„What the Kamala Harris Doubