann. Jetzt gerade will ich nichts lieber als: lernen. Lesen. Schlauer werden. Mich mit Theorien und Diskursen auseinandersetzen in zwei Fächern, die ich mit ganzem Herzen umarme (und mich dafür auf so ziemlich jedem sozialen Kanal als Streberin titulieren lassen muss. Den Begriff umarme ich auch, immer her damit). Ich habe meine Tage bisher fürs Geldverdienen genutzt und jetzt nutze ich sie (größtenteils) für etwas anderes. Wenn das nicht YOLO ist, weiß ich es auch nicht.

Edit 17.12.:

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22.11.2013

Synapsenfunkeln

Im letzten Semester, als ich noch Musikwissenschaften studierte, freute ich mich eines Tages, als in Musik ein Buch erwähnt wurde, von dem ich schon in Kunstgeschichte mal gehört hatte. Da war plötzlich eine Verbindung, eine Linie von einem Punkt zum anderen, ein Aha, eine Glühbirne. Mein Gehirn glitzert dann immer ein bisschen, glaube ich. Das ist toll. Und das ist noch toller, seit ich Geschichte studiere.

Vor einigen Wochen lernte ich in der Mittelalter-Vorlesung die Ottonen etwas genauer kennen, die natürlich schon im ersten Semester Kunstgeschichte zur Sprache kamen, als wir uns so langsam der Romanik näherten. In der Vorlesung sahen wir das Krönungsevangeliar Ottos III. per Powerpoint (hier eine Seite) – und weil fast zeitgleich eine Ausstellung zum Thema in München lief, sah ich das Buch auch in echt. Das hat mich beeindruckt, das war hübsch und alles und so, aber erst, als ich in Geschichte von Opa Otto hörte und Mama Theophanu, fing mein Gehirn zu glitzern an. Da war nicht mehr irgendwo ein Buch und irgendwo anders der Kerl, für den es gemalt wurde, sondern auf einmal sah ich durch die lebhafte Schilderung des Dozenten den dreijährigen König und Kaiser des deutschen und des römischen Reiches, für den erstmal Mama und Oma die Regierungsgeschäfte übernehmen mussten. Auf einmal war da ein Stammbaum, der mit der beeindruckenden Geschichte Ottos des Großen begann und der völlig logisch irgendwann in einen Prachtband münden musste, den wir heute noch bewundern. Auf einmal war da die Verbindung.

In der Vorlesung über amerikanische Kunst nach 1945 hörte ich etwas über Dan Flavins Monuments for V. Tatlin, die auf Wladimir Tatlins Monument der Dritten Internationale rekurrierten, das ich im letzten Semester in meinem Skulpturenkurs kennengelernt hatte. In der Vorlesung über Ausstellungskonzepte der letzten 60 Jahre erfuhr ich, dass einer der Kuratoren der ersten documenta Werner Haftmann gewesen war, von dem ich in den Semesterferien brav sein Hauptwerk durchgelesen hatte. (Okay, fast.) Und in der Übung zu Zeitungen und Journalen der Aufklärung fiel mir zum ersten Mal auf, woher der Begriff „Journalist“ kommt. Wobei ich gestern gelernt habe: Die Herren, die dort publizierten, wurden auch „Gazettiers“ genannt <3

Letzte Woche lasen wir im Lektürekurs in Kunstgeschichte einen Text von Ernst Gombrich, dem Altmeister der populären Kunstgeschichte. Er schreibt in Kunst und Illusion, dass ein Künstler (m/w) nur das malt, was er kennt. Sehr vereinfacht: Er malt in einem Stil, der gerade zeitgemäß ist, er malt das, was er sieht und das ist immer etwas anderes als das, was ein Danebenstehender sieht. Wenn man fünf Leuten sagt, malt mal diesen Stuhl da möglichst realistisch, kommen fünf unterschiedliche Bilder dabei raus. Man guckt sich ein Objekt an und beginnt zu malen, wobei man unwillkürlich Schemata oder Formen abruft, die man abgespeichert hat – die man kennt.

Gombrich schreibt auch über die Verwendung von Bildern in früheren Zeiten, zum Beispiel im Mittelalter, wo ein wackerer Künstler die römische Engelsburg in einem Holzschnitt verewigte. Sein Problem: Er kannte die Burg nicht, wusste aber, wie bei ihm zuhause Burgen aussahen, und deswegen sieht die Engelsburg auf seinem Schnitt dann auch wie ein süddeutscher Adelssitz aus, mit Türmchen und Zinnen – und einem Engel, der auf dem Dach steht. Er „malte“, was er kannte.

In der gestrigen Vorlesung in Geschichte zur Stadtentwicklung in Süddeutschland zeigte der Dozent mal wieder eine Karte. (Karten sind toll! Wer hätte es gedacht.) Wir hatten in der letzten Stunde bereits gelernt, wie im 13. Jahrhundert die klassische Stadtgründung in Bayern aussah: eine breite Straße in der Stadtmitte, die als Markt diente, orthogonal angelegte Straßenzüge, eine fast quadratische Stadtbefestigung und, gerne etwas außerhalb der Stadt gelegen, eine Burg, in der meist der Herzog lebte, der die Stadt aus Lust und Laune geplant und gebaut hatte. (Und weil er Zolleinnahmen haben wollte.)

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Die Karte ist, wenn ich den Bayernatlas richtig interpretiere, aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Kann man laut Dozent gelten lassen, denn unsere Städte veränderten sich erst Ende des 19. Jahrhunderts so richtig. Und in manchen, wie zum Beispiel in Regensburg, kann man aus der Luft sogar noch die alte Stadtbegrenzung erkennen. Wobei die in Regensburg sogar noch aus römischer Zeit stammt. (Edit 1.12.: Der Betreiber von archaeolet.de hat meinen direkten Link auf das Regensburgfoto als Hotlinking interpretiert. Ich verweise mal auf die komplette Seite, auf der das Bild steht – ihr müsstet jetzt nach unten bis zum zweiten Bild scrollen. Sorry, archaeolet, mein Fehler!)

Und dann sahen wir gestern eine weitere Stadt in einem deutschen Stich von 1582, wobei uns der Dozent nicht sagen wollte, um welche Stadt es sich handelt:

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Überraschung: Es ist Edinburgh. Und das sah in Wirklichkeit ganz anders aus, nämlich viel langgestreckter – das geht rechts aus dem Bild raus noch mal so lang weiter mit den Häusern, aber mein Blog ist zu klein. Immerhin die Burg stimmt.

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Aber weil der deutsche Stecher nur deutsche Städte und ihre Formen kannte, nahm er eben an, dass schottische auch so aussehen.

Glitzerglitzer.

09.11.2013

Zwei Hausarbeiten

Wochenende – Zeit für ein bisschen Bildung. Anbei findet ihr meine ersten beiden Hausarbeiten, die ich in Kunstgeschichte geschrieben habe, denn Wissen ist schließlich für alle da.

Die erste Hausarbeit heißt „Andacht, Repräsentation und Erinnerung: Drei Bildwerke Memlings und ihre Funktion“. Auf diese Arbeit habe ich eine LAUSIGE 1,7 bekommen, was ich vor allem einem nicht vorhandenen Abbildungsverzeichnis zu verdanken habe. Ich habe mich natürlich brav an alle Angaben zur Erstellung einer Hausarbeit gehalten, die die Uni mir ans Herz gelegt hat, aber dort stand die verführerische Formulierung „Abbildungen können mitgeliefert werden“ (Hervorhebung von mir), was für mich hieß: Sie müssen nicht. Und meine Dozentin ist ja klug und weiß, worum’s geht, also lasse ich das. Hätte ich mal gefragt.

Zweiter Kritikpunkt waren fehlende biografische Angaben und zu kurze Bildbeschreibungen. Die Werke, um die es geht, findet ihr einerseits in meinem Blogeintrag zum Referat über das gleiche Thema (Diptychon des Maarten van Nieuwenhove sowie das Bildnis eines alten Ehepaars), andererseits hier, denn in der Arbeit spreche ich auch über Zwei Flügel mit den Bildnissen des Willem Moreel und der Barbara von Vlaenderberch.

Die zweite Hausarbeit trägt den schönen Titel „Der finale Bruch mit der Klassik: Alexander Archipenkos Schreitende Frau“ und findet sich hier. Sie hat ein fettes Abbildungsverzeichnis, total tolle biografische Angaben, eine irrwitzig ausführliche Werkbeschreibung – und wurde mit 1,3 benotet. WHAT DOES A GIRL HAVE TO DO? Hier gab es eigentlich nur einen richtigen Fehler, den ich gemacht habe: In der Einleitung spreche ich von „massiven“ Werken. Das ist bei Bronze natürlich Blödsinn; worauf ich hinaus wollte, waren Werke mit einer geschlossenen Oberfläche.

Viel Spaß beim Lesen. Ich hatte jedenfalls ne Menge Spaß beim Schreiben.

06.11.2013

Kunstgeschichte live

(Very long, read anyway.)

Ich erwähnte in meinem ersten Blogeintrag zum neuen Semester eines meiner Seminare „Provenienzforschung. Einführung, Überblick, Perspektiven“ und was wir dort so lernen. Es erhält durch den Kunstfund in München gerade natürlich eine sehr aktuelle Dimension, die auch im Kurs diskutiert wurde.

In den ersten Sitzungen sprachen wir über die Hintergründe von Restitution – also die Rückgabe oder Erstattung von Kulturgütern, die verfolgungsbedingt entzogen wurden. (Mit dieser Formulierung umgeht man das unschöne Wort „Raubkunst“, das zum Beispiel Kunsthandwerk, Möbel oder Bücher nicht einbezieht, die natürlich auch massenweise geraubt wurden.) Wir lernten die Washington Principles kennen, in denen 1998 eine Übereinkunft zwischen verschiedenen Ländern erreicht wurde, wie mit diesen Kulturgütern zu verfahren sei. Dort steht unter anderem, dass nicht restituierte Güter identifiziert, öffentlich gemacht werden und Anstrengungen unternommen werden sollten, sie zurückzugeben. Dort steht aber auch, dass man die Umstände des Holocaust (Ausrottung kompletter Erbenfamilien) und die inzwischen verstrichene Zeit nicht vergessen sollte. Angestrebt werden „gerechte und faire“ Lösungen, die auch finanzielle Entschädigungen bedeuten können.

Wir lernten die Website Lost Art kennen, auf der die Bundesrepublik ein Register geschaffen hat, in dem Kulturgüter als vermisst oder aufgefunden gemeldet werden können. Auf der Seite finden sich zusätzlich diverse Hilfsmittel zur Provenienzrecherche, zum Beispiel eine kleine Auflistung der Reichsgesetze, mit denen der Entzug von Kulturgütern rechtlich verbrämt wurde oder eine sehr ausführliche und stets aktuelle Bibliografie zu Raub- und Beutekunst.

Vergangenen Mittwoch fand im Zentralinstitut für Kunstgeschichte ein Kolloquium zum Thema statt, das uns Kursteilnehmern und -teilnehmerinnen dringend ans Herz gelegt wurde. Zu Recht, denn das waren sehr spannende vier Stunden. Verschiedene Redner und Rednerinnen informierten über den Forschungsstand bzw. ihre Projekte. So berichtete eine Mitarbeiterin der Bayerischen Staatsbibliothek über ihre Versuche, Bücher zu restituieren, die damals direkt von der Gestapo eingeliefert wurden (so nach dem Motto, wir haben hier ein paar Kisten Bücher, enjoy), bei denen sie anhand von Widmungen und Einwohnerdaten versuchte, die Besitzer herauszufinden. Auch das klang schon im Seminar an: Die verschiedenen Arten, wie Kulturgüter entwendet und weitergegeben wurden. In meinem Referat habe ich mich mit der Datenbank German Sales 1930–1945 befasst, in der 3.000 Auktionskataloge digitalisiert und als durchsuchbare Textdateien aufbereitet wurden. Ich lernte unter anderem, dass Auktionen nicht nur von Auktionshäusern durchgeführt wurden, sondern teilweise von Zoll und Gestapo, die ganz simpel die Container öffneten, die am Hamburger Hafen standen, während ihre Besitzer ausreisten (hoffentlich). Wenn jüdische Familien verschleppt wurden, fielen ihre Wohnungen an die Finanzämter der jeweiligen Städte, die gemeinsame Sache mit den Gerichtsvollziehern machten und unter der Hand Güter losschlugen. Die US-amerikanische Militärregierung schätzt, dass seit 1941 über 15.000 Versteigerungen stattgefunden haben; daher sind die 3.000 Kataloge nur ein winziger Einblick in die Massen von Waren, die geraubt und verkauft wurden. (Mehr zu diesem Thema steht hier; meine Infos habe ich auch aus diesem Text.)

Ein weiterer Vortrag auf dem Kolloquium berichtete über „Russische Kunst in deutscher Hand – Ansichten zu einer Ausstellung in Pskov 1943“, wo es um russische Kunst ging, die von Deutschen zusammengetragen wurde (ich hoffe, ich erinnere mich richtig). Der sogenannte militärische Kunstschutz war – in Verkennung seines eigentlichen Auftrags, siehe den Wikipedia-Link – in den besetzten Gebieten dafür zuständig, Kunst für deutsche Museen zusammenzutragen; dabei wurde anfangs weitaus mehr Sorgfalt gewahrt als in den letzten Kriegsjahren, wo zum Beispiel Bilder teilweise aus den Rahmen gerissen und mitgenommen oder Werke schlicht zerstört wurden, um sie der näherrückenden Roten Armee zu entziehen. Die Werke, die für die Ausstellung zusammengetragen wurden, stammen auch aus verschiedenen Quellen, die wiedergefunden werden müssen. Und Teile davon landeten wahrscheinlich in deutschen Museen, wo sie heute unbehelligt ausgestellt werden. Ein Problem der Zäsur 1945: Teilweise wurden Kulturgüter vor Kriegsende in Depots geschafft, um sie vor Zerstörung zu schützen, aber erst nach Kriegsende in Museen oder Bibliotheken inventarisiert. Es ist teilweise nicht mehr feststellbar, wann ein Kunstwerk wohin eingeliefert wurde geschweige denn, woher es stammt.

Den vorletzten Vortrag des Kolloquiums hielt eine unserer Dozentinnen, deren Dissertation zum Thema auch als Buch Kunsthandel im Nationalsozialismus: Adolf Weinmüller in München und Wien erhältlich ist (Affiliate Link). Sie beschäftigt sich seit Jahren mit dem Auktionshaus Weinmüller, deren heutige Leiterin als einzige (!) von allen Auktionshäusern Deutschlands die Geschichte ihres Hauses erforschen lässt. Der Rest war wahrscheinlich zwölf Jahre lang irgendwie nicht da.

Der letzte Vortrag führte dann wieder in die Gegenwart – es ging um den Datenschutz bei der Provenienzforschung. So gibt es durchaus Nachfahren, die den Namen ihrer Großeltern aus der Datenbank von Lost Art haben entfernen lassen, weil sie nicht möchten, dass irgendjemand sieht, dass Opa Raubkunst gekauft hat. Dabei stellt sich natürlich die Frage, wie weit das Allgemeinwohl bzw. die Aufklärung Vorrang hat vor Persönlichkeitsrecht. Über Lost Art wurde auch in der anschließenden Diskussion gesprochen: Es wurde ein Fall eines Gemäldes skizziert, das zweimal als vermisst gemeldet wurde – von einem ersten Besitzer, der es (die Zahlen sind erfunden, aber die Richtung stimmt) 1935 verkaufen musste und einem zweiten, der es 1938 verkaufen musste. Wem gehört das Bild? Wessen Leiden ist größer, wer hat mehr Anspruch darauf?

Das war der Mittwoch. Ich bereitete lustig mein Referat vor, das ich Montag halten sollte, als Sonntag plötzlich die Nachrichten über den Münchner Kunstfund aufschlugen. (Nebenbei, liebe effektheischende Headlines: „Nazikunst“ ist es eben nicht.) Im Laufe des Tages schickten unsere Dozierenden auch lustig Mails mit den Schlagzeilen rum, und die Begrüßung am Montag ging in die gleiche Richtung: „Wenn Sie geglaubt haben, dass Kunstgeschichte ein Orchideenfach im Elfenbeinturm ist, lernen Sie gerade dazu.“ Und 30 Menschen im Proseminar hatten auf einmal einen neuen Berufswunsch.

Wieder gab es Referate, unter anderem meins – wenn ihr selbst mal lustig durch alte Kataloge suchen wollt: hier ist die Suchmaske des Getty Provenance Index, hier die der UB Heidelberg, die 200.000 Katalogseiten eingescannt hat. (Edit:) Man kann bei der UB Heidelberg übrigens auch nach Stichworten suchen: Bei „arisch“ erhält man des Öfteren den Hinweis auf „nicht-arische“ Güter, die versteigert wurden. Dieser Hinweis musste ab 1938 (? Nagelt mich nicht auf das Jahr fest) angegeben werden, war aber gleichzeitig ein verklausulierter Hinweis darauf, dass diese Gegenstände wahrscheinlich günstiger zu haben sind als „arische“.

Ein weiteres Referat zeigte die Datenbanken des Deutschen Historischen Museums in Berlin, bei dem man durch die Sammlung Hermann Görings suchen, alle Karteikarten des Central Collecting Points in München angucken oder sich mit den Stücken des „Sonderauftrag Linz“ befassen kann. Im Central Collecting Point wurden alle Güter der amerikanischen Besatzungszone zusammengetragen; der Sonderauftrag Linz galt einem zu errichtenden Museum in Linz, mit dem Hitler Wien Konkurrenz machen wollte, das ihn ja nicht als Maler hatte haben wollen. (Historisch halbwegs fundierte Küchenpsychologie.)

Ein weiteres Referat befasste sich dann mit der internationalen Provenienzforschung. Das klang in einigen Zeitungsartikeln an, dass Deutschland sich gefälligst mal mehr Mühe geben sollte, wenn’s um Restitution ginge. Ich würde vorsichtig behaupten, dass Deutschland das inzwischen tut, obwohl es der ehemaligen Bundesrepublik ziemlich lange ziemlich egal war und es auch nicht als selbstverständlich oder moralische Verpflichtung ansah; Umfragen Anfang der 50er Jahre sahen Wiedergutmachung nicht als zentrales Anliegen, das änderte sich aber netterweise in den letzten Jahrzehnten. In der DDR widersprach die Restitution der „Politik der Sozialisierung des Volkseigentums“ (1); zusätzlich gingen in den sowjetisch besetzten Gebieten Kunstwerke direkt nach dem Krieg eher in Richtung Moskau als in Richtung Schwerin, Berlin oder Dresden, genau wie komplette Fabriken, wir erinnern uns an die lustigen Reparationen. Auf der Holocaust Era Asset Conference 2009 in Prag wurde erstmals festgehalten, welche Länder sich besonders oder überhaupt nicht hervortun bei der Provenienzrecherche. Die vier Länder, die major progress gemacht haben, sind Österreich, die Tschechische Republik, Deutschland und die Niederlande. Vielleicht überraschend, aber in der letzten Gruppe („countries that do not appear to have made significant progress towards implementing the Washington Conference Principles on Nazi-Confiscated Art“) befinden sich unter anderem Italien und Spanien, denen bekannt ist, dass sie „Raubkunst“ in ihren Museen haben, es aber anscheinend nicht ändern möchten.

In Deutschland gibt es, wie erwähnt, Lost Art als zentrale Anlaufstelle für diese Kulturgüter. Die Datenbank ist zwar nett, hat aber natürlich das Problem, dass sie nur funktioniert, wenn ihr Daten zur Verfügung gestellt werden. Wenn man unter dem Menüpunkt „Datenbank“ weiterklickt zu Bayern – Melder/Fund – Staatliche Gemäldesammlung – Objektgruppen – Malerei (125 Objekte) gelangt man zwar zu einer hübschen Liste, aber die steht auch nur da, weil die Gemäldesammlung jemanden hat, der oder die Zeit und Ahnung hat, diese Liste zu erstellen. Die Gemäldesammlung hat übrigens gleichzeitig 607 Gemälde als vermisst gemeldet. Gegenbeispiel: Das Ministerium für Kultur und Nationalerbe in Warschau hat gerade ein Bild in ganz Polen als vermisst gemeldet, und ich kann mir nicht vorstellen, dass das die Zahl der fehlenden Kunstwerke im Land ist. Das meine ich mit „dafür muss man Zeit, Kenntnisse und Mittel haben“.

Das Musées Nationaux Récupération in Frankreich hat eine recht clever gestaltete Website, bei der man sich durch Kunstwerke klicken und nachschauen kann, ob sie bereits restituiert wurden oder nicht. Hier ist die Startseite, bei der man die teilweise nachlässig gefüllten Raume des Jeu de Paume während der Besetzung von Paris sieht; klickt man einen Raum an, sind dort wiederum die Werke klickbar und sogar perspektivisch entzerrt, so dass man auch so nach ihnen suchen kann. Die Links führen zum errproject, bei dem „20.000 während der deutschen Besetzung in Frankreich und Belgien geraubte Kunstobjekte registriert sind“ (Zitat von hier).

In Österreich liegt die Datenbank beim Nationalfond für Opfer des Nationalsozialismus, in den Niederlanden bei Herkomst Gezocht (Herkunft unbekannt).

Ich beschäftige mich gerade seit vier Wochen mit diesem Themenkomplex und bin durch den Kunstfund von München gleichzeitig fasziniert und abgeschreckt davon, was in dem Bereich passiert bzw. wie die Öffentlichkeit reagiert. Bei den üblichen Verdächtigen im Spon-Forum las ich zum Beispiel, dass man dem Sammler dankbar sein müsste, weil er die Werke vor den Nazis gerettet habe. Okay, Hase: Geh bitte vor die Tür, denk kurz nach und dann komm noch mal rein. Außerdem kamen natürlich des Öfteren die Klassiker „Es muss doch irgendwann mal gut sein“ und „Aber die Russen haben uns auch beklaut“, was beides bei kurzsichtiger Betrachtungsweise berechtigt scheint, was aber die Einzigartigkeit des Holocausts und seiner Begleitumstände verkennt. Wenn man sich durch die diversen Reichsgesetze und Verordnungen liest, wird klar, dass hier eine Volksgruppe systematisch um ihren Besitz gebracht werden sollte. Und wenn wir als Kunsthistoriker und Kunsthistorikerinnen auch nur ein winziges bisschen dazu beitragen können, dieses Unrecht in Ansätzen zu mildern, dann ist es eben nicht irgendwann mal gut, denn es kann nicht irgendwann mal wieder gut sein.

„Der Wert des Lebens ist weder in Ziffern auszudrücken noch in Gold aufzuwiegen. Er ist nicht quantifizierbar und insofern auch nicht verhandelbar. So kommt es, dass mit der Rede über Sachen die Rede über die ermordeten Menschen ersetzt wird. Sie wird diskursiv substituiert. Den restituierten Dingen ist der Schatten der einst über sie verfügenden Menschen eingeschrieben.

Der Genozid zieht eine merkwürdige, eine kategoriale Transformation nach sich: Die Transformation von individuell nicht mehr zu realisierenden privateigentümlichen Ansprüchen in den kollektiven Anspruch einer sich hierfür konstituierenden Körperschaft. Hier handelt es sich um die Körperschaft eines „jüdischen Volkes“, das – als kollektive Rechtsnachfolge erbenlos gemachten individuellen Eigentums – Anspruch erhebt und darin von anderen, vor allem aber von den Beanspruchten, anerkannt wurde. (…)

Das durch den Charakter dieses Genozids individuell nicht mehr restituierbare, erbenlose Eigentum hatte sich aus ethischen Gründen – um das Geraubte nicht einfach den Mördern und Räubern zu überlassen und somit die Aneignung durch Unterlassen womöglich noch zu rechtfertigen – notwendig in ein kollektives jüdisches Gut verwandelt.“ (2)

(1) Goschler, Constantin: Zwei Wellen der Restitution: Die Rückgabe jüdischen Eigentums nach 1945 und 1990, in: Bertz, Inka, Dorrmann, Michael (Hrsg.): Raub und Restitution. Kulturgut aus jüdischem Besitz von 1933 bis heute, Begleitbuch zur Ausstellung des Jüdischen Museums Berlin in Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Museum Frankfurt am Main; 19. September 2008 bis 25. Januar 2009 (Berlin), 22. April bis 2. August 2009 (Frankfurt am Main)], S. 30.

(2) Diner, Dan: Restitution. Über die Suche des Eigentums nach seinem Eigentümer, ebd., S. 18/19.

26.10.2013

Hallo, Brigitte-LeserInnen!

Schön, dass ihr gerade von meinem Artikel „Dicksein ist keine Charaktereigenschaft“ hier rüberklickt. Macht’s euch bequem und nehmt euch nen Keks. Nein, hier gibt es keine Reiswaffeln, sorry.

Unter meinen Artikel tauchen, wie zu erwarten war, die üblichen „JA, ABER …“-Kommentare auf. Ich habe keine Lust, mich da drüben in eine Kommentarschlacht zu werfen und werde daher hier auf ein paar der Bemerkungen eingehen. Enjoy. Achtung, da kommen ein paar Kraftausdrücke, die ich mir in der Brigitte brav verkniffen habe.

Edit am 3.11.: Dieser Eintrag entstand am 26. Oktober, und seitdem habe ich auch nicht mehr in die Kommentare bei der Brigitte geguckt. Der letzte, den ich gelesen habe, ging in die Richtung „Dicke sollten im Bus stehen, damit Dünne nicht unter ihnen leiden und Kalorien verbraucht’s auch, das schadet uns ja nicht“. Damit dürfte der Bodensatz an Arschigkeit erreicht sein, dachte ich mir so, und meinem Seelenheil zuliebe habe ich deswegen da drüben nicht mehr weitergelesen.

Weil ich des Öfteren gefragt wurde: Die Brigitte hat sich am 30.10. per Mail bei mir gemeldet. Ich zitiere:

„Einerseits freut es uns natürlich, dass der Artikel so viel gelesen wird, andererseits stellen wir auch wieder mal fest, das nicht alle unserer Leserinnen und Leser nette Menschen sind und daher unakzeptable Kommentare absetzen. Wir möchten Ihnen versichern, dass unsere Kolleginnen von Brigitte.de dies genau beobachten und unangemessene, beleidigende Kommentare so schnell wie möglich löschen.“

Das freut mich, heißt aber natürlich auch, dass nicht im Vorfeld moderiert wird, was gerade bei derartigen Artikeln dringend nötig ist. Denn sobald man sich hinstellt und es wagt, sein Dicksein und seine Selbstakzeptanz, ja sogar Selbstliebe als positiv hinzustellen, hat man das komplette Kommentarfeld voll mit Dickenhass. Werde ich nie verstehen.

Aber zurück zu meinen Antworten auf die ersten 30 Kommentare:

Das nervt total, neben dicken Menschen in Zügen/Bussen/Flugzeugen zu sitzen!

Ja, tut es. Was aber auch ein winziges bisschen an den äußerst knapp bemessenen Sitzen liegt. Ich habe netterweise die finanziellen Möglichkeiten, im Zug die 1. Klasse zu buchen, weil ich selbst auch ungern Leuten auf die Pelle rücke. Im Bus habe ich diese Möglichkeit nicht, da müssen wir beide leider damit leben, dass sich unsere Oberschenkel zehn Minuten lang berühren.

Nochmal zu den Sitzen: Ich fliege recht oft und sehe auf jedem Flug, dass auch ein durchschnittlich gebauter Mann über 1,80 m Körpergröße nicht wirklich bequem und entspannt in der Economy unterwegs ist. Und außerdem: Mich nervt es viel mehr, neben Menschen zu sitzen, die offensichtlich Kettenraucher sind oder nicht wissen, wie ein Deo oder eine Dusche funktioniert. Dagegen kann ich aber nichts machen. Menschen sind verschieden. Kommt damit klar. Mache ich ja auch.

Dicksein ist ein Lifestyle, der nicht gefeiert werden sollte.

Äh … was? Echt jetzt? In unserer schlankheitsfixierten Welt ist Dicksein garantiert nichts, was wir Body-Acceptance-Menschen feiern. Wir haben es nur nach meist jahrelangem, aussichtslosen Kampf gegen die Kilos akzeptiert, dass wir nicht in euer Schönheits- und Akzeptanz-Raster fallen. Das feiern wir nicht, aber wir freuen uns, dass wir uns selber nicht mehr so hassen wie ihr uns anscheinend. Und das fühlt sich sehr befreiend und wohltuend an. Sich selber nett zu finden, ist eine wirklich tolle Sache. Solltet ihr auch mal ausprobieren, wenn ihr wieder damit hadert, angeblich drei Kilo zu fett zu sein (was ihr garantiert nicht seid).

Dicksein ist wohl eine Charaktereigenschaft: ihr habt keine Selbstdisziplin, um dünner zu werden, so bäh!

Seufz. Ich kenne keine/n Dicke/n, der nicht einmal, mehrmals, dauernd, sein Leben lang versucht hat, den Zustand des Dickseins zu ändern. Wirklich keine/n. Immer wieder. Das nenne ich Selbstdisziplin.

Jeder, der sich mal etwas länger als eine Bild-Schlagzeile mit dem Thema Abnehmen beschäftigt hat, kennt auch die Zahlen: 95 Prozent aller Menschen, die mal abgenommen haben, nehmen alles wieder zu und packen gerne noch ein paar Kilo drauf. Wenn du mir nicht glaubst, frag deine nächste Beratungsstelle für Essstörungen, die werden dir die Zahl gerne bestätigen. Das heißt: Auch mit aller Selbstdisziplin der Welt werde ich wahrscheinlich nicht dünner werden. Außer ich lege mir eine entspannte Essstörung zu, denn darauf läuft’s hinaus: Um dein hart erkämpftes, niedriges Gewicht zu halten, musst du nämlich weiterhin immer (ich sag das noch mal: immer) weniger essen, als dein Körper will. Drastisch ausgedrückt: Ich muss für den Rest meines Lebens hungern, um nicht wieder zuzunehmen. Das klingt für mich, ehrlich gesagt, deutlich ungesünder als dick zu sein.

Apropos gesund: Ihr Dicken kostet die Krankenkassen voll viel Geld!

Ich zitiere dafür aus dem sehr guten Buch Dick, doof und arm: Die große Lüge vom Ãœbergewicht und wer von ihr profitiert von Friedrich Schorb: Leicht übergewichtige bzw. adipöse Menschen bis zu einem BMI von 35 haben keine signifikant höheren Krankheitskosten als normalgewichtige (BMI 20–25). Erst die wirklich schweren Menschen kosten Geld. Allerdings auch nicht so viel, wie man vielleicht glaubt: Die Behandlungskosten* dieser Menschen belaufen sich auf 530 Millionen. Hört sich irrwitzig viel an, aber: Die Gesamtkosten im Gesundheitswesen liegen bei 240 Milliarden. Wenn ich richtig gerechnet habe, betragen die Kosten also gut 0,2 Prozent des Gesamtetats. Nebenbei: Der Prozentanteil der Menschen mit einem BMI über 35 liegt bei ungefähr zwei Prozent der deutschen Bevölkerung. Im Klartext: Es gibt längst nicht so viele fette Menschen, wie ihr glaubt, und wir kosten viel weniger, als ihr denkt. Geht’s euch jetzt besser?

(*Wobei noch nicht mal klar definiert ist, welche Krankheiten überhaupt durch Übergewicht entstehen. Auch schlanke Menschen haben hohen Blutdruck, Diabetes und Rückenschmerzen.)

Dicke essen den ganzen Tag Junk Food und trinken Limo dazu!

Ich persönlich tue das nicht, bin aber trotzdem dick. Aber selbst wenn ich mich nur von Fertigpizza und Dr. Pepper ernährte, sollte dir das egal sein. Mir ist es auch egal, ob du den ganzen Tag Salat isst. Es geht dich, mit Verlaub, einen Scheiß an, was ich esse. Genau wie es mich einen Scheiß angeht, was du isst.

„Vielleicht ist der Druck für Übergewichtige noch nicht groß genug.“

Das meinst du nicht ernst, oder?

07.10.2013

Meine Wiesn 2013

Mein erstes Mal Oktoberfest war noch voll großäugigem Erstaunen, das zweite leider ein übler Absturz (Herr @GNetzer meinte neulich beim #tpmuc, bei dem ich 2012 deutlich angetrunken auflief: „Dass wir seit dem Abend noch mit dir reden, zeigt, wie gern wir dich haben.“), aber mein drittes einfach nur schön. Mein fachkundiger Begleiter war auch in diesem Jahr der charmante Herr @probek, auf dessen Angeber-Tageseinlassbändchen zur Oiden Wiesn ich kurz aufmerksam machen möchte. (Er behauptet, man könne mit ihnen duschen.)


(Mein Mitbringsel für den Kerl, der sich darüber bestimmt irrwitzig freuen wird.)

Freitag, 4. Oktober, Herzkasperlzelt/Festzelt Tradition

Wir mögen beide die Oide Wiesn sehr gern. Dort geht es etwas ruhiger zu, es gibt historische Fahrbetriebe, das Bier kommt in gekühlten Steinkrügen und die Kapellen spielen kein Abba, sondern Volksmusik (auch moderne). Außerdem gab es in diesem Jahr ein Museumszelt, was ich sehr spannend fand: Darin konnte man alte Schaustellerwagen mit Interieur und Gegenständen des täglichen Bedarfs besichtigen, während nebenan 100 Jahre alte Traktoren brummten. Wir begannen den Nachmittag im Herzkasperlzelt, dem kleineren der beiden Oide-Wiesn-Zelte, in dem Hacker-Pschorr ausgeschenkt wird. Als Grundlage für das Bier diente mir Leberkäs mit Kartoffelsalat, was beides eher so meh war; der Steckerlfisch von Herrn Probek war aber anscheinend ziemlich gut und außerdem bezahlbar. Der Preis für die Maß ist von Zelt zu Zelt verschieden, lungert in diesem Jahr aber so zwischen 9,60 und 9,85 rum, weswegen ich zu meinen 10-Euro-Scheinen stets 1-Euro-Münzen dabei hatte, um brav auf 11 aufzurunden.

Ich war erst drei Tage vor Schluss auf der Wiesn, während die Bedienungen bereits 13 Tage in den Knochen hatten, und das sah man ihnen auch an. Es gab kaum welche, die nicht bereits Tapes um die Handgelenke trugen oder Lederriemen, wie ich sie von Sehnenscheidenentzündungen kenne. Manche trugen auch Pflaster zwischen Daumen und Zeigefinger, waren aber alle gut gelaunt, freundlich und irrsinnig schnell mit dem Bier oder dem Essen am Tisch. Da gebe ich doch gerne ordentlich Trinkgeld. Durch die Zelte laufen auch stets Menschen, die große Körbe mit Brezn vor sich hertragen, und auch die hatten mit Zipperlein zu kämpfen: Ihre Schulterriemen waren alle dick umwickelt, damit sie nicht so ins Fleisch schnitten. Die auffälligste Ausrüstung fiel uns am letzten Tag in der Bräurosl auf, wo ein Breznmann seinen Gurt ungefähr zehn Zentimeter dick mit Blisterfolie umwickelt hatte.

Aber wir sind ja erst am ersten Tag: Im Herzkasperlzelt gerieten wir an einen eigentlich reservierten Tisch, an dem aber noch zwei Plätzchen für uns frei waren – dankeschön! Die Besetzung bestand aus einem älteren Ehepaar (er aus Frankreich, sie aus Spanien), die ihren Sohn in München besuchten. Nach 90 Minuten kam die nächste Reservierung, wir mussten gehen und wanderten ins Festzelt Tradition, wo es Augustiner gab – und den charmantesten Tisch der Wiesn. Eine türkische Mutter mit ihrer deutschen Tochter, die Verwandte aus Istanbul mit am Tisch hatten, die kein Wort deutsch sprachen, aber bei „Ein Prosit der Gemütlichkeit“ die ersten waren, die die Bierkrüge stemmten. Die Mutter redete in einer Tour, deutsch und türkisch gemischt, freute sich offensichtlich ihres Lebens, die Tochter genauso, wir saßen mittendrin und stießen alle fünf Sekunden mit irgendwem an. Ich habe selten so viel mit wildfremden Menschen gelacht und es sehr bedauert, dass der Abend irgendwann zu Ende ging – aber wir hatten ja noch was vor: Riesenradfahren.

Seitdem wir das erste Mal zusammen auf der Wiesn waren, erzählen wir uns das ganze Jahr lang: „Aber nächstes Mal fahren wir Riesenrad, im Dirndl und Lederhose!“ Ich muss zugeben, das mit dem Dirndl habe ich verschnarcht, aber immerhin haben wir es aufs Riesenrad geschafft. Zunächst auf das kleine auf der Oiden Wiesn, in dem man nur zu zweit sitzt in einer relativ ungesicherten Gondel, die ein fieses Tempo drauf hat, und dann deutlich entspannter im großen Riesenrad, wo man zu acht einen schönen Blick über die hell erleuchtete Neonstadt auf der Theresienwiese hat, den ich allerdings per iPhone profimäßig verwackelt habe. Deswegen hier das Foto vom kleinen Rad in der Abenddämmerung.

Zum Abschluss besuchten wir das Teufelsrad, eine der ältesten Attraktionen der Wiesn. Simples Spielprinzip (siehe Wikipedia-Link) und fürs Publikum ein Heidenspaß. Für vier Euro Eintritt kann man so lange zugucken, wie man möchte; wir haben es auf 45 Minuten gebracht, und wenn meine plattgestandenen Füße nicht rumgememmt hätten, wären wir noch länger geblieben. Man muss sich allerdings auf Zotenniveau einstellen, was die Ansagen angeht. So werden verschiedene Menschen zum Mitmachen aufgefordert, zum Beispiel „Jetzt alle Männer mit Lederhosen und rotem Hemd“, „Jetzt alle Kinder“ oder eben – „Jetzt alle Frauen ab Körbchengröße C.“ Ich habe natürlich auf die Ansage „Jetzt alle Männer mit Penislänge ab 20 Zentimeter“ gewartet, aber die kam nicht. Trotzdem: Ich hatte nicht erwartet, dass es so lange so unterhaltsam sein kann, gut gelaunten Damen und Herren dabei zuzugucken, wie sie sich zum Affen machen und dabei offensichtlich Spaß haben. Im Zeitraffer sieht das übrigens so aus.

Samstag, 5. Oktober, Festzelt Tradition

Herr Probek meinte Freitag abend: „Gut, dann morgen um 10?“ Ich so: „WTF? Um 10 Uhr Bier trinken?“, aber der Herr wusste als Wiesnprofi natürlich, wovon er redet: Am vorletzten Tag wurde es erwartungsgemäß schon morgens richtig voll, weswegen wir uns baldmöglichst einen Tisch suchen sollten. Wir schafften es, um 11.30 Uhr auf der Oiden Wiesn anzukommen, steuerten sofort auf das größere Zelt zu (dort hatte mir das Essen besser geschmeckt als beim Herzkasperl) und landeteten nach fünf Minuten Rumsuchen an einem Tisch in der Nähe der Kapelle, der generationsmäßig genauso gut gemischt war wie die gestrigen. Dieses Mal hatten wir einen Australier mit seiner Münchener Freundin und einem Kumpel dabei, der seine Eltern mit aufs Oktoberfest genommen hatte. Auch hier: freundliches Zuprosten im gefühlten Minutentakt, ein paar Scherze hin und her, ein Kompliment von mir an das schicke Dirndl der Dame und die übliche Frage: „Und wo kommts ihr her?“ Am Anfang habe ich noch versucht, „Hamburg“ zu sagen, was Herr Probek aber entschieden mit „München“ übertönte. Ich traue mich noch nicht richtig, „aus München“ zu sagen, aber ich glaube, ein angemeldeter Wohnsitz gilt. Auch immer wieder schön: das sofortige Duzen am Tisch, von der Bedienung, von allem. Ich mag das.

Da wir am Freitag jeweils zwei Maß geschafft hatten, war heute der Plan, noch eine dritte dazuzunehmen. Dafür mussten Grundlagen geschaffen werden: Ich begann mit einem äußerst wohlschmeckenden Wurstsalat, in dem sich sogar Silberzwiebeln befanden, die ich, glaube ich, seit 20 Jahren nicht mehr gegessen hatte. Dazu gab’s eine Brezn, mit der ich gefühlt eine Stunde lang beschäftigt war, irgendwann dann noch einen Apfelstrudel, dann die dritte Maß und nach fünf Stunden war der Tag dann auch schon rum. Wir hatten uns überhaupt nicht von der Stelle bewegt – außer zum Klo, das wie in allen Zelten pikobello sauber war –, und auch jetzt reichte es gerade noch zum Kauf von gebrannten Mandeln für mich, und dann war Feierabend. Ein satter, kaum angetrunkener, zufriedener Feierabend.

Sonntag, 6. Oktober, Augustiner Bierhalle/Ochsenbraterei/ Hippodrom/Bräurosl/Festzelt Tradition

Vom Samstag hatte ich gelernt: Wenn es am vorletzten Tag schon so voll ist, dann am letzten bestimmt erst recht. Also standen wir gnadenlos um Punkt 10 Uhr auf dem Oktoberfest mit dem Superplan „Vier Maß in vier verschiedenen Zelten“ vor uns. Die erste Station war die Augustiner Bierhalle, auf der ich vor zwei Jahren meine erste Wiesnmaß genoss und die seitdem einen kleinen sentimentalen Platz in meinem kleinen sentimentalen Herzen hat. Auch hier gab es Wurstsalat – das war gestern eine wirklich gute Grundlage –, der fast genauso gut war wie der aus dem Festzelt Tradition. Auch hier gönnte ich mir eine Brezn, die es aber nur in XXL gab, und an der knabberte ich nicht nur im Laufe von zehn Stunden dauernd rum, sondern trug sogar noch Reste davon nach Hause. Bayern, doo. Und dann stand die erste Maß vor uns, die Herr Probek mit einem leicht verzweifelten „Endlich wieder Bier“ ansetzte. Die haben wir beide auch nicht ganz geschafft. Erbärmlich, ich weiß. Wo wir so gut im Training waren.

Wo wir allerdings mit wogenden Massen gerechnet hatten, war es um 10 noch ziemlich leer. Eine Bedienung meinte, dass der Samstag der vollste Tag gewesen sei, weil heute schon viele Touris ausnüchtern, um dann im Laufe des Tages nach Hause zu fliegen und Montag wieder bei der Arbeit aufzulaufen. Als wir um 11 den Weg ins nächste Zelt antraten, wurde es aber schon deutlich voller. Inzwischen hatte auch Herr Probek Hunger und so landeten wir in der Ochsenbraterei, die sein erstes Zelt vor ungefähr 1000 Jahren gewesen war. Auch hier: ein sehr gemischter Tisch, mehr älteres als jüngeres Publikum, wie ich es recht gerne mag (ich bin ja auch schon alt), eine sehr entspannte Stimmung und eine gut gelaunte, aber schon merklich routinierte Kapelle, die wahrscheinlich bereits die Stunden zum Feierabend runterzählte. Am Tisch neben uns unterhielten sich zwei Gehörlose, das Pärchen bei uns am Tisch bat mich um ein Foto von den beiden, ich bewunderte die vielen Holzfiguren an den Wänden des Zeltes, aus deren Händen die schönen Bänder kamen, die sich unter der Decke spannten und sah Herrn Probek dabei zu, einen standesgemäßen Ochsenbraten zu verspeisen. (Meine Probebissen schmeckten hervorragend.) Die zweite Maß lief deutlich besser als die erste, und als wir gegen 13 Uhr zum nächsten Zelt aufbrachen, fühlte ich mich nicht mal angetrunken.

Wir guckten in einige der großen Zelte rein, in denen das Publikum recht unterschiedlich ist. Am späten Nachmittag wühlten wir uns durch die jugendlichen Massen im Schottenhamel (das war überhaupt nicht meins), Nathalie textete uns aus dem Löwenzelt an, in das man als Bayernfan ja aus Prinzip nicht rein will, aber es wäre auch eh nichts für uns freigewesen, und so gingen wir ins Hippodrom, vor dem mich Herr Probek warnte: „Das darfst du nicht gut finden, das ist Schickimickischeiß!“

Hier schafften wir es endlich mal auf eine Empore, von denen ich immer dachte, da oben wäre eh alles ausreserviert, aber nein, es gab diverse Tische, an die man sich so setzten konnte. Auch hier war noch genügend Platz und so konnte ich mal von oben aufs Gewimmel gucken – von einer gepolsterten Bank, an einem Tisch mit Decke drauf in einem liebevoll dekorierten Zelt, und dazu gab’s Bier aus Krügen, die jedes Jahr neu gestaltet werden. Und ganz ausgezeichnete Apfelküchlein! Und das beste Klo der ganzen Wiesn!

Ich fand das Hippodrom gut. Sorry, Hase. You woke the beast.

Allmählich wurde es so voll wie wir es erwartet hatten, aber wir durften ja nicht sitzenbleiben, es musste noch ein viertes Zelt gefunden werden, in dem die vierte Maß getrunken werden konnte. Wir enterten den oben erwähnten Schottenhamel, aus dem ich fluchtartig wieder rausging (bzw. mich rausschieben ließ), schauten in die Fischer-Vroni, die mir nicht so gut gefiel, wo es aber noch Plätze gegeben hätte … dann weiß ich, ehrlich gesagt, nicht mehr, was wir noch ansteuerten, aber schließlich landeten wir in der Bräurosl. Nicht unbedingt das hübscheste Zelt, aber das war jetzt egal. Dieses Mal erwischten wir einen recht jungen Tisch, der sich aber auch als sehr charmant erwies, während sich neben uns immer mehr Menschen durch die Gänge schoben. Wir hatten anscheinend zwei der wenigen noch freien Plätze erwischt. Zeit für die vierte Maß! Ein Prosit der Gemütlichkeit! Give it up for the Kufsteinlied!

Nachdem die Tischgesellschaft entschieden hatte, dass das Wappen von Herrn Probeks Heimat schöner sei als das der meinigen (PROPAGANDA!) und uns allmählich die Menschen auf den Zeiger gingen, die sich an uns vorbeidrängten, entschieden wir, das Zelt zu verlassen. Eigentlich wäre jetzt Feierabend gewesen, denn der Plan mit den vier Maß war erfolgreich abgeschlossen. Das Dumme war nur: Irgendwie fühlte sich das noch nicht nach Feierabend an. Also schlenderten wir ein wenig herum, guckten beim Käfer-Zelt vorbei, in dem gerade der FC Bayern feierte, und gingen schließlich ein drittes Mal ins Festzelt Tradition, wo deutlich mehr Platz war. Wir bestellten die jeweils fünfte Maß, ich aß endlich ein traditionelles Wiesn-Hendl, wir guckten um uns rum, wo es sich relativ schnell leerte und wurden ein bisschen sentimental – und jetzt nach fast zehn Stunden auch endlich ein bisschen betrunken. Herr Probek zückte den Promillerechner und schnappte nach Luft (ich ignorierte die Zahl und guckte zuhause nach, wo ich feststellen durfte, dass ein hohes Körpergewicht auch Vorteile haben kann), und so langsam fühlte es sich auch nach „Ist gut jetzt“ an. Ein letzter Gang durch die Oide Wiesn, ein Blick auf die Achterbahn, neben dem Gelände warteten schon die ersten Teams auf den Abbau, der in wenigen Stunden losgehen sollte, und das war’s dann mit der Wiesn 2013.

2014 – kannst kemma.

26.09.2013

Ein Jahr nach der Immatrikulation

Heute vor einem Jahr habe ich mich in München an der LMU immatrikuliert. (Wer erinnert sich nicht gerne an diese Odyssee? ICH!) Vieles von dem, was ich mir durch das Studium erhofft hatte, ist eingetreten, einiges ist nicht so, wie ich es erwartet habe, manches ist toll, manches weniger. Aber alles ist anders.

Was ich wollte: den Kopf in eine andere Richtung anstrengen. Mal über was anderes nachdenken als darüber, wie man Produkte an Menschen vertickt. Drei Jahre wissenschaftlich statt verkäuferisch arbeiten und dann wieder zurück in die Agentur, schönes Geld verdienen. Einen kurzen Abstecher in eine andere Stadt – ich erinnere mich an das Selbstgespräch „Wenn ich mein Leben schon ändere, dann gleich richtig“ – und dann wieder zurück nach Hamburg, wo mein Zuhause ist.

Was daraus geworden ist: nun ja.

Das mit dem Kopf-Anstrengen hat perfekt geklappt. Ich denke seit einem Jahr über kaum so viel nach wie über Bilder und Skulpturen, Künstler und (viel zu wenige) Künstlerinnen, Kunsthistoriker und (viel zu wenige) Kunsthistorikerinnen, kunsthistorische Texte, Analysen, Bildbeschreibungen, ich hänge in Museen rum, habe mich in die Bibliothek am Institut für Kunstwissenschaften verliebt und lese auch in meiner Freizeit wissenschaftliche Texte. Wenn ich online über Texte zu Bildern stolpere, vergesse ich, dass ich bloß ne Runde Candy Crush spielen wollte und verliere mich stattdessen in kunsthistorischen Diskussionen, die vor 100 Jahren geführt wurden. Ich sehe Bilder anders, ich bekomme ganz langsam einen Eindruck von der Geschichte der europäischen Kunst in den letzten Jahrhunderten, ich fange an, die moderne Kunst nicht nur zu würdigen, sondern auch zu mögen, ich habe jeden Tag eine neue Lieblingsepoche und einen neuen Lieblingskünstler (noch keine Künstlerin, aber das wird kommen) und ich gucke jeden Altbau, jede Kirche und jede Brücke, an der ich vorbeikomme, nach architektonischen Gesetzmäßigkeiten an. Kurz gesagt: ja. Alles super, was diesen Bereich angeht, danke der Nachfrage.

Das Dumme ist, dass das alles zu super ist. Ich will mit diesem Kopf-Anstrengen nicht in zwei Jahren aufhören, wenn meine Bachelorarbeit getippt ist. Der unbeeindruckte Weg zurück an den Agenturschreibtisch scheint vorerst für mich verbaut zu sein. Danke, Kunst, du olle Hippe. Danke, LMU, mit deinen schönen Räumen und tollen Lehrkräften. Das habt ihr fein hingekriegt.

Momentan ist der Aufenthalt im Home Office, in dem ich nach einem Semester bewusster Auszeit von der Werbung wieder Verkoofe mache, eine reine Pflichtübung. Klar gab es auch zu den Zeiten, in denen ich meinen Lebenssinn in Reklame gesehen habe, Jobs, die ich einfach weggearbeitet habe. Zurzeit ist es aber jeder Job, den ich annehme. Ich mache das gut, sonst würde mich niemand mehr buchen, und ich besitze genug Selbstdisziplin und Professionalität, um das nicht allzusehr raushängen zu lassen, dieses Gefühl, komplett unwichtigen Kram zu machen, während es doch eine Trilliarde Kunstwerke gibt, über die ich mich stattdessen informieren könnte. Aber ich ahne, dass dieses Gefühl der Pflichtübung nicht mehr weggehen wird, jetzt wo ich gesehen habe, wie grün das Gras da drüben in der Wissenschaft ist.

Deswegen denke ich seit Monaten darüber nach, wie ich meine Erfahrung im Marketing mit meinem neuen Wissen verbinden kann. Ein paar Ideen von ungewöhnlichen Audioguides bis zu Ausstellungskonzepten, von Social-Media-Kampagnen und Interaktionen mit dem geneigten Publikum sind durchaus da. Das Problem: Ich habe keine Ahnung, wovon ich rede, weil ich keine Ahnung davon habe, wie ein Museum funktioniert. Daher würde ich gerne mein werbisches Home Office gegen einen Job in der Marketingabteilung eines Museums tauschen. Und da kommen zwei weitere Probleme. Das eine: Erstmal muss ich eine freie Stelle ausbuddeln, die weiterhin zwei Mieten finanziert (ich ahne, dass das schwer werden wird). Das andere habe ich mir selber mit meinen zwei Städten gebastelt: Kein Museum in München stellt mich ein, wenn mein erster Satz ist „Aber in den Semesterferien bin ich in Hamburg.“ Dieser Fakt ist momentan nicht verhandelbar. Denn:

Meine zwei Aufenthaltsorte haben auch eine andere Baustelle in mein Leben geschleppt. Ich hätte nicht gedacht, wie gut es mir in München gefallen würde. Dass ich die Stadt mag, wusste ich vorher – ich war ja oft genug zum Fußballgucken da. Aber das waren immer nur zwei, drei Tage. Inzwischen weiß ich: Dieses tolle Urlaubsgefühl, das ich in zwei, drei Tagen habe, geht auch dann nicht weg, wenn es zwei, drei Wochen oder zwei, drei Monate und ne Menge Arbeit für die Uni sind. Die Stadt ist für mich mehr zuhause als es Hamburg jemals war. Was eigentlich toll ist – aber nicht, wenn man der Kerl ist und sich das dauernd anhören muss. Das jedenfalls hat mir der Herr des Hauses vor einigen Tagen gestanden. Meine erste Reaktion war natürlich aufplustern und „Wieso freust du dich nicht, wenn ich glücklich bin?“, bis ich einsehen musste: ja klar. Mir würde es genauso gehen, wenn er mir dauernd von, keine Ahnung, Leipzig vorschwärmen würde und wie gut’s ihm da geht und wieviele tolle neue Bekannte er hat und einen Lacrossestammtisch, der sich einmal im Monat zum Cidre-Trinken trifft, und eine Fachbibliothek mit tausenden von Büchern über Webdesign und Zeug, von dem ich keine Ahnung habe.

Ich hatte unterschätzt, wie es die Dynamik einer Beziehung verändert, wenn ein Teil sich nicht nur ein bisschen, sondern radikal weiterentwickelt und zwar in eine Richtung, in die der andere Teil nicht mal so eben mitkommen kann (oder will). Und ich hatte unterschätzt, wie komisch das ist, plötzlich alleine in einer Wohnung zu sein, in der sonst wir beide sind. Der Kerl ist neuerdings immer zwei Tage die Woche in Berlin, und an diesen beiden Tagen kommen mir unsere vier Zimmer viel zu groß vor und ich vermisse ihn mehr als ich ihn in München vermisse. Da renne ich nämlich meistens wild durch die Gegend, damit mir die Decke nicht auf den Kopf fällt, während es mir in Hamburg völlig reicht, mit einem Buch neben ihm auf dem Sofa zu sitzen, während er alle Sportsendungen dieser Welt guckt. Außerdem ist die Wohnung in München nur meine, nicht unsere. Er hat mich zwar schon besucht, aber das eine Zimmerchen ist nur meins. Da ist gar kein Platz für ihn, während mein Platz in Hamburg immer größer und leerer wird, wenn er alleine ist. Zusätzlich hat er nur den Alltag, während ich gefühlt Urlaub mache.

Das ist alles ein ziemlicher Klumpatsch in meinem eigentlich sehr zufriedenen Kopf, diese Mischung aus Heimweh nach einer Stadt, die gar nicht mein Heim sein sollte, der Ahnung, dass der Job der letzten 15 Jahre nicht mehr der der nächsten 15 sein wird, und dem Wunsch, aus dem Neugelernten mehr zu machen als das, als was es eigentlich geplant war, nämlich Zeitvertreib. Wie schön, dass ich noch zwei Jahre Zeit habe, diesen Brei gären zu lassen. Es bleibt spannend. Und das ist das einzige, was komplett so eingetroffen ist, wie ich es erhofft hatte.

29.08.2013

Kunst gucken: Sprengelmuseum Hannover

Als übermotivierte Studentin und brave Tochter dachte ich mir, fährste doch mal wieder nach Hannover, guckst dir ein Museum an und besuchst danach Mütterchen und Väterchen. Angerufen, Pläne verkündet – und dann etwas zusammengezuckt, als Mütterchen meinte: „Ach, da komme ich doch einfach ins Museum mit! Dann kannst du mir was erklären.“

Ich überlegte noch, ob ich schüchtern einwenden sollte, dass ich nach zwei Semestern gefühlt gar nichts weiß – vor allem nichts über das 20. Jahrhundert –, merkte dann aber selbst: Nee, stimmt nicht. Ich weiß schon ne Menge. Im Vergleich zum großen Ganzen natürlich gar nichts, aber wie ich schon beim letzten Kunsthallenbesuch schrieb: Ich gucke anders. Mal sehen, ob mein Mütterchen davon profitieren könnte.

Das Sprengelmuseum kenne ich noch aus der Zeit, in der ich in Hannover gewohnte habe, aber mein letzter Besuch müsste ungefähr 20 Jahre her sein. Ich erinnerte mich aber gut an die Räume von James Turrell und deswegen ging’s dahin auch zuerst.

Mein Lieblingsraum ist einer, an dem man sich mit einer Hand an einem Handlauf festhalten sollte, mit der anderen kann man an der Wand langstreichen, und dann geht es wenige Meter im Zickzackkurs in einen völlig verdunkelten Raum. Schon im Gang wird das Licht sehr schnell von diffus zu stockfinster, bis man sich im Raum links und rechts vom Gang zu zwei Stühlen getastet hat und Platz nimmt. Und dann sitzt man da und starrt ins Nichts. Oder versucht zu starren, denn man sieht eben – nichts. So eine komplette Finsternis kenne ich sonst nicht; von irgendwoher kommt immer ein Lichtschein, sei er auch noch so schwach, aber hier ist es schlicht schwarz. Man kann die Größes des Raums nicht einschätzen, auch wenn er nicht groß sein dürfte, die Stimmen hallen nicht, wobei die Wände, wie ich hinter mir ertaste, mit Stoff bespannt sind, der Geräusche dämpfen dürfte. Der Witz an diesem Raum ist, dass die Augen sich nach einigen Minuten an die Finsternis gewöhnt haben und dann ein Licht vor dir sichtbar wird. Ich erinnerte mich an ein graues Rechteck, das ich beim letzten Besuch irgendwann ganz schwach und diffus vor mir sah. Dieses Mal sehe ich aber ein Liniengewirr, und ich weiß nicht, ob ich mich schlicht an Quatsch erinnere, sich die Installation geändert hat oder mein Gehirn meinen Augen etwas vorgaukelt. Das graue Rechteck erscheint jedenfalls nicht. Meine Mutter sieht auch Linien, aber erst, nachdem ich davon gesprochen hatte. Ich überlege kurz, mein iPhone zu zücken und die Taschenlampe anzuwerfen, will mir den Raum aber auch nicht ruinieren. Denn ich mag das Gefühl sehr gerne, mal kurz das eigene Sensorium ausgeknipst zu bekommen.

Wir tasten uns wieder aus dem Raum heraus und gehen in den nächsten, wo eine helle Installation vor einer Wand zu schweben scheint. Wenn man länger hinschaut, weiß das Gehirn nicht mehr, was Licht und was Wand ist bzw. es kann sich nicht mehr entscheiden, ob da jetzt wirklich eine Wand ist oder nur Licht. Auch sehr lustig, wobei ich diesen Raum deutlich bunter in Erinnerung hatte. Ich gehe in 20 Jahren noch mal gucken, mal sehen, was dann passiert.

Das Haus hat keinen roten Faden, an dem man sich durch die Jahrzehnte hangelt, man kann irgendwo anfangen. Wir starten mit der Kunst nach 1945. Gleich im ersten Raum hängen einige Dubuffets, die ich inzwischen erkenne, wie ich mich innerlich piepsend freue. Mein Liebling ist die La voiture princière von 1961, an der ich den Bruch zwischen Bildtitel und Bildinhalt mag. Der „fürstliche Wagen“ ist ein Renault, die Figur, die darin sitzt, scheint mir ein gut gelaunter Mensch zu sein, der unadlig zur Arbeit fährt und zum Radio mitsingt anstatt Staatsgeschäften nachzugehen. In meiner Badewanne bin ich Kapitän. Und wenn dieses Bild etwas ganz anderes aussagen soll, ist mir das gerade egal, denn zum ersten Mal überlege ich nicht, ob meine Deutung wohl richtig ist, sondern ich nehme sie so hin. Wenn ich irgendwas in den letzten zwei Semestern Kunst und Musik gelernt habe, dann: Wenn du deine Meinung belegen kannst, dann stimmt die. Und so stehe ich nicht zögerlich und fragend vor einem Bild wie früher, sondern erzähle mir selbst (und Mama), was ich sehe. Und dann passt das. Toll.

Mein zweiter Liebling in diesem Raum ist Jean-Paul Riopelles Bei Nacht (Nuitamment) von 1956. Von dem Mann hatte ich noch nie gehört, will jetzt aber dringend mehr von ihm sehen. Wie bei Bildern von van Gogh kommt einem hier die Farbe entgegen, in so dichten Lagen ist sie auf die Leinwand verteilt, man kann das Werkzeug erkennen, das zum Verteilen benutzt wurde, zum Schichten und Kanten. Aber wo bei van Gogh jeder Pinselstrich Schmerz verrät, spürt man hier Dynamik und Kraft, Vorankommen, Bewegung. Mich hinterlässt das Bild trotz seiner Spannung absolut ruhig, so als ob die laute Großstadt mit ihren Neonlichtern, Spiegelungen und Farbkonstrasten kurz angehalten wurde, um sich mir in ihrer schillernden Schönheit zu präsentieren. Sobald ich mich wegdrehe, wird sich das Bild bestimmt ändern.

Der nächste Raum gehört Horst Antes. Hier hängen mehrere Figuren von ihm, die mir in ihrer schlichten Farbigkeit und Körperlichkeit sehr gefallen. Die Google-Bildersuche spuckt, wenn ich richtig geguckt habe, kein einziges der Bilder aus, die hier hängen – sie haben weniger Konturen, sind flächiger, weniger konkret als das, was man sofort mit Antes’ Namen verbindet. Die FAZ schreibt sehr schön über den Herrn, und seit dem Artikel weiß ich auch, was ich mir nächste Woche beim Spontanbesuch in Berlin angucke.

Ich entdecke die seltsamen Kompositionen von Alfred Manessier und Julius Bissier für mich, vertiefe mich in Rubernos von Emil Schumacher und kann dann mal wieder vor Mama ein bisschen Wissen heucheln, indem ich ihr das Blau von Yves Klein zeige. An seinem Werk Victoire de Samothrace von 1962 kann ich auch gleichzeitig mein bisheriges Wissen über Denkmäler abrufen und ihr erklären, was die Siegesdame alles nicht ist.

Im gleichen Raum wie Klein stehen auch einige Werke von Niki de Saint Phalle, die man als Hannoveranerin natürlich durch die Nanas kennt. So gerne ich diese Skulpturen mag – sonst kann ich mit ihrem Werk eher weniger anfangen. Auch wenn ich ihr Selbstporträt mit den Haaren aus Kaffeebohnen durchaus charmant fand. Neben de Saint Phalle ist hier aber auch einiges von Dieter Roth zu bewundern, den ich persönlich lieber mag. An seiner Ersten Kubistischen Geige von 1984/1988 kann ich Mama ein bisschen was über den Kubismus erzählen, kriege den Bogen (Bogen, haha) zum Roth’schen Werk aber nur durch die Farbigkeit hin. Im Geigenkasten liegt ein Foto eines kubistischen Bilds (ich habe mir nicht gemerkt, welches), das genau in den Farben gestaltet ist, mit denen Roth seine Geige verziert.

Nach ein bisschen Pop-Art von Warhol (Flash), Lichtenstein (Two Paintings/Alien) und Lindner (New York City III) kommen dann die ersten Installationen, unter anderem von Nauman und Franz Erhard Walther, dessen Mit sieben Stellen und Mantel mich sehr beeindruckt hat. Es besteht aus einem beigefarbenen Stoffhintergrund, auf dem sich weitere Stoffbahnen befinden. Ein Mantel aus dem gleichen Stoff deutet eine durchschnittliche menschliche Größe an. Orangefarbene, grüne, braune und rote Stoffteile umschließen Raumteile oder zeigen Verläufe von Raum auf, zwischen ihnen kann man imaginäre Linien ziehen und sich das Werk so erschließen. 18 Zeichnungen verdeutlichen die Gedankengänge, die hinter dem massiven Werk stecken, aber sie sind keine Gebrauchsanweisung. Es ist ein Spiel mit Größe und Körperlichkeit, mit Maßstäben und Erwartungen. (Oder was ganz anderes, aber das war’s für mich.) Wie ich schon bei Beuys im Lenbachhaus in München überrascht gemerkt habe: Die moderne Kunst hat sich an mich rangewanzt, und ich kann soviele Raffael-Bücher kaufen wie ich will, ich kann mich nicht mehr wehren.

Aber ein bisschen in die Vergangenheit darf ich schon noch schweifen, denn im Sprengelmuseum hängen auch die Neue Sachlichkeit, ein bisschen Kubismus und Futurismus und direkt dahinter (oder davor, je nachdem von wo man kommt) meine Lieblinge von der Brücke.

In der Neuen Sachlichkeit sind mir erstmals Grethe Jürgens und Ernst Thoms aufgefallen. Zwei Räume weiter konnte ich dann wirklich mal was erklären anstatt nur rumzumeinen, denn dort hängen ein paar Picassos gegenüber von Boccionis A strada entra nella casa von 1911. Das ist dort wirklich bilderbuchmäßig und man kann prima die Unterschiede dieser beiden Stilrichtungen erörtern und warum Bilder, die zur gleichen Zeit entstanden sind, so unterschiedlich aussehen.

Noch ein Raum für Picasso, durch den ich zugegebenermaßen etwas durchgesprintet bin, denn ich konnte langsam nichts mehr sehen. Den armen Emil Nolde habe ich auch nur gestreift, aber dafür konnte ich dann etwas länger bei meinem Liebling Kirchner rumstehen, der sich seinen Raum natürlich mit den Brücke-Kumpels Müller und Schmidt-Rottluff teilt, genau wie in der Hamburger Kunsthalle. Lustigerweise gefielen mir hier die Schmidt-Rottluffs besser als in Hamburg, während Herr Kirchner mich etwas underwhelmte. Aber im nächsten Raum konnte ich mich zum Ausgleich über diverse von Jawlenskys freuen. Mama freute sich über Macke und Marc (mal wieder Pferde. Ich kann diese Pferde nicht mehr sehen), während ich endlich die Klappe halten konnte.

Ich habe mich darüber gefreut, dass ich doch schon mehr wusste als ich dachte, aber ich habe auch gemerkt, dass ich lieber alleine in Museen rumlaufe. Kein schlechtes Gewissen, weil man statt drei Minuten fünfzehn vor einem Werk stehenbleiben will (die Zeit hätte ich mir gerne bei Riopelle und Walther gegönnt), und auch keins, weil man an manchen Bildern einfach vorbeirennt. Wenn ich alleine gewesen wäre, wäre ich kurz zum Kaffeetrinken rausgegangen, hätte meine Füße in den Maschsee gehalten und dann doch eine zweite Runde gedreht bzw. mir den Rest angeguckt, den wir dieses Mal nicht geschafft haben. So ist mir erst beim Rausgehen aufgefallen, dass ich den Merzbau gar nicht gesehen habe, in den ich als Kind sogar noch reinklettern durfte. Ich habe dieses Mal auch gemerkt, dass ich die Sache ernster nehme als sonst. Wo ich sonst einfach nur gucke, um meine innere Bildersammlung laaaangsam zu ergänzen, habe ich dieses Mal an vielen Bildern versucht, als angehende Kunsthistorikerin draufzugucken – also so, als ob ich ein Referat halten oder eine Hausarbeit schreiben muss. Ich erzähle mir in allen Einzelheiten, was ich sehe, welche Farben, in welcher Anordnung, in welchem Auftrag, wo sehe ich Konturen, wo erschließen sich mir Zusammenhänge, welche inneren Dynamiken spüre ich bzw. wo kann ich sie am Bild nachvollziehen, so dass aus ihnen mehr wird als nur ein diffuses Gefühl. Ich versuche, ein Bild zu erkennen und es nicht einfach so hinzunehmen. Und das kostet halt Zeit, und es ist ein bisschen anstrengend. Aber – natürlich – auch ganz großartig.

PS: Dieser Eintrag ist so bilderarm, weil man ü-ber-haupt nicht fotografieren durfte. Direkt hinter der Kasse hängt schon ein Riesenschild, das von Copyright redet und dass man in die Hölle kommt, wenn. Also habe ich, wie immer, nur die Schilder fotografiert, auf denen die KünstlerInnennamen und die Werkdaten stehen, weil ich zu faul bin, mir das aufzuschreiben. Aber: Selbst das darf man nicht. Als ich darüber quengelig twitterte, kam von @ishtar noch die Krönung: „Geht noch besser. Im Haus von Georgia O’Keeffe ist auch Zeichnen und handschriftliche Notizen machen untersagt.“ Pffft.

22.08.2014

„Rodtschenko – Eine neue Zeit“ im Bucerius Kunst Forum, Hamburg

Für meine Hausarbeit im zweiten Semester über Alexander Archipenkos Schreitende Frau habe ich wieder wild in der Gegend herumgelesen wie im ersten Semester bei Hans Memling auch schon. Ich habe mir bewusst einen Künstler bzw. ein Werk ausgesucht, von dem ich noch nie gehört hatte, eben weil ich dann wild in der Gegend rumlesen muss, um es einordnen zu können. Die erste Einordnung fand natürlich schon im Kurs statt, wo zum Beispiel Wladimir Tatlin und seine Konterreliefs bzw. das Denkmal für die III. Internationale erwähnt wurden (beide hier zu sehen) oder natürlich das Schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch. Seitdem weiß ich, wo in russischen Wohnstuben die Ikone hängt, nämlich da, wo in der Ausstellung 0.10 1915 das Schwarze Quadrat hing.

Wen ich noch kennenlernte: Alexander Rodtschenko und seine Raumkonstruktionen von 1920/21, die ich im Kopf immer mit der Schreitenden Frau verbinde. Umso mehr hat es mich gefreut, dass in Hamburg gerade eine Ausstellung über Rodtschenko läuft, und dort stehen und hängen auch – rekonstruiert – seine Raumkonstruktionen.

Ausstellungsansicht v.l.n.r: Raumkonstruktionen Nr. 12 (Oval im Oval), Nr. 22, Nr. 23, Nr. 13 (Dreieck im Dreieck), Nr. 8 (Kreis im Kreis), Nr. 11 (Quadrat im Quadrat), alle Werke von 1920/21. Foto: Ulrich Perrey.

Ganz kurz gesagt, ist das Besondere an der Schreitenden Frau der durchbrochene Oberkörper und Kopf. Archipenko ist der erste Bildhauer, der Masse weglässt und den dadurch entstandenen Raum als Teil der Skulptur begreift:

„Es existierte der traditionelle Glaube, daß die Skulptur da anfing, wo das Material den Raum berührt. Somit verstand man unter Raum eine Art Einrahmung der Masse. Ich experimentierte im Jahre 1912, indem ich von der umgekehrten Idee ausging. Ich erklärte, daß Skulptur da beginnen könne, wo der Raum vom Material umschlossen ist. In solchen Fällen ist es das Material, das zum Rahmen rund um eine Raumform wird.“ (1)

Mit Archipenko entstand so die Idee, dass Raum, Luft, Lichteinfall und als Konsequenz auch Bewegung Teil einer Skulptur sein können. In dieser gedanklichen Tradition schuf Rodtschenko seine Raumkonstruktionen. Bei ihnen gilt es nicht nur, das hölzerne Gebilde zu sehen, sondern auch die Bewegung und den sich dadurch ständig verändernden Schattenwurf einzubeziehen. Das schafft die Ausstellung sehr schön, indem die Werke sehr zentral aufgehängt sind; um sie herum stehen weiße Stoffleinwände, und diverse Spots erzeugen vielfältige Schatten, sowohl auf dem Boden als auch auf den Leinwänden. Man kann die Plattform, über der die Werke hängen, umrunden und sie so von allen Seiten und mit unterschiedlichen Schattenwürfen betrachten.

Rodtschenko ging es aber in seinem Werk aus dieser Zeit nicht nur um die Raumwirkung von Konstruktionen, sondern er experimentierte auch in Bildern mit Farben und Linien. Während zum Beispiel Picasso oder Braque in Paris versuchten, dreidimensionale Körper in Farbflächen zu zerlegen und damit die Realität zu abstrahieren, ging Rodtschenko noch einen Schritt weiter: Für ihn war ein Bild ein selbständiges Ding, es musste nichts abbilden, nichts darstellen, es war und galt ganz für sich. In seinen Werken experimentierte er mit Farbkontrasten bzw. verschiedenen Farbaufträgen und ihrer Wirkung. Diese Bilder haben mir ganz besonders gefallen, eben weil sie so für sich stehen. Man muss sie nicht ergründen oder in ihnen nach etwas suchen, man kann sich ihnen einfach hingeben. (Total unwissenschaftlich.)

„Komposition Nr. 66 (86), Dichte und Gewicht“ (1919), Öl auf Leinwand, 122,3 x 73,5 cm, Staatliche Tretjakow-Galerie Moskau. © VG Bild-Kunst, Bonn 2013.

(Hehe: Dieses Bild stand in der Pressedatenbank, für die ich mir brav eine Akkreditierung geholt habe, auf dem Kopf. Vielleicht ein Test?)

In weiteren Gemälden reduziert Rodtschenko noch weiter und nutzt nun die Linie als Darstellungsmöglichkeit. Sie stand bisher nicht im Zentrum der Malerei, sie umfasste nur Farbflächen oder schuf den Gegenstand, den sie umriss. Für Kandinsky war sie „Vermittler des Geistigen, das die materielle Welt überwinden sollte. Für Rodtschenko dagegen war die Linie ein präzises Werkzeug, ein bildnerisches Mittel zur Darstellung von Licht, Raum und Bewegung. Damit legte er den Grundstein für die kinetische Kunst des 20. Jahrhundert.“ (2)

„Konstruktion Nr. 92 auf Grün“ aus der Serie „Lineismus“ (1919), Öl auf Leinwand, 73 x 46 cm, Regionales A. und W. Wasnezow Kunstmuseum, Kirow. © VG Bild-Kunst, Bonn 2013.

Einschub: Die kinetische Skulptur hat zum Beispiel Naum Gabo umgesetzt. Seine Standing Wave von 1919/20 (hier in riesengroß) besteht aus Metallstäben, die durch einen Motor in Schwingung versetzt werden. Erst die konstante Bewegung lässt vor unserem trägen Auge einen Körper entstehen.

Was die Linien in der Ausstellung angeht: Ich fand es sehr charmant, dass die Grundlinien, auf denen die Überschriften der Wandtexte stehen, stets ganz leicht nach links gekippt waren. Damit stand ein schräger Text über der geraden Copy, rot über schwarz – das passte sehr schön ins konstruktivistische Gesamtbild.

Rodtschenkos Schaffen umfasste aber nicht nur Skulptur (bzw. Konstruktion) und Malerei, sondern er widmete sich auch der Gestaltung von Alltagsgegenständen, der Fotografie und der Werbegrafik. Das Design, was im Bucerius Kunst Forum an den Wänden hängt, lässt diverse Grafikpraktis sabbern (und mich auch), weil es auch nach fast 100 Jahren schick aussieht. Außerdem habe ich mich sehr über folgenden Satz an einem Exponat gefreut: „Der Text stammt von Majakowski, der zusammen mit Rodtschenko das erfolgreiche Werbekollektiv Reklam-Konstruktor betrieb.“ Reklam-Konstruktor! Alleine dafür möchte ich eine Agentur gründen.

Zurück zur Kunst: Mein liebstes Exponat war natürlich die Dame, die „BÜCHER!EINSELF11!!“ schreit.

„Bücher“. Werbeplakat mit dem Portrait von Lilja Brik für den Staatsverlag Lengis (1925), Druck, 56,5 x 80 cm, Sammlung Rodtschenko/Stepanowa, Moskau. © VG Bild-Kunst, Bonn 2013.

Die Ausstellung Rodtschenko – Eine neue Zeit läuft noch bis zum 15. September und lohnt sich sehr, weil sie es schafft, ein so breites Werk wie das Rodtschenkos zu komprimieren, ohne dass man das Gefühl hat, es entgeht einem etwas. Nebenbei waren alle Menschen im Bucerius Kunst Forum äußerst nett und zuvorkommend, der Ausstellungskatalog ist schick, UND man kommt als Kunstgeschichtsstudi umsonst rein. Like!

(1) Schnell, Werner: Der Torso als Problem der modernen Kunst, Berlin 1980, S. 117, im englischen Original Archipenko, Alexander: Fifty Creative Years, New York 1960, S. 56.
(2) Kat. Ausst. Rodtschenko – Eine neue Zeit, Bucerius Kunst Forum Hamburg, 8. Juni bis 15. September 2013, Hamburg 2013, S. 121.

15.08.2013

Kunst gucken: Hamburger Kunsthalle (Klassische Moderne)

Der erste Besuch in der Kunsthalle führte mich ins 19. Jahrhundert, der nächste ins Mittelalter bzw. die frühe Neuzeit, und Dienstag war endlich mal die klassische Moderne dran. Der Link zum 19. Jahrhundert vom März 2012 ist mir schon fast peinlich in seiner Unkenntnis, aber ich mag den Satz „Bei solchen Bildern frage ich mich immer, warum sie im Museum hängen und wünsche mir ein Kunstgeschichtsstudium, um sie zu würdigen.“ Ha!

Die letzten beiden Male habe ich gar nicht um Ermäßigung beim Eintritt gebettelt, denn die Website behauptet, ich kriege eh keine, aber dieses Mal dachte ich, da stelle mer uns janz dumm und fragen. Ich geriet an eine Dame an der Kasse, die eine weitere Dame fragte, in einem Berg Papiere blätterte, „Wie war das mit Leuten über 27, die Kunstgeschichte studieren, aber nicht in Hamburg?“ und die mir schließlich einfach eine ermäßigte Karte für 6 Euro anstatt für 12 verkaufte. Dankeschön. (Ich. Will. UMSONST. Ins. Museum!)

Das Putzige an der Kunsthalle: Man kommt nicht direkt zur klassischen Moderne, sondern muss dafür durch die Hälfte des 19. Jahrhunderts. (Ist also quasi wie bei Ikea, wo man auch nicht direkt zu den Köttbullar kommt, sondern erst durch die Möbel muss.) Den Umweg nehme ich aber gerne, denn dort hängen die Drei Frauen in der Kirche von Wilhelm Leibl. Immer noch mein Lieblingsbild. Ihr müsst euch das bitte mal vor Ort angucken; keine Abbildung und schon gar nicht mein iPhone-Foto können die Feinheit wiedergeben, mit der das Bild gestaltet wurde.


Wilhelm Leibl, Drei Frauen in der Kirche (1881)

Nach einem Jahr Studium ist das 19. Jahrhundert nicht mehr ganz so reizvoll für mich wie vorher, aber es steht immer noch ziemlich weit oben auf der Liste – wobei ich in jeder Vorlesung und in jedem Seminar meine Vorlieben neu justiere. Nach dem ersten Semester fand ich auf einmal die Romanik toll, die mir vorher völlig verschlossen war, und die Gotik hatte sich einen Platz im Kopf erobert; den im Herzen hatte sie schon. Im zweiten Semester vertiefte ich meine Faszination mit der christlichen Ikonografie der Niederländer im 15. Jahrhundert, auf die ich durch mein Memling-Referat im ersten Semester aufmerksam gemacht wurde. Außerdem bekam ich im absoluten Schnelldurchlauf Kunst von 1500 bis 2000 präsentiert, und ich beschäftigte mich erstmals ernsthaft mit Skulpturen, mit denen ich vorher auch eher nur gefühlt was anfangen konnte, aber nie wusste, was ich eigentlich mag und warum.

Im Skulpturen-Seminar besprachen wir auch Bildwerke, die mit der Entwicklung der Skulptur im 20. Jahrhundert was zu tun hatten; wir hörten allein vier Referate zu Picasso, unter anderem eins zu den Demoiselles d’Avignon von 1907 (das Bild gilt als der Urknall der Moderne, könnt ihr euch für Partysmalltalk mal merken) und ein weiteres zu seinen Absinthgläsern, an denen toll ist, dass sie von Picasso erstellte Plastik und bereits vorhandenes Material kombinieren (den Löffel), was aus der Plastik eine erste Assemblage macht (auch das ein hervorragender Smalltalkbegriff). Kurz gesagt: Ich fühlte mich etwas besser gewappnet für die Neuzeit als bei den letzten Besuchen und begann mit dem Raum, der mein neuer Lieblingsplatz in Hamburg ist: ein Raum mit Skulpturen von Wilhelm Lehmbruck und Bildern von Paula Modersohn-Becker.

Lehmbrucks Gestürzter war für mich der Höhepunkt der El-Greco-Ausstellung in Düsseldorf, die ich sonst eher so meh fand, und während der Beschäftigung mit Alexander Archipenko bin ich ihm immer wieder begegnet. Deswegen habe ich mich sehr gefreut, ihn in Hamburg wiederzusehen.


Wilhelm Lehmbruck, Kopf eines Denkers (1918)

Dieser eigentümlichen Stimmung, in die mich Lehmbrucks Skulpturen in ihrer Fragilität und Einsamkeit versetzen, kann ich mich nie entziehen, und ich finde die Zusammenstellung mit den Bildern von Modersohn-Becker sehr passend. Sie zeigen ausnahmslos Menschen, so dass der ganze Raum die Möglichkeit bietet, mit verschiedenen Persönlichkeiten in Kontakt zu treten, die für mich aber alle irgendwie zusammengehörten. Wundervoll. Und melancholisch. Melancholisch-wundervoll.

An dem Bild Alte Moorbäuerin fand ich folgende Information: „Erworben 1920. Beschlagnahmung durch die Kommission für „entartete“ Kunst 1937. Erneut erworben 1951“. Wenn ich richtig geguckt habe, war das das einzige Bild, an dem der Hinweis auf die „entartete“ Kunst stand; umso wichtiger finde ich ihn.

Im nächsten Raum versank ich in drei Bildern von Munch, unter anderem in der Madonna, und entdeckte den mir vorher unbekannten Georg Minne. Bei Munch habe ich gemerkt, dass ich inzwischen anders gucke als vor einem Jahr. Ich lasse zwar immer noch zunächst im Raum den Blick schweifen und konzentriere mich dann auf die Bilder, die mich spontan faszinieren, aber bei denen versuche ich sofort zu ergründen, was sie aus kunsthistorischer Sicht auszeichnet. Ich überlege nicht mehr, was mir an ihnen gefällt – die Farben, die Komposition, das Motiv –, sondern ich rufe meine bisher im Kopf gesammelten Bilder ab und ordne das vor mir hängende Werk ein. Oder versuche es zumindest, was nach zwei Semestern natürlich noch eher ein Rumstochern im Nebel ist, aber der wird mit jedem Buch, jedem Bild und jedem Kurs lichter. So erstaunte mich bei der Madonna die rote Gloriole und das schwarze Haar; mir fiel bei Minnes Drei Heiligen Frauen (ich hoffe, ich habe mir den Titel richtig gemerkt) auf, dass sie keine Gesichter haben, was ihnen ihre Menschlichkeit raubt, und ich überlegte bei einem Winterbild Munchs, welche Farbschicht wohl zuerst kam und ob das Absicht war, seine Signatur per Weiß einzuschneien.

Im nächsten Raum warteten Picasso, Brancusi und Gris auf mich, und hier hatte ich ständig die oben erwähnten Demoiselles sowie Picassos Gitarrenbilder im Hinterkopf: Sehe ich Entwicklungen oder Abstufungen in der Abstraktion? Ich fühlte mich in jeder Minute um so viel reicher als noch vor einem Jahr, weil ich mich den Werken anders nähern konnte – aber trotzdem meine übliche emotionale Rangehensweise noch nicht von Fakten verschüttet wurde.


Constantin Brancusi, Der Kuss (1907/08)

Der nächste große Raum war mein zweitliebster auf dem Rundgang: Hier versammelten sich unter anderem Feininger, Belling, Schlemmer, von Jawlensky und Klee. Ich twitterte schon den Satz, der mir erstmals beim Rundgang durchs Lenbachhaus in München bei meiner immer noch nicht verbloggten Privatführung rausrutschte: „Ach, das hängt HIER?“ Damals ging es um das Porträt von Alexander Sacharoff von Alexis von Jawlensky, das ich sehr mag und von dem ich wirklich keine Ahnung hatte, dass es sich in meiner Nachbarschaft befindet. In Hamburg ging es mir bei Bellings Skulptur 23 so; auch hier der Querverweis zum Lenbachhaus: Dort steht nämlich der Dreiklang, über den wir im Skulpturenseminar sprachen. In meinem Kopf klickt es seit einem Jahr dauernd.


Rudolf Belling, Skulptur 23 (1923)

Was mich in diesem Raum so fasziniert hat: Ich mag auf einmal Feiniger. Den fand ich bisher immer so ja ach okay, aber dieses Mal erwischte er mich total. Ich ahne, dass es was mit der Beschäftigung mit Architektur zu tun hat, denn auf einmal konnte ich sein Liniengewirr nachvollziehen, sah Strukturen statt Dekoration und war begeistert davon, wie er einen Domchor auf Grundformen runterbrechen konnte.

Bei Klee bin ich stets überfordert, aber bei Klee ist mir das egal. Den mag ich einfach. Alles von ihm. In Hamburg hängen unter anderem (?) der Goldfisch (oh so pretty) und die Revolution des Viadukts. Vor dem Bild stand ich gerade, als hinter mir eine Schulklasse sich vor Franz Marcs Affenfries aufbaute und rumquatschte. War mir aber egal, ich starrte auf dekonstruierte Viadukte und war glücklich.

Dann erlahmten meine Augen aber auch schon so langsam. Ich nahm noch alle Kirchners mit – auch auf ihn bin ich erst im Skulpturenkurs aufmerksam geworden –, ignorierte Nolde aber schon so ziemlich; der kam mir auf einmal viel zu kleinteilig-nervig vor, nachdem Kirchner doch so schön flächig malte. Der vorletzte Raum gehört Max Beckmann, und hier konnte man wunderbar die Entwicklung nachvollziehen. Man beginnt Anfang des Jahrhunderts, wenn ich mir das richtig gemerkt habe, bestaunt ein hellfarbiges Selbstporträt, ahnt seinen Lebenslauf und den des Jahrhunderts anhand der sich ändernden Bilder und Skulpturen und endet bei dunklen, zerfahrenen Bildern, die kurz vor seinem Tod entstanden.

In den letzten Kabinetten entdeckte ich dann noch zwei Frauen, von denen ich noch nie gehört hatte. (Vielleicht sollte ich doch das blöde Blockseminar im nächsten Semester belegen, das sich nur mit Künstlerinnen beschäftigt. Ich hasse Blockseminare.) Die Damen heißen Anita Rée und Elfriede Lohse-Wächtler, und gerade den Wikipediaeintrag zur letzteren sollte man sich nicht gönnen, wenn man sowieso schon schlecht gelaunt ist. Eine kleine Lesebitte. Kann nicht schaden. Und geht mal wieder ins Museum. Kann auch nicht schaden.

24.07.2013

„Und, Anke, wie war so dein zweites Semester?“

(1. Semester)

Ich habe gelernt, dass ich mich seit den Sommerferien in der Schule nicht viel weiterentwickelt habe: Wo ich früher schon mein gesamtes Lesebuch in der ersten Ferienwoche durchgelesen hatte und dem neuen Schuljahr entgegenhibbelte, stelle ich mir heute den Stundenplan fürs nächste Semester bereits in den letzten Tagen des laufenden zusammen. Und so toll es ist, in Hamburg am Kerl zu kletten – ich muss gestehen, ich habe die Tage im März und April gezählt, bis ich wieder im Flugzeug nach München saß bzw. endlich das erste Seminar anfing.

Ich habe gelernt, dass ich noch genauso ungeduldig auf Noten warte wie früher. Die Klausuren waren netterweise recht schnell korrigiert (die große einstündige bereits nach einem Tag!), aber auf die Benotung eines Protokolls in Musikwissenschaft und die meiner Hausarbeit in Kunstgeschichte musste ich recht lange warten. So lange, dass ich auf Twitter schon arme Dozentinnen an anderen Unis anquatschte, wie lange man denn warten müsse, bis man nachfragen (vulgo: drängeln) darf.

Ich habe gelernt, dass mein Anspruch an meine Arbeit an der Uni genauso hoch ist wie der für bezahlte Arbeit. Unsere Klausuren sind offiziell nicht benotet; im Notenspiegel steht nur bestanden oder nicht bestanden, und wenn ich mich richtig erinnere, kann man die Tests auch ewig und drei Tage wiederholen, bis da endlich bestanden steht, was das Ganze für mich etwas absurd macht, aber Absurdität scheint im Bologna-System kein Bug, sondern ein Feature zu sein.

Insofern müsste ich nur ein, zwei Stündchen lernen und entspannt die Hälfte der Punkte einfahren, um ein bestanden zu kassieren. Mache ich aber nicht. Stattdessen lerne ich wie blöde, damit in der inoffiziellen Note, die nie jemand außer mir sehen wird, gefälligst eine verdammte 1 vor dem Komma steht. Nein, das müsste ich nicht machen. Aber wenn ich das nicht mache, kann ich auch gleich in Hamburg auf dem Sofa liegen und Comics lesen.

Ich habe gelernt, dass mich kunsthistorische Theorien mehr interessieren als die Kunst selbst. Das hat mich etwas überrascht, denn in meinem letzten Studium war Sekundärliteratur eher ein Schmerz im Arsch. Das scheint sich netterweise geändert zu haben. Ich habe alle Texte, die uns die Dozierenden aufs Auge gedrückt haben, sehr gerne gelesen, aber vor allem die, die sich mit unserem Fach beschäftigen. Was ist Kunstgeschichte überhaupt, in welchen Ausprägungen existiert bzw. existierte sie, wie hat sie sich verändert, welche Historiker und Historikerinnen sollte man kennen, was haben sie gesagt, wann und warum und in welcher Münchner Bibliothek steht ihr Buch?

(Kleiner Anlesetipp: Caravaggio’s Deaths von Philip Sohm. Gibt’s für lau bei jstor und mit Hilfe von Google wahrscheinlich auch noch woanders. Der Text zeigt, wie sich die Kunstgeschichte von der wilden Biografie Caravaggios hat einnehmen lassen – und wie sich diese Wahrnehmung und die seiner Werke über die Jahre ändert.)

Ich habe gelernt, wie vielfältig man Musik hören kann, dass innere Wahrnehmung eine valide wissenschaftliche Aussage sein kann und dass Zuckerwasser aus Johann Strauß Champagner macht. Ich habe allerdings außerdem gelernt, dass meine Faszination für Musik nur für anderthalb Semester ausgereicht hat.

Im ersten Semester lernte ich ein paar Hintergründe zu Beethoven und lauschte der Musikgeschichte von 1700 bis 1830. In diesem Semester standen zusätzlich zur nächsten Runde Musikgeschichte Didaktik und Gehörbildung auf dem Plan. Und in den nächsten Semestern wären Kompositionslehre und Chor bzw. Orchester drangewesen. Vor letzterem hatte ich nicht so viel Panik, aber was ich mit ersterem soll, wusste ich nicht so genau. Und seit diesem Semester weiß ich, dass ich es auch nicht herausfinden möchte.

In Gehörbildung saß ich spürbarer mit Menschen zusammen, die jeden Tag musizieren als im ersten Semester. Einige kamen mit Geigen- oder Gitarrenkoffer in den Unterricht, andere erzählten von Proben mit ihrem Chor, wieder andere waren grundsätzlich zu früh da, damit sie noch zehn Minuten auf dem Klavier spielen konnten, das im Raum stand. Und ich? Ich dachte an die Kunst, an mein Blog, an Biergärten oder den Kerl. Der Unterricht selbst lief so: Intervalle hören, Rhythmen hören, Noten notieren, Musik von der CD vorgespielt bekommen und sie aufschreiben, Note für Note, nur nach Gehör. Das ist alles durchaus faszinierend, und manchmal habe ich selbst über mich gestaunt, was ich kann (oder auch nicht), aber mir wurde im Laufe des Semesters immer klarer, dass Musik für mich eher ein Hobby bleiben soll.

Das hört sich wahrscheinlich komisch an, aber ich betrachte meinen Gesangsunterricht nicht als Musizieren. (Das ist mir aber auch erst in diesem Semester klar geworden.) Es ist eher eine kleine Therapiestunde, etwas, das mich bewusst einmal pro Woche aus meiner Komfortzone jagt und mich Dinge machen lässt, die mich Überwindung kosten, die dabei aber so lohnend sind wie kaum etwas anderes. Der große Unterschied zu meinem Geigen- und Akkordeonunterricht früher ist, dass ich mit den beiden Instrumenten auf Publikum vorbereitet wurde. Ich bin solo aufgetreten, in Gruppen, im Orchester, habe Wettbewerbe gespielt und auf Weihnachtsfeiern; jede Übungseinheit habe ich im Bewusstsein absolviert, dass das irgendwer zu hören bekommt. Beim Singen ist das ganz anders. Das mache ich nur für mich, und das soll auch so bleiben. Ich will meine Musik nicht mehr teilen, und anscheinend will ich doch nicht so viel über sie wissen wie ich dachte, als ich mich an der LMU für ein Studium bewarb.

Deswegen gesellt sich ab dem nächsten Wintersemester ein neues Fach zu Kunstgeschichte, nämlich Geschichte, worauf ich mich sehr freue.

Ich habe gelernt, dass ich immer noch lieber alleine lerne als in Gruppen, dass ich wirklich gerne in Bibliotheken sitze und mich durch ein Buch nach dem anderen fresse, dass ich genau wie bei Kinoblockbustern bei einem wissenschaftlichen Text „Oh wow“ sagen und begeistert sein kann, und dass ich überhaupt wissenschaftliche Texte weitaus mehr zu schätzen weiß als früher, vor allem weil sie kein Briefing, keine Meetingagenda, kein Reiseplan und kein Kampagnenkonzept sind.

Ich habe gelernt, dass Wochenendbeziehungen so scheiße sind, wie ich sie in Erinnerung hatte, aber auch, dass das Internet Deutschland deutlich kleiner gemacht hat als es 1992 war. Ich habe gelernt, dass ich jetzt anscheinend zwei Wohnungen habe, die ich ohne Unterschied als Zuhause bezeichne. In der einen wohnt mein Herz, in der anderen der Kopf. Ich habe gelernt, dass man sich sehr in eine Stadt verlieben kann, mit der man gar nicht gerechnet hat.

Und in ein Studium, mit dem man auch nicht mehr gerechnet hat.

15.07.2013

Flaucher-Grillen

Nasse Füße geholt, Nase eingecremt, Sonnenbrille verschmiert.

Teller vergessen, an den Würstchen verbrannt, vorgelesen bekommen.

Kühltasche leergeräumt, Biere verteilt, ins Wasser gelacht.

Zeichen hinterlassen, Lautstärke runtergedreht, dem Abend zugehört.

Mund gehalten, innegehalten, festgehalten.

14.07.2013

Wochenrückblick 6. bis 13. Juli

Samstag, 6. Juli

Mit einer beglaubigten Kopie meines Abizeugnisses von 1989, einem zweiseitigen Personalfragebogen, in dem ich über meine Sprach- und Geschichtskenntnisse Auskunft gebe, und meinem Personalausweis stehe ich in der Schlange in der Schellingstraße 3, um zum Geschichtseignungstest anzutreten. Ich möchte gerne mein Nebenfach Musikwissenschaften ändern, aber wie so vieles an der LMU geht das nicht einfach so, sondern man muss erst mal über ein paar Hürden klettern. Das kenne ich ja schon von der Immatrikulation, rege mich also gar nicht groß auf, sondern setze mich in einen Hörsaal, beantworte gefühlt 6 von 10 Fragen aus 2000 Jahren Geschichte richtig und schreibe vor allem ein zweiseitiges Essay, das meine Studienwahl begründet. Unter anderem erwähne ich, dass ich schon einmal Geschichte studiert habe, dieses Studium aber abbrach und seitdem vor mich hin arbeite. Mein zweites Studium erlebe ich ganz anders und ich schreibe, dass meine guten bis sehr guten Noten im letzten Semester daher wahrscheinlich auch eher meine Motivation belegen als meine Französischnote von 1987, die eh nur geschätzt ist, weil nicht mal meine Eltern, die sonst alles archivieren, meine Zeugnisse aus der elften Klasse aufgehoben haben.

Laut der Berechnungsformel auf der Website müsste ich durchgefallen sein, aber ich hoffe, das Essay kann noch was rausreißen.

Sonntag, 7. Juli

Eigentlich wollten @probek und ich uns die Synagoge angucken. Das war eine Spontanidee, als wir Samstag abend im Stadtcafé gegenüber auf den Beginn von El Topo warteten und ich mich die ganze Zeit nicht von der tollen Fassade lösen konnte. Also stehen wir Sonntag morgen um halb elf am Museum nebenan und fragen, ob wir die öffentliche Führung noch mitmachen könnten. Können wir nicht, denn dafür muss man sich anmelden. Ich würde gerne sagen, dass ich das verstehen kann, aber ich will das nicht verstehen und ich will das nicht sagen. Es kotzt mich an, dass ich nicht mal eben so ein jüdisches Gotteshaus besichtigen kann so wie ich jede Kirche besichtigen kann. Es kotzt mich an, dass im Jahre 2013 vor der Synagoge in Hamburg ständig bewaffnete Polizei stehen muss und dort, genau wie in München, die Straße abgesperrt ist. Es kotzt mich an, dass man ins jüdische Museum nicht einfach reingehen kann, sondern man durch eine Panzerglasschleuse eingelassen wird, ähnlich wie im jüdischen Museum in Berlin, wo ich mich an Metalldetektoren erinnere und an Sicherheitsmaßnahmen wie am Flughafen.

Ein wunderschöner Bau. Ich krieg dich noch von innen zu sehen, keine Bange.

Statt Bildungsvormittag Fressvormittag: @probek und ich lungern zwei Stunden im Forum-Café rum und genießen das Frühstück, dann sonnen wir uns kurz auf dem Gärtnerplatz und beenden den ersten Teil des Tages mit einer Touristenattraktion: Tramfahren durch München. War sehr kurzweilig und spannend.

Am frühen Abend treffe ich mich mit der @kaltmamsell im Cinema, wo wir zwei Stunden lang hysterisch kichernd den Minions zusehen. HAPPY! Peinliches Geständnis: Das war mein erster 3D-Film, wenn man von James Camerons Reise zur Titanic im Londoner Science Museum 2003 absieht. Ich bin anscheinend die perfekte Zielgruppe für 3D, denn in den ersten Minuten konnte ich mich kaum beruhigen: IT’S LIKE YOU CAN TOUCH IT! Schon das Universal-Logo, das um die Weltkugel fliegt, hat mich fertig gemacht, und ja, als zum Schluss die Seifenblasen in Richtung Publikum schwebten, habe ich nach ihnen gegriffen, ja, schon gut.

Montag, 8. Juli

Letzte Stunde Gehörbildung. Das Zeug ist komplett Ãœbungssache und bei mir sehr tagesformabhängig. Mal höre ich jedes Intervall, dann scheitere ich an einem Rhythmus mit vier Viertelnoten. Heute geht’s.

Mario Gomez wechselt zum AC Florenz. Erst mal deren Seite auf Facebook geliked.

Weiterhin viele Bilder und Fachbegriffe auswendig lernen, denn in der Woche vom 15. bis 19. finden meine Klausuren statt. Im Moment lerne ich nur Kunstgeschichte und ignoriere Musik, auch wenn ich eigentlich davon ausgehe, durch den Geschichtstest gefallen zu sein.

Meine Grafik- und Webdesign-Kollegin berichtet von unserer gemeinsamen Kundin, die am Telefon so was in der Richtung von „Ich hab da nen Studenten gefunden, der das viel billiger macht“ sagte. Facepalm, ignorieren, weiterlernen.

Dienstag, 9. Juli

Das vorletzte Mal im Kurs Skulptur und Plastik 1890 bis 1950 gesessen, das letzte Mal im Propädeutikum, das die Vorlesung Kunstgeschichte von 1500 bis 2000 begleitet. Mich bei der Dozentin für den Kurs bedankt; die Dame hatte ich schon im letzten Semester und habe sie bewusst wiedergewählt, weil sie die Veranstaltung erstens ziemlich abwechslungsreich und informativ gestaltet, zweitens uns immer die wichtigsten Begriffe, Bücher, Aufsätze, Kunstwerke als Übersicht schickt, damit wir wissen, was man möglichst behalten sollte, und weil sie drittens in jeder Stunde eine kurze Wiederholung der letzten macht. Das war für mich persönlich immer sehr hilfreich, weil ich faules Goldfischhirn natürlich auch gerne mal den Verlockungen Münchens (Bier, Radfahren, Bier, Biergärten, Bier) nachgebe anstatt zu lernen. Die Wiederholungen waren immer so ein kleiner moralischer Arschtritt, vor allem weil ich die Dame nicht so einsam da vorne rumsitzen sehen wollte, falls sich niemand meldet. Bei uns im Kurs waren es eh immer die fünf gleichen Menschen, die was sagen (ich zähle mich an guten Tagen dazu), was ich sehr bedauert habe.

Zwischen den beiden Kursen freut sich eine Dozentin verbal darüber, dass sie mich mit Karteikarten lernen sieht. Und dann läuft mir auch noch meine Kuratorinnenbekanntschaft aus dem Lenbachhaus über den Weg; die Dame hat @probek und mich ja mal durchs Haus geführt und, was ich bis letzte Woche noch nicht wusste, sie gibt gerade mit einer Dozentin zusammen bei uns ein Seminar. Ich hoffe, mich haben möglichst viele Dozierende gesehen. Ich bin auf Du mit einer Kuratorin des Lenbachhauses! Das muss doch Punkte geben!

Mittwoch, 10. Juli

Letzte Sitzung der Vorlesung Altniederländische Malerei. Der Dozent erwähnt, dass er im Wintersemester ein Forschungssemester hätte, was mich bedauernd seufzen lässt. Der Mann hat im letzten Semester meine Liebe zur Gotik erweckt und in diesem meine Faszination mit den Niederländern vertieft, daher hätte ich ihn gerne ein drittes Mal gewählt. Dann eben im Sommersemester 2014. (Traue mich nicht, ihm meine Sympathie mündlich zu gestehen. Schreibe vielleicht ne Groupie-Mail, wie gerne ich in seinen Vorlesungen gesessen habe. Mal gucken, wie fies seine Klausur wird.)

Mittagessen in the making. #obazda

Abends mit der @kaltmamsell in die Kammerspiele: Fegefeuer in Ingolstadt von Marieluise Fleißer. Groß-ar-tig! Eine sehr karge Bühne mit statisch agierenden Menschen, die totale Entfremdung, sehr simpel und doch sehr eindrucksvoll. Was mir besonders gefallen hat: Die Stimmen der Schauspieler und Schauspielerinnen kommen komplett vom Band – bis auf die in der letzten Szene, die den Abend sehr eindrucksvoll beschließt. An einem anderen Effekt habe ich mehr zu knabbern: Die einzelnen Tableaus – man kann es kaum Szenen nennen – werden von einem Blitz und einem sofort danach einsetzenden lauten Geräusch voneinander getrennt. Im Laufe des Stücks habe ich mich gefühlt 20 Mal zu Tode erschreckt, weil ich mit dem blöden Blitz nicht gerechnet habe. Das nervte, passte aber seltsamerweise auch. Große Empfehlung. (Hier die Nachtkritik zum Stück.)

Donnerstag, 11. Juli

Musik geschwänzt, um Kunst zu lernen. Letzte Vorlesung Kunstgeschichte 1500 bis 2000. Ich werde dich vermissen.

Freitag, 12. Juli

Am Telefon Tosca gesungen, die dieses Mal ein hysterischer Fraggle mit Federboa war. Am Telefon brauche ich motivierende Bilder, damit ich vergesse, dass ich in einer Küche mit recht dünnen Wänden singe und man mich garantiert über zwei Stockwerke hinweg hören kann.

Abends ins Zentralinstitut für Kunstgeschichte geradelt (der Nazibau an der Katharina-von-Bora-Straße), wo ich einem Roundtable aus drei Architekten und einer Architektin lauschte, die sich – total überraschend – über Architektur unterhielten. Es begann mit einer Klage über den Verlust der Regionalität – wenn man heute durch Deutschland fahre, könne man kaum noch erkennen, wo man sich befinde, weil moderne Architektur gesichtslos und austauschbar sei und ihre regionalen Bezüge meist vernachlässige. Was schade sei, denn jeder Landstrich hätte ja eine Art Gesicht, aber, halbwegs O-Ton, „jeder Bürgermeister will irgendeinen Glasturm bauen anstatt etwas Regionales“. Meinhard von Gerkan erwähnte in diesem Zusammenhang Dubai, wo bekanntermaßen das höchste Gebäude der Welt stehe – „in einem Land, das Platz wie nichts Gutes hat und daher in die Breite anstatt in die Höhe bauen könne“. Das sei dann doch eher Ausdruck von Macht anstatt regional und historisch sinnvolle Architektur.

Das Panel war sich grinsend einig, dass viele moderne Bauten aber eh in 25 Jahren anfingen zu bröckeln, weil sie aus günstigen Materialien blitzschnell in die Landschaft gekloppt werden, weswegen man nicht so lange unter ihnen leiden müsste. Es wurde ein niederländischer Architekt erwähnt, dessen Namen ich leider vergessen habe, der sich aber bitter über den Denkmalschutz beklagte: Angeblich seien bereits 20 Prozent der Weltoberfläche nicht mehr veränderbar, weil die Bauten unter Denkmalschutz stünden. Diese Zahl kam vor allem Uta Hassler viel zu hoch vor: „Da hat er sich wohl um eine Kommastelle vertan.“

Werner Sobek wagte einen Blick in die Zukunft, indem er zunächst in die Vergangenheit schaute. Um 1930 herum hätten wir 2,5 Milliarden Menschen auf der Welt gehabt, 1980 waren es fünf, inzwischen seien es sieben Milliarden (bin zu faul, die Zahlen nachzugoogeln). Die Bevölkerung wachse viel schneller als in den Jahrtausenden vorher, was natürlich neue Herausforderungen an die Architektur stelle. Theoretisch müssen wir in den nächsten zwanzig Jahren die Menge an Gebäuden von 1930 noch mal komplett nachbauen, um den Anforderungen der Welt von 2030 gerecht zu werden. Erwähnt wurde auch die durchschnittliche Quadratmeterzahl, die wir an Wohnraum zur Verfügung hätten. Um 1930 herum waren es ungefähr 20 Quadratmeter, heute seien es – in unseren Breiten – bereits 42. In Mumbai hingegen sind es zweieinhalb. „Wenn alle Menschen in Mumbai nur einen Quadratmeter Wohnraum mehr haben wollen, wird das schon eng.“ In diesem Zusammenhang ging es um Stadtentwicklung, wo meinem Gefühl nach ein bisschen der guten, alten Zeit hinterhergetrauert wurde, wo Stadtplaner noch große Würfe hinlegen konnten. Die Namen wurden nicht erwähnt, aber ich dachte sofort an Haussmann und Bernini oder in München an von Fischer, von Gärtner und von Klenze. Von Gerkan: „Eine Stadt braucht eine Partitur, keinen Bebauungsplan.“

Samstag, 13. Juli

Post von der Uni:

Jetzt lerne ich erst recht nicht mehr für Musik.

09.07.2013

Radfahren

Das letzte Mal, dass ich auf einem Fahrrad saß, muss Ende der Neunziger in Hannover gewesen sein. Ich erinnere mich, ab und zu damit zum Einkaufen gefahren zu sein, weil der Weg zu meinem Lieblingssupermarkt zu kurz fürs Auto und zu lang für zu Fuß war, aber das war die einzige Gelegenheit, in der ich das Rad benutzte. Es war viel zu nervig, das Ding aus dem Fahrradkeller zu wuchten, außerdem hatte ich ein Motorrad, was viel cooler war (wenn auch nicht zum Einkaufen; ich zieh mir doch nicht die Kutte an, um ne Pizza kaufen zu fahren) und ein Auto, mit dem ich eh alles erledigte. Deswegen verstaubte mein Rad irgendwann. Ich schleppte es zwar noch nach Hamburg, wohin ich 1999 zog, saß aber nie mehr drauf.

Inzwischen ist es 2013, ich wohne zeitweise in München, und was mir an München neben der Uni, dem ehemaligen Mitbewohner, der @kaltmamsell, dem Bier, den Biergärten, der Oper, dem Residenztheater, den vielen Originalversionen in den Kinos, der Ludwigstraße zwischen Siegestor und Feldherrnhalle, dem Königsplatz, der Isar, der Tram, der Allianz-Arena, den Pinakotheken, dem Wetter, dem Essen, meiner Wohnung und dem Dialekt am besten gefällt, ist mein Fahrrad. Mir wurde schon im Winter zugeraunt, dass der Sommer nirgendwo schöner sei als in München und dass man dann auf jeden Fall ein Fahrrad brauche. Das nahm ich mal so hin, aber jedesmal, wenn ich an der Uni die Batterie an Rädern stehen sah, wurde meine Sehnsucht nach diesem Transportmittel größer. Der ehemalige Mitbewohner half mir netterweise beim Kauf und Einstellen, und dann kam der Moment der ersten Runde nach ungefähr 15 Jahren Abstinenz.

Ich wusste nicht mal mehr, wie man auf das Ding elegant raufkommt. Und auch nicht, wie ich nach 50 wackeligen Metern erschreckt feststellte, wieder runter.

In den letzten 15 Jahren ist nämlich einiges passiert. Unter anderem die verkackte Bandscheiben-OP, von der ich Nervenschäden im rechten Fuß zurückbehalten habe. Das Füßchen weiß nicht so genau, was es tut bzw. es sagt meinem Hirn nicht mehr, was es tut, weswegen ich immer gucken muss, wo es gerade ist, denn ich spüre es nicht mehr. Das ist beim Aufsteigen auf ein Rad ein bisschen seltsam, auf den rechten Fuß und das Pedal darunter zu gucken anstatt nach vorne, aber so mache ich das inzwischen und das geht ganz gut. Aber beim ersten Aufsteigen war das ein sehr neues Gefühl, dieses: Ich trete jetzt mal in diese Pedale oder glaube es zu tun, denn ich merke es nicht, aber ich komme vorwärts, also scheine ich zu treten. Abgestiegen bin ich früher, so glaube ich mich zu erinnern, mit dem rechten Fuß auf der Pedale. Das geht nicht mehr; ich verlagere mein Gewicht nie mehr nur auf den rechten Fuß (auf Leitern zum Beispiel), weil ich schlicht nicht merke, ob ich abrutsche. Das merke ich erst, wenn ich abgerutscht bin. Das ist mir einige Male auf schmalen Treppen passiert, und einmal bin ich wirklich nach rechts gefallen, weil ich dachte, mein Fuß hält mich. Hat er aber nicht, und so taumelte ich aus heiterem Himmel im Zimmer herum, bis ich eine Wand zu fassen bekam. Seitdem ist mein linker Fuß der Go-to-guy und der rechte Deko. Deswegen steige ich inzwischen andersherum ab als früher: abbremsen, den linken Fuß auf der Pedale lassen, den rechten beim Stillstand auf den Boden stellen und dann auf die Seite vom linken Fuß heben. Sieht wahrscheinlich ein bisschen umständlich aus, aber ich falle nicht um, und das ist super.

Mein Körpergedächtnis hat übrigens neben dem neuen Absteigen noch etwas anderes gelernt. Früher habe ich grundsätzlich die Rücktrittbremse genutzt. Beim Motorradfahren habe ich mir natürlich das Bremsen mit der Hand angewöhnt. Und als ich das erste Mal wieder auf dem Fahrrad saß, bremste ich unwillkürlich mit der Hand, ohne dass ich darüber nachdenken musste. Das fand ich sehr lustig, und ich musste an das Gefühl am Rücken denken, das ich früher hatte, als ich meine Geige noch auf dem Rücken getragen habe beim Radeln in den Unterricht. Ach, wo wir gerade bei Körper sind: Das ist als dicker Mensch natürlich auch klasse, dass man sein Gewicht mal kurz nicht tragen muss. Ich muss es bewegen, aber ich muss es nicht schleppen. Den Unterschied merke ich inzwischen sehr, wenn ich mal wieder zu Fuß unterwegs bin.

Was ich inzwischen aber selten bin, denn ich habe etwas Großartiges entdeckt: FAHRTWIND! OMG! Ich fahre seit gut zwei Jahren kein Auto mehr, sondern nutze Öffis oder gehe zu Fuß. Wobei Zufußgehen einen winzigen Nachteil hat: Ich gerate ein bisschen ins Schwitzen, wenn ich normales Tempo gehe. Das Konzept von Flanieren oder Bummeln hat sich mir nie erschlossen; wenn ich gehe, dann will ich irgendwo hin, das heißt, ich gehe zackig auf ein Ziel zu. Und weil ich relativ schwer bin, strengt das etwas mehr an als auf der Couch zu liegen, weswegen ich eben schwitze. Auf dem Fahrrad habe ich zwar dieses großartige, schon angesprochene Ding namens FAHRTWIND, das mich trotz aller Anstrengung abkühlt, aber weil ich auch hier rumhetze, schwitze ich trotzdem. Bzw. schwitzte. Imperfekt.

Denn: So sehr ich Bummeln zu Fuß hasse, so sehr mag ich es inzwischen auf dem Rad. Als der ehemalige Mitbewohner und ich die erste Ausfahrt unternahmen (natürlich in Richtung Biergarten), radelte er un.fass.bar.lang.sam vor mir her. Zunächst zuckelte ich mit, dann überholte ich genervt, aber da ich nicht wusste, wo es lang ging, musste ich ihn wieder vorlassen, wo er wieder un.fass.bar.lang.sam fuhr. Und nachdem wir im Biergarten ankamen und ich schon losquengeln wollte, warum wir ne halbe Stunde für fünf Kilometer gebraucht hätten, merkte ich erstaunt: Ich schwitze nicht. Ich bin entspannt von A nach B gekommen, habe mich bewegt – und bin unverschwitzt. Ein großartiges Konzept! WHY DIDN’T YOU TELL ME?

Seitdem lasse ich die U-Bahnen und Trams, so sehr ich sie liebe, weitgehend links liegen und radele durch München. Die Stadt ist gefühlt winzig; meist bin ich mit dem Fahrrad schneller am Ziel als mit den Öffis. (Wenn man die Zeit abzieht, die dafür draufgeht, dass ich anhalte, auf Google Maps auf dem iPhone gucke, wieder losfahre, fünf Minuten später noch mal nachgucke, umdrehe und dieses Mal hoffentlich den richtigen Weg nehme.) Vor dem Radeln kannte ich München nur aus der U-Bahn-Perspektive; meine Orientierungspunkte waren die blauen U-Schilder, und Himmelsrichtungen merkte ich mir an Stationsnamen. Inzwischen habe ich mehrere Punkte, die ich anradeln kann und von denen aus ich weiterfahre: die Uni natürlich bzw. die drei verschiedenen Gebäude, in denen ich studiere; den Königsplatz because OH SO PRETTY, den Marienplatz, denn an dem kommt man eh dauernd vorbei und die Isar, auch wenn ich es schon einmal bei einer meiner ersten Erkundungsfahrten geschafft habe, auf der falschen Seite des Flusses zu sein, ohne es zu bemerken. Ich erinnere mich an meine innere Konversation – „Okay, wenn das hier die Wittelsbacher Brücke ist, dann ist die nächste die Reichenbachbrücke“ –, hatte aber locker die Brücken verwechselt, weil ich eben auf der falschen Seite und dann war ich in Haidhausen statt im Lehel, aber … egal. Immerhin war ich entspannt und unverschwitzt und meine Moves-App konnte schön ein paar Kilometer runterzählen.

Was ich inzwischen auch mag: das Gefühl zu wissen, was man tut. Im Auto habe ich es sehr genossen, irgendwann die Stadt und ihren Verkehr so gut zu kennen, dass ich wusste, auf welcher Spur man im Feierabendverkehr am besten vorankommt, wo es sich lohnt, Gas zu geben, um das nächste Grün noch mitzunehmen und wo nicht, wo man am besten parkt usw. Dieses Wissen eigne ich mir langsam auf dem Rad in München an. So weiß ich inzwischen auf dem Weg zum Schweinchenbau an der Leopoldstraße, dass ich beim Überqueren der Nordendstraße an der roten Ampel dringend die Pole Position brauche. Denn dann kann ich, sobald die Ampel auf Grün springt, lossprinten, um die Grünphase der nächsten Kreuzung an der Kurfürstenstraße noch zu erwischen, die gefühlt fünf Sekunden lang ist, wonach man gefühlt fünf Minuten auf die nächste wartet. Ich weiß inzwischen, welche Straßen Radwege habe und welche nicht und wann sich welche eher lohnt. Ich weiß, dass es sicher ist, die Schellingstraße nach Hause zu fahren, wenn mein Seminar pünktlich zu Ende ist, denn dann fahren ALLE Studis der LMU die Schellingstraße lang und die Autofahrer müssen sich zähneknirschend hinter dem Pulk einreihen. Ich weiß außerdem, dass Kinder sehr unberechenbar sind, wenn sie auf Fußwegen nicht angeleint sind, dass Autofahrer keine Lust haben, mal den Kopf zu drehen und zu gucken, ob ich gerade angeschlichen komme, und dass „Schritttempo“ ein weiter Begriff ist, wenn es auf den Marienplatz geht. (Ich glaube, ich gehe da nie wieder als Fußgänger rüber.) Durch die letzten drei Dinge weiß ich leider auch, dass ich mir wahrscheinlich einen Helm zulegen werde.

Was aber das Wichtigste ist: Es macht so unfassbar viel Spaß! Ich gucke inzwischen bei neuen Adressen nicht mehr auf den U-Bahn-Fahrplan, sondern auf Google Maps und die Radfahranzeige. Ich fahre nach der Uni gerne einen Umweg, weil ich lieber die schöne Strecke an der Franz-Joseph- und Elisabethstraße langfahre als die schnelle Route an der Schellingstraße. Und wenn ich nachts unterwegs bin, fahre ich fast immer irgendwie zum Königsplatz, sei es, um ihn zu überqueren oder ihn rechts von mir zu lassen, einfach weil es so wunderschön ist, an ihm vorbeizukommen. Links leuchtet der Goldkubus des Lenbachhauses, rechts die angestrahlten Propyläen und die Glyptothek, das Pflaster ist relativ neu und gut befahrbar, und ab einer gewissen Uhrzeit sind kaum noch Autofahrer unterwegs. So gut wie jedesmal, wenn ich dort entlangfahre, will ich anhalten und ein Foto twittern. Aber dann spüre ich den Fahrtwind und meine Beine und mein glückliches Grinsen, weil ich gerade verdammt noch mal durch München radele. Und dann fahre ich weiter.

16.06.2013

Nebenschauplätze

Der naive Plan war: Ich nehme mir eine Auszeit von der Werbung, studiere was Nettes, um den Kopf wieder ein bisschen mehr anzustrengen, um dann nach drei Jahren als frischgebackene kluge Bachelorette wieder Werbung zu machen.

Die unangenehme oder auch total tolle Realität: Seitdem ich meine Füße zum ersten Mal in die LMU gesetzt habe, ist die Werbung eine elende Nervensäge geworden und das Studium ein Paradies auf Erden.

Mein Widerwille, sich mit Reklame zu befassen, ist kaum zu beschreiben. Ich würde im Moment lieber kellnern gehen als weiterhin Kram zu texten, den kaum jemand lesen will und den meist niemand braucht. (Mein Rücken findet texten allerdings netter als kellnern. Man ist ja keine 40 mehr.) Ja, meine Kataloge holen die Leute sich freiwillig, aber trotzdem: Ich mag gerade nicht. Und ich mag eigentlich schon seit längerer Zeit nicht mehr, sonst hätte ich die Idee mit dem Studium gar nicht erst gehabt.

Mein derzeitiges Luxusproblem: Da ich nur etwas studieren wollte, das mich interessiert und nicht etwas, das mich eventuell beruflich weiterbringt (ich hab ja nen Beruf), habe ich eben Kunstgeschichte und Musikwissenschaften gewählt. Ich merke allerdings in jeder Unterrichtsstunde und Vorlesung mehr, dass ich wirklich gerne was im Bereich Kunstgeschichte machen würde. Ja, ich weiß, die Welt wartet nicht auf 46-jährige Kunstbachelorettes oder 48-jährige KuGi-Masters, aber sie hat auch nicht auf orientierungslose Studienabbrecherinnen gewartet, die bloß nen Copytest ausgefüllt haben, und trotzdem ist aus mir was geworden. Und wenn ich mir mit 48 einen neuen Job schnitzen muss, dann mach ich das eben. (Oder ich ziehe zu meiner Schwester, die mich mit Essen dafür bezahlt, dass ich ihre Wohnung aufräume. Vielleicht kriege ich sogar Taschengeld.)

Um wieder auf das Problem zurückzukommen: Als Ergänzung zu Kunstgeschichte ist Musikwissenschaft eher suboptimal. Also nicht völlig daneben, aber es gäbe schlauere Nebenfächer. Zum Beispiel Geschichte, das ich ja sogar schon mal studiert habe, wenn auch ohne Abschluss. Bei jedem kunstwissenschaftlichen Buch zieht es mich zu Geschichtsbüchern aus der Epoche, in jeder Vorlesung bastele ich mir im Kopf um die Bilder die Zeitläufe herum, in denen sie entstanden sind, um sie irgendwie einzunorden. Wenn ich mir meine Sachbuchvorlieben angucke, findet sich da neben Kunst, Musik, Futter und Fußball so gut wie nur Historisches – und das lese ich freiwillig und in meiner Freizeit. Warum dann nicht in der Uni?

Der eventuelle Nebenfachwechsel hat noch einen anderen Hintergrund: das leidige Geld. Durch mein selbständiges Texten ist mein Konto in den letzten Jahren richtig schön voll geworden, und wenn ich nicht in München wäre, könnte ich entspannt ohne Nebenjob drei Jahre davon leben und studieren. Ich bin aber nun mal in München, weil ich nur da Musikwissenschaften studieren kann. Von der Hamburger Uni hatte ich vor knapp einem Jahr auch eine Zusage im Briefkasten – und zwar für die Fächer Kunstgeschichte und Geschichte. Aber Frau Gröner wollte ja was Lustiges studieren und hat zudem die Mietkosten in München sträflich unterschätzt, weswegen ein Nebenfachwechsel mir auch die Möglichkeit gibt, ganz eventuell den Studienort zu wechseln, falls es finanziell einfach nicht mehr geht. (Dann lasse ich mich vom Kerl mit Essen dafür bezahlen, dass ich unsere Wohnung aufräume. Vielleicht kriege ich sogar Taschengeld.)

Vielleicht ist die Werbemüdigkeit nur temporär bzw. vielleicht liegt es an den Dingen, die ich bewerbe. Daher hatte ich mich vor kurzem um einen Nebenjob als Texterin in einem Reiseunternehmen beworben, mit dem ich selbst gerne durch die Gegend fahre, aber das hat nicht geklappt – passt schon; nach dem Vorstellungstermin wollte ich dort weitaus weniger gern arbeiten als beim Bewerbungschreiben. Lag nicht am Gespräch, war nur ein Bauchgefühl, und die nächste Florenzreise wird auch wieder bei dem Unternehmen gebucht. Auch der Nebenjob in der Bayerischen Staatsoper hat nicht geklappt, aber für den war ich wirklich nicht qualifiziert genug – was mich natürlich nicht daran gehindert hat, trotzdem eine Bewerbungsmail zu schreiben. Jetzt grübele ich über Jobs in Museen nach, mit denen sich vielleicht ein bisschen was in die Kriegskasse spülen lässt, wobei ich in diesem Bereich noch nicht mal weiß, wo ich anfangen könnte. Mein neuer Liebling, das Lenbachhaus, sucht allerdings gerade jemand fürs Marketing. Zwar in Vollzeit, aber egal. Ich schreib mal wieder ne Mail.

Ich bin immer noch selbst erstaunt davon, wie sehr mir das Studium gefällt, wie großartig ich es finde, mich mit ganz anderen Dingen zu befassen als in den letzten Jahren. Ich mochte meinen Job und die meisten Kunden und Agenturen und natürlich vor allem die Leute, mit denen ich gearbeitet habe. Aber ich habe immer mehr gemerkt, dass ich mich über Zeug aufrege, das es schlicht nicht verdient hat, mir Magengeschwüre zu bereiten. Kein Adjektiv ist es wert, dass ich wegen ihm mitten in der Nacht aufwache, weil der Kunde es mir gestrichen hat. Keine Präsentation ist so wichtig, dass man bis Mitternacht in der Agentur für sie sitzen muss. Und wegen keinem, wirklich keinem Job sollte man auf dem Klo hocken und heulen.

Ich erlebe mich an der Uni komplett anders als in der Agentur. Deutlich weniger angespannt, mit weniger Schmerzen in den Schultern, mit durchgeschlafenen Nächten und vorfreudigem Aufwachen. Ich wette sogar, dass mein Blutdruck niedriger geworden ist. Ich fühle mich anders, weil ich anders arbeite: selbstbestimmter, interessierter, begeisterter. Und: Ich habe das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Man kann sicher darüber streiten, ob ein altes Gemälde sinnvoller ist als ein neues Auto, aber ich für meinen Teil habe die Entscheidung zugunsten des Gemäldes getroffen. Ich war und bin der Meinung, dass Kunst und Musik die Menschheit zu einer besseren machen, während Technik das vielleicht nicht immer schafft. Diese beiden Bereiche machen zumindest mich zu einem besseren – gesünderen, glücklicheren – Menschen. Und ich bin mir sicher, dass auch Geschichte das schafft.

Weitergrübeln.

13.06.2013

Austrinken, zuhören, staunen

Mein Didaktikkurs entpuppt sich immer mehr als Wundertüte. In den ganzen Kunstkursen weiß ich, was mich erwartet, wenn die Stunde beginnt; ich kriege haufenweise Informationen zu Bildern oder Kunstwerken, die ich meist vorher noch nicht kannte, schreibe brav mit, hebe ab und zu den Finger und sage was Schlaues, Durchdachtes, Auswendiggelerntes, dann ist die Stunde rum und fertig. Auch bei Musikgeschichte ist das so. Aber eben nicht bei Didaktik.

Wir sind zu zwölft in dem Kurs, anscheinend alle mit genug Sensibilität und Neugier ausgestattet, um sich hemmungslos in Musik fallenzulassen und danach ebenso hemmlungslos zu berichten, was die Musik denn mit uns gemacht hat. Dazu haben wir eine Dozentin, deren Begeisterungsfähigkeit schon etwas fast Animateurhaftes hat (was ich als Kompliment meine).

In der letzten Stunde haben wir verschiedene Arten von Hören kennengelernt. Da gibt es zum Beispiel das unspezifische Hören, also die kurze, folgenlose Wahrnehmung von Supermarkgedudel im Hintergrund. Das kompensatorische Hören bedeutet: traurige Musik bei Liebeskummer, gut gelaunte Musik an Sommerabenden auf der Terrasse mit drei Cocktails im Blut. Angeblich gibt es sogar Studien darüber, dass es eher nicht möglich ist, Traurigkeit mit lustiger Musik zu verscheuchen, aber ich bin mir gerade selbst nicht mehr sicher. Was ich mir gemerkt habe: Das ist schon okay, fiese Schnulzen zu hören, wenn man rumheult. Das muss so.

Das senso-motorische Hören schließt eigene Bewegung mit ein, zum Beispiel tanzen oder auch nur rhythmische Bewegung. Alles, was hilft, den Höreindruck zu verarbeiten. Das assoziative Hören ist das, was mir im Kurs so viel Freude macht: Wir schließen meist die Augen und gucken zu, was vor unserem inneren Auge an Bildern und Eindrücken auftaucht, wenn wir Musik hören. (Falls das noch nicht klar geworden ist: Wir hören in dem Kurs quasi die ganze Zeit Musik.) Gleichzeitig gehen mit den inneren Eindrücken manchmal auch körperliche Reaktionen einher, ich schrieb schon mal darüber.

Das bewusste Hören ist quasi das wissenschaftlichste: Man hört gezielt auf zum Beispiel Instrumente oder Strukturen, um sich das Stück zu erschließen. Und das integrative Hören schließlich ist alles zusammen: Man hört zu und entscheidet sich bewusst, wie man zuhören möchte. Das kann sich innerhalb eines Stücks auch ändern, je nachdem, wie man die Musik gerade wahrnehmen will.

Im gestrigen Kurs haben wir mal wieder assoziativ gehört – und dieses Mal mit Hilfsmitteln. Jeder von uns bekam ein Schnapsglas voll mit einer durchsichtigen Flüssigkeit. Nach den üblichen Scherzen über bewusstseinserweiternde Drogen und ihr Einfluss auf die Musikgeschichte waren wir wieder brav und hörten zu. Diesem Stück nämlich – Unter Donner und Blitz von Johann Strauß aus der Fledermaus. Die Ansage war: „Wir hören das Stück einmal mit geschlossenen Augen. Dann kippt jeder, ebenfalls mit geschlossenen Augen, sein Becherchen runter, versucht möglichst nicht verbal oder akustisch darauf zu reagieren, und dann hören wir das ganze noch mal. Und dann will ich wissen, wie es euch ergangen ist.“

Gesagt, gehört. Ich hatte sofort eine rauschende Ballnacht in der Wiener Hofburg vor meinem inneren Auge, sah Sisi und eine Runde ungarischer Tänzer, einen betrunkenen Hofmarschall, der sich unmöglich macht und gegen Dinge rennt, alles laut und bunt und lustig – aber ich stand einfach nur daneben und guckte mir das an. Wie ich das bei Partys eben mache.

Dann trank ich – Zuckerwasser. Die Musik erklang erneut, und plötzlich war ich mittendrin. Das Zuckerwasser war Champagner, ich wirbelte mit den Ungarn übers Parkett und hakte mich bei Franzerl ein. Eine großartige Party, die viel zu schnell zu Ende war.

Andere hatten statt des Leckerzeugs Salzwasser in ihren Bechern, und die hatten keine so gute Zeit. Eine Dame hatte ähnliche Assoziationen wie ich: Sie war auf einer Party und tanzte lustig mit, aber nach dem Schluck Salzwasser stand sie plötzlich abseits. Andere mussten bei der Musik an das Äffchen mit den Becken denken, die es bräsig zusammenschlug, was sie superkomisch fanden, aber nach dem Salzwasser nur noch nervig. Eine andere Reaktion war, dass man mehr damit beschäftigt war, genau zu gucken, was die Flüssigkeit mit einem macht und man gar nicht mehr auf die Musik achtet, ganz egal was im Becher war. Das war dann wieder die verschulte Rangehensweise, bei der man irgendwas richtig machen will anstatt sich unwissenschaftlich fallenzulassen.

Wie auch immer: Ich fand es zum wiederholten Male spannend, wie man sich mit Musik auseinandersetzen kann. Und weil wir ja ein Didaktikkurs sind, hat das ganze natürlich auch einen Sinn gehabt: Die Übung diente schlicht dazu, sich dem Sinnlichen in der Musik bewusst zu werden, das im schulischen Musikunterricht gerne zu kurz kommt.

Ich teste die Fledermaus jetzt mit wodkabasierten Getränken, mal sehen, was dann passiert.

10.05.2013

Ich, das ist eine andere

Ich denke über Bilder nach, über Farben, Formen, über Raum, Persönlichkeiten, Ideen, Konstrukte. Ich lerne Geschichten, Biografien, Theorien und noch mehr Theorien und noch mehr. Und dann lerne ich, was alles schon nicht mehr gilt und lerne was Neues. Ich schreibe auf Notenpapier und in ein Moleskine, ich habe mir einen neuen Kugelschreiber gekauft und meine uralten Tintenroller wiederentdeckt. Ich nutze mein Federmäppchen, das 20 Jahre lang in einer Schublade auf mich gewartet hat. Ich sitze in großen Sälen auf harten Holzstühlen und schleppe Wasser und Jogurt und Apfelspalten mit mir herum anstatt in Konferenzräumen in Meetings zu sein und an Keksen zu knabbern und Latte Macchiato zu trinken. Ich höre Musik, die ich noch nie gehört habe, analysiere sie, lasse mich in sie fallen, schwimme auf ihr, darf die Augen dabei schließen und es Wissenschaft nennen. Ich gehe in Fußballstadien und treffe Menschen, die das auch tun. Ich trinke Maßkrüge voll Bier, wo ich in Hamburg gerade mal 0,33l schaffe. Ich habe ein Fahrrad gekauft und mich daran erinnert, wie toll Fahrtwind ist und kam mir nach einer Woche darauf total komisch vor, wieder meine Füße zu benutzen, um in Altona und Eimsbüttel und in der Hafencity von A nach B zu kommen. Ich gehe ins Theater und ins Kino, ich wühle mich durch Bibliotheken, ich lerne von 20-Jährigen und bewundere sie für ihre Bildung und ihr Wissen und all das, was sie gerade in der Schule in ihre Köpfe gestopft bekommen haben und was sie gar nicht zu würdigen wissen; ich schon, denn ich lese mir das alles wieder an, diesen ganzen Kram, den ich sicher schon einmal im Musikunterricht gehört habe, damals, oder in Geschichte, damals. Ich halte Referate statt Präsentationen, ich esse Leberkäse statt Fischbrötchen, ich sage Grüßgott statt Moin, und wenn ich nicht aufpasse, sage ich das in Hamburg auch. Ich, das ist eine andere als die im Norden. Ich, das ist jemand, die entdeckt und erlebt und fühlt und spürt und riecht und hört und dauernd vor etwas Neuem steht. Ich, das ist aber immer noch die gleiche, die fragt und hinterfragt und zweifelt. Und manchmal hat sie Angst, sich zu verlieren, obwohl sie gerade soviel gewinnt.

10.05.2013

< quote >

Wilhelm Lehmbruck, Gestürzter (1915), Stiftung Wilhem Lehmbruck Duisburg, Foto: Bernd Kirtz

„Der Rhythmus ist es also, der als Prinzip höchsten überpersönlichen Seins die Gestalten Lehmbrucks von der Last individueller Existenz erlöste. (…) Wie der Mensch im gotischen Dome unwiderruflich sein Ich verlieren muss, um aufgenommen in einen unaufhaltsamen Vertikalismus seine Seele in schrankenlose Weiten zu heben, so verlässt der Lehmbrucksche Mensch diese Welt harter Gegensätze (…), um allein im Rhythmus als dem stärksten kosmischen Prinzip ein Dasein reiner Geistigkeit zu führen.“

Kuhn, Alfred, Die neuere Plastik, München 1922, zitiert bei: Melcher, Ralph (Hrsg.), Alexander Archipenko, München 2008, S. 12.

Alexander Archipenko, Liegende Figur (1957), Privatsammlung (Sydney).

20.04.2013

Beethoven in Bewegung

Der Kurs heißt „Werkhören“, und ich stellte mir darunter vor, dass wir brav an unseren Plätzen sitzen, Musik lauschen und am Ende des Semesters in der Lage sind, ein Barockstück von einem der Renaissance zu unterscheiden und vor allem begründen zu können, woran wir es erkennen. Umso größer war meine Überraschung, als ich am Mittwoch zur ersten Sitzung auflief. Ich kam ein paar Minuten zu spät, öffnete vorsichtig die Tür zum Seminarraum – und sah zehn Studis, die sich wild im Raum bewegten. Zwei Frauen saßen am Rand, ich fragte die eine ungläubig, ob das hier der Kurs Werkhören sei, und sie meinte laut-fröhlich: „Ja! Wunderbar! Hier ist Ihre Partnerin!“ Woraufhin die andere Dame und ich uns ebenfalls in die Mitte begaben und folgendes taten:

Sie war A, ich war B, A musste sich irgendwie im Raum bewegen und B musste ihm oder ihr alles nachmachen. Das tat ich für ein paar Minuten, und weil ich zu spät war und keinerlei Einführung mitbekommen hatte, tat ich das auch alles ohne den üblichen Grönerkopf („OMG was tue ich hier und wie sehe ich dabei aus?“). Nach ein paar seltsamen, aber durchaus unterhaltsamen Minuten kam eine neue Aufgabe: Dieses Mal musste B vorangehen und dabei Emotionen darstellen, die A wiederholen sollte. Also die Hände kevinmäßig verschreckt vors Gesicht legen. Oder Fußballstadionjubeln. Oder weinend auf dem Boden kauern.

Wir bewegten uns auf recht kleinem Raum, weswegen man dauernd mit jemand zusammenstieß, denn wir hatten auch Ballerinapirouetten, Speerwerfer und ähnliche Bewegungen dabei. All das nahm ich aber nur aus dem Augenwinkel wahr, denn ich war zu beschäftigt, innerhalb von wenigen Sekunden immer neue Emotionen zu finden, die ich darstellen konnte.

Nach wiederum ein paar Minuten, in denen wir konzentriert, aber mit viel Gelächter und „Oh, Entschuldigung“-Sagen arbeiteten, gab es wieder eine neue Aufgabe: Dieses Mal ging wieder A voran, und B musste alles, was A tat, völlig überzogen darstellen. Meine Kommilitonin schritt voran – ich marschierte. Sie klatschte in die Hände – ich flippte total aus vor Freude. Sie wischte sich ein paar Tränchen aus dem Gesicht – ich brach fast zusammen vor Schmerz.

Und dann kam endlich die Musik, genauer gesagt, der 2. Satz aus Beethovens Klavierkonzert Nr. 4 in G-Dur, Op. 58. Wir sollten uns zu neuen Pärchen zusammentun – „Vielleicht mal ein bisschen gemischter, Jungs mit Mädchen …“ –, woraufhin ich mit einem geschätzt 22-jährigen Theaterwissenschaftsstudi durch den Raum irrte. (Ich hatte den Herrn schon auf dem Fußboden vor der ausgefallenen Gehörbildungsstunde am Montag kennengelernt.) Dieses Mal lautete die Ansage: „Einer von Ihnen ist das Orchester, der andere das Klavier. Machen Sie mal.“ Und so trat mein Kommilitone orchestral-forsch und bestimmend auf, während ich erst mal piano-zaghaft vor ihm floh, dann versuchte, meinen Standpunkt klarzumachen; er widersprach, ich argumentierte, alles wortlos, alles ohne dass wir wussten, was der andere dachte, aber: Wir bewegten uns irgendwann aufeinander zu, gestisch, mimisch, um schließlich Rücken an Rücken stehenzubleiben. Ohne ein Wort miteinander gesprochen zu haben.

Inzwischen war ich etwas verschwitzt, aber – wie immer an der Uni – völlig hingerissen von dem, was ich da tat. Auch wenn ich nicht wusste, was ich tat. Wahrscheinlich genau deswegen. Jetzt setzten wir uns und sollten die Augen schließen. „Wir gehen jetzt auf eine Phantasiereise. Sie hören den Beethoven gleich noch mal, und Sie befinden sich unsichtbar in einem gläsernen Kubus. Im Kubus befinden sich außerdem zwei Personen und zwei Gegenstände. Gucken Sie einfach mal, was passiert und merken Sie sich die Geschichte.“

Und so saßen zwölf Studis stumm mit geschlossenen Augen da, hörten alle die gleiche Musik – und sahen Glasvitrinen, Stühle, Bambusstauden, Briefe, Väter, Kinder, Liebende, Könige. Woher ich das weiß? Wir sollten uns danach zu viert zusammentun und uns erzählen, was wir gesehen hatten, die interessanteste Geschichte auswählen und die nochmal interpretieren, wobei zwei die Darstellenden waren und zwei die Beobachtenden. In unserer Gruppe war ich die einzige, die zwei bekannte Personen gesehen hatte, die anderen hatte nur gesichtslose Menschen wie Mann, Frau, Vater, Sohn. Wir entschieden uns für die plakativste Geschichte, die zwei meiner Mitstudis nun noch einmal zur Musik darstellten, während Theatermensch (ich muss dringend anfangen, mir Namen zu merken) und ich ihnen zuschauten. Unsere Aufgabe war, uns drei Positionen der beiden zu merken, die am klarsten den Fortgang der Geschichte markierten. Diese Posen wurden dann dem Kurs gezeigt – und der hatte die Aufgabe, unsere Geschichte zu erkennen. Und was für mich unglaublich war: Das hat funktioniert. Wir haben alle die Geschichten der anderen wiedererkannt, vielleicht nicht in allen Feinheiten, aber was ungefähr gesagt werden sollte, war allen sofort klar.

Die Stunde war schon fast rum, als es endlich darum ging, warum wir diesen ganzen Kram veranstalten. Eigentlich ganz simpel: Als Musikwissenschaftler oder -wissenschaftlerin geht man eigentlich anders an Musik heran – mit einer Partitur vor der Nase, mit Vorwissen, mit einem Berg Literatur dazu und schließlich dem konzentrierten Hörerlebnis. Das hier war schlicht eine andere Herangehensweise – eine intuitive, emotionale. Ohne dass wir uns zum Beispiel in der zweiten Übung abgesprochen hatten, wusste jeder von uns ungefähr, was der andere „sagen“ wollte. Ein Kommilitone erzählte, so habe sich sein Musikleistungskurs öfter Musik erarbeitet, zu der man intellektuell keinen Zugang gefunden habe. Er erwähnte Schönberg, bei dem sein ganzer Kurs nach der üblichen und in diesem Fall erfolglosen Arbeit mit der Partitur gesagt habe, wir tanzen das jetzt. Dann taten sie genau das, was ich gerade getan hatte: Sie ertanzten sich einen Weg, mit der Musik klarzukommen.

Die Grundfrage war schlicht: Was will ich persönlich von Musik, was durchaus eine Frage ist, die man sich im Studium der Musikwissenschaft stellen sollte. Also: Will ich Musik emotionaler erfahren? Brauche ich dafür den intellektuellen Zugang? Oder erlange ich den vielleicht erst über den emotionalen? Lese ich mich erst in ein Stück ein oder erarbeite ich es mir, indem ich durch mein Wohnzimmer tanze?

Im Laufe des Kurses, so steht es jedenfalls auf dem Plan, lernen wir noch weitere Zugänge zur Musik, erfahren, wie Musik als Sprache funktioniert und beschäftigen uns auch mit der Didaktik des Musikvermittelns, woran ich noch nie einen Gedanken verschwendet habe. Dann mach ich das halt jetzt. Wie immer sehr freudig-hibbelig.

(file under #hach)

03.04.2013

Lobhudelei auf das Kölner Wallraf-Richartz-Museum mit kleinen Abzügen in der B-Note

Bei meinem Kölnbesuch vor knapp zwei Wochen schaute ich mir nicht nur den Dom interessiert an, sondern auch die Mittelalterabteilung im Wallraf-Richartz-Museum. Dabei fiel mir auf, wie klug die Werke präsentiert wurden – und wie gut die Texte dazu waren. Ich war mehr mit Gucken beschäftigt als mit Knipsen, daher habe ich weder die Werke noch ihre Beschriftungen mit dem iPhone geschnappschusst; da müssen wir jetzt durch, und ihr müsst mir einfach mal glauben. Oder ihr geht selbst im Museum vorbei und korrigiert mich notfalls, was für uns alle das Beste wäre.

Die normale Hängung in Museen, soweit ich das beurteilen kann, ist gerne nach Künstlern und Künstlerinnen geordnet, die sich zudem in einem Raum mit weiteren Menschen aus ihrer Epoche oder ihrer Stilrichtung befinden. Gerne hängt auch alles in zeitlicher Anordnung, so dass man von alt nach neu oder umgekehrt spazieren kann. Das kenne ich am besten von der Alten Pinakothek: Wenn man rechts die Treppe vom Eingang hochgeht, kommen zuerst die „neuen“ Franzosen, wenn man links hochgeht, zuerst die „alten“ Niederländer. Und je nachdem, zu wem ich gerade dringend will, weiß ich inzwischen, wo ich hochrennen muss. (Der schönste Dürer von allen hängt links, danach kommen gleich die Raffaels. #servicetweet)

Die meisten Museen bieten Audioguides an, die ich auch gerne nutze, gerade weil an den Werken nur das Nötigste steht: Künstler oder Künstlerin, Lebensdaten, manchmal das Ankaufdatum. Wobei mich persönlich eher der Zeitraum interessiert, in dem das Bild entstanden ist anstatt der, in dem der Maler oder die Malerin gelebt hat. Das steht seltsamerweise recht selten dabei. Wenn ich richtig gesehen habe, hat das Wallraf-Richartz-Museum keine Audioguides; dafür steht in jedem Raum eine Sitzlandschaft, in die ein Bildschirm eingelassen ist. Dort kann man sich bestimmt was total Funkyges angucken; auch das habe ich nicht ausprobiert, denn ich war mit den Texten schon glücklich genug.

Was mich so beeindruckt hat, war die Logik, die die geschätzt 100 Werke zusammenhielt. Jeder Raum hatte ein Thema, und das wurde per Schrifttafel auf deutsch und englisch erklärt: wissenschaftlich genug, um mir was Neues zu bieten (ich habe in den letzten Monaten recht viel über dieses Thema gelesen – nicht dass ich mir einbilde, schon wirklich was zu wissen) und populär genug, um den Text bis zum Ende lesen zu wollen. Teilweise mit Überschriften, die ich nicht unbedingt in einem Museum erwartet hätte. So war ein Text über das jüngste Gericht (?) mit Apocalypse Now übertitelt. Die Themen begannen mit „Die Erfindung der Kunst“, wo erklärt wurde, wann ungefähr die ersten transportablen Bildnisse entstanden und welchen Eindruck diese meist auf strahlendem Goldgrund gemalten Werke auf die Betrachter hatten. (Ich wiederhole mich: Ich zitiere wild aus der Erinnerung.) Dann gab es einen Raum, in dem sich ausschließlich Flügelaltäre befanden. Die Texttafel informierte über die Besonderheit von Triptychen, ihre räumliche Aufteilung und ihr Bildprogramm. Nette Zusatzidee: Die Sitzgelegenheiten in diesem Raum waren Kirchenbänke.

Einschub: Bei den Altären bzw. Bildwerken, die gleich mehrere Geschichten auf einmal erzählen, ist mir aufgefallen, wieviel dann doch in den letzten Monaten schon an ikonografischen Grundkenntnissen hängengeblieben ist. Vor den meisten großformatigen Werken begann ich im Kopf automatisch den Jesus-Countdown und beschrieb mir selbst, was ich sah: Verkündigung an Maria (Taube, Lilie, Engel), manchmal der Kindermord von Bethlehem, Flucht nach Ägypten (Esel 1), Geburt, die Heiligen Drei Könige, Darbringung im Tempel (Mama streckt einem alten Mann ein Baby entgegen), das eine oder andere illustrierte Gleichnis, ab und zu der Einzug nach Jerusalem (Esel 2), Abendmahl, Judaskuss, Geißelsäule/Dornenkrone/Mantel (Arschloch-Soldaten, viel Blut), Ecce Homo (viele Menschen, viel Blut), der kreuztragende Jesus (kreuztragender Jesus, viel Blut), Kreuzigung, Kreuzabnahme, Wiederauferstehung (stehender Jesus im steinernen Sarg, schlafende Soldaten, wehende Fahne, mal rotes Kreuz auf weißem Grund, mal umgekehrt – wissen Dänemark und England davon?) und damit hört die Bilderfolge meistens auf. Einschub Ende.

Ein Raum beschäftigte sich mit den ersten Privatporträts, was mir persönlich besonders gut gefiel, weil ich genau darüber gerade ein schönes Seminar hatte; ein Raum ist dem Lokalhelden Stefan Lochner vorbehalten, der zeitlich und ikonografisch sehr stimmig in den ganzen Rundgang eingeordnet war. Ein anderer Raum informierte über weitere Kölner Künstler und überhaupt den Kunst- und Kirchenstandort Köln (was sich bedingte), ein weiterer über die Heilige Ursula, wiederum ein anderer hatte den bildlichen Schwerpunkt „Vision und Wirklichkeit“.

Zusätzlich zu der großen Tafeln, die einen groben Überblick schufen, informierten an einigen Gemälden und Altären noch weitere kurze Texte über die jeweiligen Besonderheiten. Da gab es zum Beispiel einmal eine Erklärung zu den erhaben gestalteten, „geriffelten“ Nimbussen, die lustigerweise mit der Girolle erklärt wurden (ja, das musste ich googeln), mit der runder Käse geschabt wird. Ein Satz wies mich darauf hin, dass mir diese Art der Heiligenscheingestaltung in der Ausstellung noch öfter begegnen würde, was natürlich dazu führte, dass ich zusätzlich zu all den anderen Details, nach denen ich inzwischen suchte, auch noch auf den Nimbus achtete. Toll.

Ich habe mich selten so umfassend und doch so unangestrengt von einem Museum informiert gefühlt, und wenn ich nicht nach zwei Stunden mit Gold und Marias und Schmerzensmännern vollgepackt gewesen wäre, hätte ich mir gerne auch noch Barock und Impressionismus gegönnt, einfach um zu gucken, ob die anderen Räume auch so toll sind. Beim nächsten Mal.

Ein bisschen habe ich aber doch zu quengeln: Als ich an der Kasse nach einer Ermäßigung für Studierende fragte, antwortete mir der durchaus freundliche Herr, dass es keine gäbe. Das wunderte mich zwar, aber ich nahm das mal so hin, bezahlte meine acht Euro und genoss die Kunst.

Auf der Website las ich aber nachträglich, dass Studis natürlich günstiger reinkommen und Studierende der Kunstgeschichte sogar umsonst. Und sogar ohne dusselige Altersbeschränkung, wie sie zum Beispiel die Hamburger Kunsthalle hat; da darf man nur vergünstigt rein, wenn man unter 27 ist, ganz egal was man studiert.

Ich nörgele jetzt nicht wegen der acht Euro – ich habe fünf Minuten nach dem Museumsbesuch 4,50 Euro für einen Becher Kaffee gelöhnt, ohne mit der Wimper zu zucken. Mich nervt es nur, dass mir so dämlich ins Gesicht gelogen wurde. Wenn ich schon nach einer Ermäßigung frage, werde ich wohl auch einen Grund dafür haben. Ich nutze meinen Studiausweis für nix, ich will nicht billiger in Filme oder Schwimmbäder, aber ja, in Museen will ich für weniger Geld oder für lau. Ich finanziere mir gerade eine nicht besonders günstige Ausbildungsvariante, und wenn ich mir schon FCB- und Staatsoperkarten verkneife, würde ich mir gerne was anderes gönnen. So wie ein tolles Museum. Das nächste Mal zücke ich gleich den Ausweis, anstatt freundlich zu fragen, denn ich will auf jeden Fall noch mal hin. Und in den Dom sowieso. In den darf man übrigens umsonst.

25.03.2013

Kölner Kirchen gucken

Nach meinem letzten Gotikgroupieeintrag kam aus Köln Post von Nata und @marqueee, die sich spontan als Stadtbilderklärer_in andienten, was ich natürlich sofort annahm. Flug gebucht (war ein Hauch billiger als die Bahn), Hotel gebucht (gerne wieder), irgendwie verabredet („Vorm Westportal?“ – wobei mir da aufgefallen ist, dass ich automatisch wusste, wo das Westportal ist, weil ich inzwischen weiß, dass der Chor immer im Osten ist. Und ich weiß inzwischen, was der Chor ist.) und schon stand ich am Freitag vor dem Kölner Dom. Nicht zum ersten Mal, aber wie gesagt zum ersten Mal mit ein bisschen Vorwissen.

Bevor Nata kam, hatte ich ein paar Minuten Zeit, um mir die Westfassade anzuschauen. Und so wie ich neuerdings an Bushaltestellen rumstehe und mir Gebäude erzähle, begann ich damit auch hier. Sonst klingt das eher so: „Ich sehe einen in die Höhe strebenden Profanbau mit vier Stockwerken …“ Vor dem Dom klang das so: „Ich sehe einen aber so was von in die Höhe strebenden Sakralbau mit … äh … hm.“ In meinem Kopf purzelten die Vokabeln durcheinander, die ich für die französischen Kathedralen gelernt hatte – Portalgeschoss, Rosengeschoss, Königsgalerie, Turmgeschoss … – aber bis auf zwei wollte nichts so recht passen. Außerdem fiel mir zum ersten Mal auf, dass der Dom keine Fensterrose hat wie sonst jede Kathedrale, die was auf sich hält. Jedenfalls alle, die ich in der Vorlesung auf den PowerPoint-Folien gesehen hatte. Meine schlauen Notizen liegen in München, und bis ich wieder da bin, behaupte ich, der Kölner Dom hat drei Stockwerke: Portal, Maßwerk, Türme.

Dann begann ich, nach weiteren Systematiken zu suchen, entdeckte die optische Anlage für die fünf Schiffe im Inneren, bewunderte die Klarheit der Portale und verlor mich schließlich völlig im Maßwerk, in den Gewändefiguren, in dem ganzen Blendwerk, das die Stütz- und Strebepfeiler des Öfteren in der Hotizontalen unterbricht, ohne den Gesamteindruck des gnadenlos Vertikalen zu stören. Ich hätte noch ne Stunde vor der Westfassade rumstehen können, aber da erschien Nata und begann, mir was über dieses kleine Kirchlein zu erzählen. In den folgenden zwei Stunden ergänzten wir uns gegenseitig – „Da liegt übrigens Gottfried von Arnsberg.“ – „Und diese Liegefigur auf einer Tumba nennt man Gisant, und die Figuren, die außen am Stein rumlaufen, heißen Pleurant.“ –, ich verrenkte mir wie immer den Hals beim ewigen Nach-oben-Gucken, irgendwann kam @marqueee dazu, wir nahmen ein paar Minuten vor dem Richter-Fenster Platz, das unglaublicherweise bei jedem Besuch besser in den Dom zu passen scheint, ich bewunderte den Reliquienschrein der Drei Könige unter Panzerglas sowie den Altar der Stadtpatrone von Stefan Lochner und den Klaren-Altar … allerdings nur im geschlossenen Zustand. Denn, daran hatte ich bei meiner Planung überhaupt nicht gedacht, wir befinden uns in der Passionszeit, und in der sind die Altäre geschlossen und sämtliche Kreuze verhängt. So stand in einer Kapelle ein winziges Kreuzlein, ich schätze, keine 50 Zentimeter hoch, das ein kleines purpurfarbenes Mützchen trug, was mich sehr erheiterte. Was mich allerdings betrübte, war die Tatsache, dass natürlich auch das Gerokreuz verhängt war. Und genau darauf hatte ich mich seit Wochen gefreut.


© Elke Wetzig/CC-BY-SA-3.0 (via Wikimedia Commons)

Ich zitiere von der Website des Kölner Doms: „Es ist nicht nur die erste erhaltene Monumentalskulptur nach der Antike, sondern auch die früheste Wiedergabe des toten Christus am Kreuz in monumentalem Maßstab. Die hohe künstlerische und handwerkliche Qualität ist bei einem solchen Erstlingswerk kaum erklärbar.“ Und: Seiner Wirkung kann man sich nicht mal in einem billigen Tintenstrahlausdruck entziehen. Wir haben das Gerokreuz natürlich in der Vorlesung gehabt, und da ich mir zum Lernen die ganzen Folien en miniature ausgedruckt und sie wie Vokabelkarten benutzt hatte, habe ich das Kreuz in den letzten Monaten sehr oft gesehen. Und jedesmal, wenn ich die Karte in der Hand hatte, wollte ich sie kaum wieder weglegen. Das klingt wahrscheinlich bescheuert, aber die Ruhe, die das schlichte Gesicht der Figur ausstrahlt, zusammen mit der unglaublichen Farbintensität aus Gold und Blau, hat sich immer auf mich übertragen. Und jetzt stand ich vor einem blöden weißen Vorhang und sah nichts. Aber: Von der Seite aus konnte ich es erkennen, das braune Holz, den goldenen Schurz, die schmale Figur. Und so stand ich da und guckte und hatte, selbst für mich alte Heulsuse sehr überraschend, Tränen in den Augen. Wir merken uns also, falls wir an der Himmelspforte gefragt werden, was uns im Leben so richtig beeindruckt hat: die Pyramiden und das Gerokreuz. Selbst wenn man es nicht richtig sehen kann.

Nach dem Dom waren wir zunächst in einem Brauhaus am Rhein (Ausrede: aufwärmen, wahrer Grund: Kölsch) und dann zunächst in St. Maria in Lyskirchen. In der winzigen Kirche freute ich mich über den bilderbuchmäßigen Wandaufbau (Arkadengeschoss, Empore, durchfensterter Obergaden) und die Schiffermadonna, an der ich Poserworte wie „Kontrapost“ anbringen konnte (den diese Dame nicht hat. Glaube ich. Verdammter Faltenwurf).

Zum Abschluss gingen wir zu St. Maria im Kapitol, und auch hier war ich angemessen beeindruckt: vom ruhigen Kreuzgang, dem Grundriss als Trikonchos, dem großen Lettner, den Kapitellen und vor allem der Größe der Kirche. Mit Romanik verband ich bisher immer etwas Kleineres, aber das hier war schon sehr ordentlich. Natürlich nichts im Vergleich zum Dom, aber die Messlatte ist unfair.

In allen drei Kirchen war ich erstaunt, wie anders ich derartige Gebäude wahrnehme als noch vor wenigen Monaten. Klar: Ich weiß jetzt, wonach ich gucken muss, um mir die Architektur zu erklären, aber alleine dass ich mir Architektur erklären will, erstaunt mich immer noch. Die Ruhe, die mich sonst in Kirchen erwischt, kam dieses Mal erst später. Der erste Eindruck war immer ein begeistertes Rumgucken, was ich alles sehe. Nach dem ersten hibbeligen Gesamteindruck konzentrierte ich mich dann auf ein Detail nach dem anderen. So wie bei der Fassade des Doms eben erstmal auf die Portale. Dann das Geschoss darüber. Die Wimperge. Das Maßwerk. Die Figuren. Eins nach dem anderen. Und dann noch weiter ins Detail: Was für Figuren stehen denn da überall an den Portalen? Haben wir liegende oder stehende Pässe? Welche Bibelgeschichten genau sehe ich in den Fenstern? Welche Heilige erkenne ich inzwischen wieder? (Nicht viele, wie ich mürrisch feststellen musste; das ging mit den weiblichen Heiligen und ihren Attributen im Wallraf-Richartz-Museum auf Bildern deutlich besser. Die Apollonia kann man sich am besten merken, die ist am gruseligsten. Stichwort „Zange mit Zahn“.) Welche Säulen- oder Pfeilerformen sehe ich? Wo genau sind die Kapitelle? Was ist Schmuck, was ist tragend? Und erst ganz zum Schluss: Welchen Eindruck hinterlässt dieser ganze steinerne Aufwand bei mir?

Ich bin am zweiten Tag meines Kölnbesuchs noch ein weiteres Mal in den Dom gegangen bzw. habe mir etwas mehr Zeit genommen, ihn einmal zu umrunden, um auch die anderen Portale zu würdigen, das ganze Strebewerk (mein Lieblingsdetail an gotischen Kirchen) und den Vierungsturm, der im 2. Weltkrieg zerstört wurde und Anfang der 60er Jahre neu entstand. Wenn es nicht so fürchterlich kalt gewesen wäre, hätte ich mir noch mehr Zeit gelassen, denn ich konnte mich einfach nicht sattsehen an dem ganzen Firlefanz, mit dem das Bauwerk sich schmückt. Aber im Inneren des Doms konnte man den eigenen Atem sehen und draußen war es so windig, dass ich meine Kapuze festhalten musste, so dass ich mich nach nur gut einer Stunde ins warme Museum verzog, wo ich mir, dem Gesamteindruck meiner Reise angemessen, nur die Mittelaltersammlung ansah. Wobei „nur“ da fies untertrieben ist: Ich schätze, in den neun hervorragend gestalteten und beschrifteten Räumen dürften um die 100 Werke rumhängen und stehen und eins ist schöner als das andere. Weswegen ich nach zwei Stunden auch nichts mehr sehen konnte und auf Barock und Impressionismus verzichtete.

Ich habe keine Ahnung, warum mich das Mittelalter so erwischt hat, aber ich nehme das mal so hin, dass ich jetzt gerade nichts lieber anschaue als Altäre, Reliquienschreine und Bilder auf Goldgrund. Im nächsten Semester bettele ich um einen Platz in der Vorlesung „Altniederländische Malerei im 15. und 16. Jahrhundert“. Insofern: Genießt die Gotik, so lange sie noch da ist – in spätestens drei Monaten ist hier alles voller Bruegels. Und guckt euch den Dom an. Der ist nämlich wunderschön. (Ach was.)

14.03.2013

Tosca ist mein Pony

Ich nehme seit ungefähr anderthalb Jahren Gesangsunterricht. Ich hatte früher schon einmal welchen – ich schrob natürlich darüber –, aber dieses Mal fühlt sich alles anders an. Das liegt an der Lehrerin, an mir und den sechs Lebensjahren, die ich seit dem ersten Unterricht gewonnen habe, und das liegt daran, dass ich nicht mehr nur Musicalsongs und Chansons und Lieder singe, sondern: die große Oper.

Dass ich das wollte, war mir erst klar, als sie auf dem Notenständer lag. Vorher habe ich nicht mal im Traum daran gedacht, mich an einer Opernarie zu vergreifen. Wo kommen wir denn da hin, wenn die kleine Anke plötzlich so was Riesiges wie Tosca singen will? Die erste Arie war Habanera, die ich aber eher pflichtschuldig sang; es war toll, eine Arie zu singen, aber mit Carmen hab ich’s nicht so. Ich hab’s mehr mit dem großen Drama. Muss nicht gleich Wagner sein, aber Puccini ist schon nah dran. Der kommt in meiner persönlichen Komponistenhitliste direkt hinter Richie, und deswegen atmete ich auch erstmal sehr tief durch, als mir meine Lehrerin Vissi d’arte in die zitternden Händchen legte.

Ich steh da also mit der Arie aller Arien aus Tosca, gucke doof die Noten an, erstarre, als ich das zweigestrichene b entdecke … und in dem Moment nimmt mir meine Lehrerin die Noten wieder weg („Du guckst schon wieder nach der höchsten Note“) und fängt an, mir die Arie vorzusingen. Kenne ich natürlich, tausendmal gehört, oft genug auf einer Bühne gesehen, jedesmal ergriffen gewesen – und jetzt soll ich mitsingen? ALSO ICH JETZT? Keine Chance. Bis zum „d’arte“ komme ich, und dann kommen die Tränen.

Das muss man sich als Nicht-Opernfan und Nicht-Selber-Sänger_in so vorstellen. Ich nehme jetzt mal an, du bist riesiger Justin-Bieber-Fan (soll’s ja geben). Und du hast Poster von ihm an den Wänden und besitzt alle Platten und folgst ihm auf Twitter, bist ihm also quasi total nah – und jetzt kriegst du einen Anruf von seinem Management, dass du ein Meet & Greet mit Justin gewonnen hast. Und zwar nicht nur einmal, sondern, wenn du willst, jede Woche.

So fühlt sich das für mich mit Puccini an. Ich darf ihn nicht mehr nur aus der Ferne anhimmeln, nein, ich darf ihn SINGEN. Ich. Ich habe einen ungeheuren Respekt vor dem Mann bzw. vor seinen Werken, und deswegen dauert es jede blöde Woche immer ein bisschen, bis ich mich wirklich traue, den ersten Ton von mir zu geben. Das ist so, als ob du als Riesen-Bieberista das erste Mal vor ihm stehst und nur „Hallo“ sagen willst, aber dich irgendwie nicht traust, denn man kann ja nicht einfach so als kleiner Fan dem Superstar „Hallo“ sagen. Im Kopf glaube ich immer, dass so ziemlich alle Töne, die ich singe, total schief sind und krächzig und schlimm und dass noch kein Fenster zersprungen ist, wenn ich das b” singe, ist eh ein Wunder. Aber da ist plötzlich das „Hallo“: Ich kann das b” nämlich singen. Und es strengt nicht mal an. Jedenfalls brauche ich keine Kraft dafür.

Was ich stattdessen brauche, ist eine out-of-body-experience. Wenn ich Oper singe, muss ich vergessen, dass ich Oper singe. Ich muss den Respekt vergessen und die vielen Aufnahmen, die ich schon von dieser Arie gehört habe, ich muss vergessen, dass ich bloß Anke bin, die hier steht, denn Anke kann das nicht. Anke ist viel zu leise und zu piepsig und zu ängstlich, die bittet ja schon Leute um Entschuldigung, wenn sie ihnen nur ne DM auf Twitter schickt, das könnte schließlich gerade stören, oder wenn sie vielleicht Hilfe braucht, das könnte ungelegen kommen. Sie will auch nicht laut sein oder aufdringlich oder sich Platz nehmen, sie nimmt eh so viel Raum ein, das muss ja nicht noch mehr sein. Das ist Anke. Die kann keine Oper singen, auch wenn sie gerade jetzt nichts mehr will als das.

Das da. Das muss ich alles vergessen. Stattdessen breite ich die Arme aus (und muss vergessen, wie albern das aussehen könnte) und stehe breitbeinig da (und muss vergessen, wie undamenhaft das ist) und nehme die Schultern zurück und mache den Mund weit auf und BIN LAUT. UND DA. Und werfe die Töne mit den ausgebreiteten Armen hinter mich und singe gefühlt in mich rein und dadurch glasklar aus mir raus und dann steht da plötzlich das zweigestrichene b, strahlend hell, ohne zu wackeln, es ist einfach da, weil ich es einfach lasse. Weil ich den Rotz, an den ich den ganzen Tag denke, um mich klein zu fühlen, weil ich den vergesse. Stattdessen stehe ich mitten im Raum und singe mir das Herz aus dem Leib. Und es ist total egal, ob ich dann irgendwann wieder heule oder nicht. Meistens verflenne ich nur den Anfang, und wenn das Hindernis, meine Tränen, meine Angst, aus dem Weg sind, dann geht’s. Dann geht’s bis zum b” und bis zum Schluss. Dann stehe ich da und singe Oper.

Und wenn ich dann wieder quengele, warum ich so gut wie immer erstmal heulen muss, bevor was geht, meint meine Lehrerin: „Weil du das so sehr willst und weil du dir jahrelang eingeredet hast, dass du’s nicht kannst. Und es haut dich jedesmal um, wenn du merkst, dass du’s doch kannst – und wie einfach es geht, wenn du dich lässt. Wenn kleine Kinder irgendwas Neues entdecken, vielleicht ein Pony, das da hinten irgendwo rumsteht, dann rennen die auch nicht gleich drauflos. Die gehen drei Schritte vor und wieder zwei zurück, es könnte ja beißen. Das machst du auch. Es könnte dir ja was passieren, wenn du Oper singst. Es könnte jemand sagen, wie doof das klingt und dass du das nicht kannst. Und auch wenn du’s schon mehrere Male gesungen hast und jedesmal bis ganz nach oben gekommen bist, glaubst du bei jedem neuen Versuch wieder, nee, dieses Mal geht’s nicht. Wie das Kind, das weiß, dass das Pony ihm nichts tut – aber es traut der Sache immer noch nicht.“

Ich erschrecke immer wieder selber, wie sehr ich diese beknackten Mechanismen verinnerlicht habe. Das Selbst-Runtermachen, der ewige Selbstzweifel. Hat mich noch nie weitergebracht, ist aber immer noch drin. Das hat mit der ersten Diät angefangen, dass ich mir selber eingeredet habe, dass mit mir was nicht stimmt, und das mache ich heute noch so. Aber: Es wird weniger. Denn mit dem Nie-wieder-Diäten hat das Selbstwertgefühl endlich mal was Nettes zu hören bekommen. Und auf einmal war das gute Gefühl für den eigenen Körper da. Und dann das Gefühl für die eigenen Fähigkeiten. Und dann der Mut, mal eben seinen Beruf zu ändern und umzuziehen und neue Menschen kennenzulernen und eine andere Stadt. Und dann: sich hinzustellen, die Arme auszubreiten, sich Raum zu nehmen und zu singen. Ich habe jedesmal Angst davor, aber ich komme jedesmal ans Ziel. Und irgendwann werde ich das glauben.

12.03.2013

München, Hauptbahnhof, 1. März, ich warte auf die S8 zum Flughafen

– Eine junge blonde Frau mit einer Sparkassen-Tragetasche in der einen Hand. In der anderen hält sie eine dieser transparenten runden Boxen, in denen man Torten transportiert. Ihre ist eine herzförmige Torte, mit Schokolade übergossen, der obere Rand ist mit Silberperlen verziert, der äußere mit einem wahrscheinlich nicht essbaren Goldband.

– In die einfahrende S6 steigt ein junger Mann in Jeans, an den Füßen anscheinend neue, blitzblanke, fast leuchtende Adidas-Sneakers. In seiner Hand trägt er eine Tüte mit einem weiteren Adidas-Karton. Ich frage mich, ob in dem Karton seine bisherigen, alten Turnschuhe sind oder ein zweites Paar neue.

– Ein Mann hechtet die Treppe rechts neben mir nach oben zum Bahnsteig, auf dem ich stehe. Er kann den Bahnsteig jetzt sehen, bemerkt, dass seine Bahn noch nicht da ist und verlangsamt sofort seine Schritte. Er ist nicht außer Atem, als er oben ankommt und in Richtung Hinweistafel schaut, wann die Bahn denn kommt. Dann schaut er auf die Uhr. Dann bleibt er ganz nah an der Treppe stehen und wartet stoisch, als ob ihn irgendwas Fremdes in die Bewegungslosigkeit gezwungen hat, als ob er nicht anders kann als zu warten.

– Ein junges Pärchen geht an mir vorbei. Sie halten sich an der Hand, und er hat dafür seine schwarzen, dünnen Lederhandschuhe nicht ausgezogen.

– Eine Dame, keine Frau, eine Dame, blond, geradeaus, hochgewachsen, bestimmt, hat garantiert für alles einen Plan. Sie trägt einen schwarzen glänzenden Kunstpelzmantel, schwarze, perfekt dazu passende Stiefel, ein kleines, schwarzes Beret mit genau dem richtigen Knick und einen billig wirkenden, breiten, grünen Plastikgürtel.

– Ein Mann in den Dreißigern, komplett in braun gekleidet, weite lässige Hose, offene Jacke, die locker über den Hintern fällt, ein brauner Rucksack. Über seiner linken Schulter feste, braune Schuhe, an den Schnürsenkeln zusammengebunden. Er bewegt sich leicht, während er mit seinem Freund spricht, lächelt, steht da, als ob er genau da hingehört, breite Schultern, schmale Hüften, weiße Zähne, braune Locken, die Knie immer leicht eingeknickt, der Rücken gerade, die Hüfte ein bisschen nach vorne geschoben, ich kann kaum wegsehen, so unaufgeregt präsent steht er da. An seinem Bein lehnt ein neongelbes Snowboard.

– Eine schmale Frau, vielleicht 30, in einem dunklen, knielangen Mantel, ein dicker roter Schal, eine ebenso rote Samtmütze mit einem grünen Bommel daran. Auf ihrem Rücken trägt sie eine lange, schmale Tasche mit japanischen Schriftzeichen darauf, und ich wünsche mir, es wäre ein Kendo-Schwert.

07.02.2013

„Und, Anke, wie war so dein erstes Semester?“

Ich habe gelernt, dass es gar nicht schlimm ist, 20 Jahre älter zu sein als der Rest des Kurses, weil ich in so gut wie allen Kursen nicht die einzige meiner Altersklasse war – und in einigen Kursen gab es auch Vertreterinnen, die altersmäßig über mir lagen. Gasthörer und -hörerinnen gingen mir allerdings fast ausnahmslos auf den Keks, vor allem, wenn sie a) 70 Prozent aller Teilnehmenden ausmachten, b) sich mit genau diesen Prozent unterhielten und c) das direkt hinter mir, während ich versuchte, dem Dozenten zuzuhören. Trotzdem ahne ich, dass ich in 20 Jahren genau da sitzen werde wo jetzt meine Nervensägen sitzen und zwar in Germanistik- und Philosophieseminaren. Und dann erzähle ich auch allen, wie schön es 2025 in Florenz war.

Ich habe gelernt, wie entspannt ich bei Referaten, Protokollen und Klausuren bin. Ich kann vor Kunden reden, dann kann ich das auch vor Kommilitonen und Kommilitoninnen. Ich kann so ziemlich über alles schreiben, dann auch über Beethoven, den Sonatensatz und was E.T.A. Hoffmann Schlaues zum Trio Op. 70,2 sagt. Und ich löse freiwillig jedes Onlinequiz, das mir über den Weg läuft, dann ist der Schritt zur Klausur geistig auch nicht so groß. Ich war etwas nervös vor der ersten Klausur, weil ich ihre Form noch nicht kannte, die Art, wie gefragt wurde, aber das legte sich nach 30 Sekunden, und vor der zweiten war ich ziemlich tiefenentspannt. Außerdem bin ich, ganz genau wie vor 25 Jahren, immer noch viel zu früh fertig. In der Schule habe ich die Sechs-Stunden-Klausuren nach vier abgegeben, heute war ich mit der 30-Minuten-Klausur nach zehn durch.

Ich habe gelernt, dass die Generation der 20-Jährigen, die grad an der Uni sitzt, alles andere als doof und ungebildet ist. Manchmal ein bisschen verstrahlt, was Alltagsanforderungen angeht, aber wenn ich mir meine Twittertimeline angucke (auch meine eigene), ahne ich, dass das nie aufhört.

Ich habe gelernt, dass ich locker 90 Minuten lang jemandem zuhören kann, solange es hell und kühl genug ist. Falls das nicht der Fall ist und der Dozent dazu auch noch über relativ wenig Modulation verfügt, kann es sein, dass ich trotz allem Interesse am Stoff einschlafe. Aber nur kurz! Und nur einmal! (Wo wir grad dabei sein: Ich bin auch schon mal in der Oper eingeschlafen. Bei Wagner. Jetzt isses raus.)

Ich habe gelernt, wie vielfältig die Darstellungsmöglichkeiten eines menschlichen Gesichts sind und wie unterschiedlich die christliche Ikonografie sein kann. Ich habe meine Liebe zu Botticelli und Dürer vertieft und die zu van Eyck und Memling entdeckt. Ich wollte wegen der Renaissance studieren, aber als sie endlich in der Vorlesung dran war, wäre ich viel lieber in der Gotik geblieben. Ich weiß jetzt, dass die Romanik kein grober Klotz ist, sondern voll naiver Schönheit, dass die Gotik nicht nur riesengroß ist, sondern auch zart und filigran, dass sich Italien von den Niederländern doch noch ne Scheibe abschneiden kann und dass auch in Deutschland ganz hübsch gepinselt wurde.

Ich habe gelernt, Haydn und Mozart zu schätzen und stehe weiterhin fassungslos vor Beethoven. Ich kenne Septakkorde und weiß, dass die irgendwo hinwollen und finde Variationssätze toller als andere. Ich weiß jetzt, dass man auch im wissenschaftlichen Umgang mit Musik über Gefühle reden kann oder was Stücke mit einem machen. Ich weiß jetzt allerdings auch, wie mathematisch Musik ist, was sie mir einerseits unheimlich macht und andererseits total neugierig auf moderne Musik, denn die lässt sich ja von keinem Fach mehr was sagen.

Ich habe gelernt, dass mich alles interessiert, solange die richtige Person es mir erzählt. Ich habe im Vorlesungsverzeichnis fürs nächste Semester schon einige Kurse nach Dozent ausgesucht, weil mich der jeweilige Mensch und seine Vortragsweise so faszinieren, dass ich mir alles von ihm oder ihr anhören würde.

Ich habe gelernt, wie gerne ich lerne.

Die häufigste Frage, die ich von meinen Kollegen und Freundinnen in den letzten Monaten gehört habe, war: „Ist es so, wie du es dir vorgestellt hast?“

Und meine Antwort war nach einer Woche die gleiche wie jetzt nach vier Monaten: „Es ist genauso, wie ich es mir vorgestellt habe. Nur noch viel toller.“

25.01.2013

In der Uni

Ich habe gestern zwischen meinen Seminaren spontan das iPhone gezückt und ein bisschen rumgeknipst; ich möchte das nicht „fotografieren“ nennen.

Mein Musikgeschichtskurs und das Seminar „Die Messe in der Renaissance“ finden im gleichen Hörsaal statt. Auf dem Weg in den nächsten Raum nehme ich immer den Umweg, der mich an dieser Fensterfront entlangführt, von der aus man auf die Ludwigstraße guckt.

Der Fenstergang und der nächste Hörsaal werden durch einen modernen Gebäudeteil verbunden.

In diesem Gang befindet sich mein Lieblingsklo (Auswahlkriterien „Alter der sanitären Anlagen“, „Frischluftzufuhr“ und „Wartezeit“) und er ist meist sehr ruhig, weswegen ich hier gerne recht langsam entlangschreite, bevor mich das Gewusel aus hunderten von Menschen wieder hat.

Und dann ist man wieder im alten Gebäude, das ich sehr gerne mag. Auch wenn der Weg in den zweiten Stock sich für mich so anfühlt wie in den fünften zuhause. (Sehr. Lange. Treppen.) Da links die Räume, da findet meine Übung in Musikwissenschaft statt, und hinter mir liegt der Riesenhörsaal, in dem ich Kunstgeschichte lerne und den ich in diesem Eintrag schon mal vorgezeigt habe. Und immer wenn ich diesen Gang langgehe, denke ich, KreuzgrAtgewölbe wie in der RomAnik, nicht KreuzrIppengewölbe wie in der GotIk.

Runter in den ersten Stock zur Romanikvorlesung oder links um die Kurve in die Bibliothek der Musikwissenschaft.

Romanikvorlesung it is. Das belegte, ausgeklappte Tischchen deutet auf einen Senior oder eine Seniorin hin, der oder die sich sicherheitshalber einen Platz reserviert hat. Wir haben ja auch nur 200 Sitze für 100 Leute. Meist setzen sie sich mit ausgebreiteter SZ ganz nach außen und gucken angenervt, wenn man es wagt, an ihnen vorbeizuwollen. Ja, ich bin latent nölig, und ja, ich werde mit 65 auch so sein. Die Stühle sind übrigens weitaus bequemer als sie aussehen. Ich persönlich mag sie jedenfalls deutlich lieber als diese blöden „amerikanischen“ Tisch-Stuhl-Kombinationen, auf denen ich schlechtgelaunt im kunsthistorischen Institut kauere.

Der Lichthof, in dem die Geschwister Scholl ihre Flugblätter auslegten, ist seit Längerem eine riesige Baustelle. Ich hoffe, ich bekomme ihn mal durchlichtet zu sehen, bevor ich meine BA-Arbeit schreibe. (Ich kann mich an diesem Gebäude nicht sattsehen, überall Bögen und Säulen und Zeug! Okay, und jetzt gerade eben auch Baugerüste.)

Aus dem ersten Stock ins Erdgeschoss in Richtung Unibibliothek, kurz vorher rechts in den Innenhof abbiegen. Im Herbst habe ich in diesem Pavillon immer entspannt meinen Pausenjogurt verspeist; momentan mache ich das lieber drinnen im Warmen. Ich freue mich schon sehr aufs Sommersemester.

Durch den Innenhof, fünf Stufen runter in den kleinsten Raum, in dem ich je Unterricht hatte. Aber wir sind im Beethoven-Kurs nur zu fünft, deswegen lässt es sich sehr gut aushalten.

Und außerdem steht ein bisschen was rum, auf dem der Dozent gerne mal ein paar Akkorde anschlägt. Oder nach ihnen sucht: „In as-Moll ist kein d, oder? Oder?“

Den Pavillon rechts liegen lassen und durch den nächsten Innenhof.

Und schon steht man wieder außerhalb des Unigeländes und wartet auf den Bus, der einen in zehn Minuten bis fast vor die Haustür fährt.

24.01.2013

Womit mein Lieblingsprofessor gestern seine Musikgeschichtsvorlesung begann


(Auch deswegen ist er mein Lieblingsprofessor.)

13.01.2013

Unfertiges Rumsinnieren über moderne Kunst oder: Ein Blogeintrag mit vielen Vielleichts

Der charmante Begleiter gestern so im Haus der Kunst: „Einmal für Ends of the Earth, bitte.“

„Das macht zehn Euro.“

Ich so: „Gibt’s Ermäßigung für Studierende?“

„Ja, das wären dann sieben Euro.“

„Gibt’s noch nen Bonus, wenn’s Kunstgeschichte ist?“

„Gibt’s, dann kostet es gar nichts. Aber der Herr ist normal, ja?“

Das muss ich mir jetzt wahrscheinlich ewig anhören, dass man als Kunstgeschichtsstudi nicht normal ist. Aber darum soll’s mir gar nicht gehen.

Die Ausstellung „Ends of the Earth“ beschäftigt sich mit Land Art, genauer gesagt, mit Land Art in der Zeit der sechziger Jahre bis 1974. Ich zitiere zur Einführung kurz von der oben verlinkten Website, die man sich gern komplett durchlesen darf:

„Als erste große Museumsausstellung über Land Art liefert „Ends of the Earth“ den bisher umfassendsten Ãœberblick über die Kunstbewegung, die die Erde als Material benutzte und das Land als Medium. (…) Anfang der 1960er-Jahre begannen Künstler an verschiedensten Orten der Welt, mit Erde als Material zu arbeiten und sich mit der Beschaffenheit der Erde als Planet auseinanderzusetzen. (…) Oft operierten die Künstler der Land Art direkt unter freiem Himmel. Dass die freie Natur andere Bedingungen für die Lebensdauer eines Werkes vorgab als geschlossene Räume, nutzten die Künstler produktiv. Manche Werke existierten nur für die kurze Zeit ihrer Ausführung (…)[.] Bei der Entstehung und Entwicklung der Land Art spielten Sprache, Film und Fotografie eine zentrale Rolle. Magazine und Fernsehsender gaben künstlerische Arbeiten in Auftrag, veröffentlichten sie als Erste und leisteten so einen wichtigen Beitrag zur Distribution der Werke. (…) Zahlreiche Künstler der Land Art beschäftigen sich mit den Wunden und Narben, die der Mensch dem Planeten Erde zufügt, sei es durch Kriegsmaschinerie (Robert Barry, Isamu Noguchi), Diktaturen (Artur Barrio), Atomtests (Heinz Mack, Jean Tinguely, Adrian Piper) oder Besiedelung (Yitzhak Danziger); sie forderten ein verstärktes Bewusstsein für die Bedingungen von Produktion, Präsentation und Verbreitung von Kunst und verliehen in ihren Werken den technologischen, gesellschaftlichen und politischen Bedingungen der Zeit Ausdruck.“

Ich gebe das nur zögernd zu, aber ich werde mit vielem aus der modernen Kunst nicht so recht warm. Vor den meisten Werken oder Installationen ploppt in meinem Kopf ein großes Fragezeichen auf. Wenn die Beschriftung der Werke mir dann auf die Sprünge hilft, macht es manchmal klick und ich grinse und freue mich über eine gute Idee oder ein spannendes Konzept. Wenn es nicht klickt, wird das Fragezeichen zu einem Achselzucken.

In der gestrigen Ausstellung habe ich sehr oft gegrinst und weniger die Achseln gezuckt, was mich sehr gefreut hat, denn natürlich weiß ich, dass ich (noch) eine sehr bornierte Haltung zur Kunst habe – „italienische Renaissance und das 19. Jahrhundert in Deutschland und dann ist gut“ –, und mein Studium dient nicht nur dazu, meine Midlife-Crisis abzuwenden, sondern auch dazu, von diesem Standpunkt runterzukommen und mir die Augen zu öffnen für Epochen und Künstler_innen, die ich bisher noch nicht kannte oder verstanden habe.

Genau über den Begriff des Verstehens habe ich gestern länger nachgedacht. Da liegt vor mir ein vier mal vier Meter großes Erdquadrat von Kristján Gudmundsson, auf das ich mir keinen Reim machen kann. Es ist einfach nur Erde, denke ich – und dann lese ich den Begleittext:

„Die Arbeit ist eine minimalistische Skulptur aus herkömmlicher Erde; eingefügt ist ein Dreieck aus geweihter Erde. Für den Betrachter lässt sich jedoch kein sichtbarer Unterschied ausmachen; er kann nur an die Existenz des geistigen Inhalts glauben.“

Und schon ist das nicht einfach nur Erde, die da vor mir liegt, sondern eine total schlaue Idee. Aus dem Fragezeichen wird ein Grinsen, aber gleichzeitig denke ich das, was ich immer bei moderner Kunst denke: „Wenn’s mir keiner erklärt, kapier ich’s nicht.“ Der nächste Gedanke ist dann immer das selbstgefällig hinterhergeschobene „Das ist bei alten Bildern ganz anders, da weiß ich ja, was ich sehe.“ Und gestern ist mir zum ersten Mal aufgefallen, dass das Blödsinn ist.

Wenn ich vor irgendwelchen Heiligenbildern aus dem Mittelalter stehe, erkenne ich einen Menschen, vielleicht seine Funktion. Aber das war’s dann auch. Ich lerne gerade, welche/r Heilige/r welches Attribut mit sich herumschleppt, damit er oder sie schön identifizierbar ist; aber selbst wenn ich mir gemerkt habe, Sebastian ist der mit den Pfeilen und Katharina ist die mit dem Rad, bringt mich das nicht die Bohne weiter, wenn ich die Geschichten hinter den beiden nicht kenne. Dann sehe ich weiterhin nur irgendeinen Menschen, vielleicht mit Pfeilen oder einem Rad, aber das ist ungefähr das gleiche wie ein vier mal vier Meter großes Stück Erde zu sehen.

Vielleicht muss man Kunst nicht verstehen, damit sie zu einem spricht; ich verwende hier bewusst die Metapher, von der ich vorgestern schrieb, dass sie nicht ganz passend ist, denn ich möchte, dass die Dinge, mit denen ich mich beschäftige, zu mir sprechen, damit ich mich mit ihnen auseinandersetzen kann. Einen Film sehe ich nicht passiv, ich folge der Handlung, überprüfe meist sofort, ob sie sich mir erschließt oder einen Sinn ergibt, und nach dem Abspann formuliere ich innerlich (oder im Blogeintrag), was ich gesehen habe – und vor allem, was es mit mir gemacht hat. Genauso bei Büchern, die mich in Welten führen, zu denen ich sonst keinen Zutritt habe.

Wie gehe ich mit Kunst um? Vielleicht greife ich bei ihrem Konsum unbewusst auf die Mechanismen zurück, die ich bei Filmen und Büchern und im Umgang mit Menschen gelernt habe: Ich will sie verstehen. Aber vielleicht muss ich Kunst gar nicht verstehen. Vielleicht muss ich nur würdigen, dass sie da ist? Aber kann ich etwas würdigen, das mich nicht bewegt, nicht erreicht, nichts mit mir macht, weil ich es nicht verstehe? Und da knackt es schon wieder: Es gibt genug Dinge oder Ereignisse, die etwas mit mir machen, gerade weil ich sie nicht verstehe. Mir fallen spontan nur die Klassiker ein: menschliche Grausamkeiten, politische Entscheidungen, verhängnisvolle Beziehungen usw. Vor vielen dieser Dinge stehe ich hilf- und ahnungslos, aber: Sie machen etwas mit mir.

Viele Werke der modernen Kunst machen auch etwas mit mir, ohne dass ich sagen kann, was genau. Wenn ich meine raffael‘schen Schnuffis angucke, merke ich, dass es mir besser geht, weil mich ihre Schönheit erfreut. Wenn ich Wilhelm Leibls Bilder betrachte, merke ich, dass sich Bewunderung regt. Aber was genau eine Mondrian‘sche Komposition mit Rot, Schwarz, Blau und Gelb oder ein Erdquadrat in mir auslösen, kann ich nicht in Worte fassen. Oder vielleicht doch: Sie werfen Fragen auf, die ich nicht formulieren kann. Und deswegen habe ich auch keine Antwort.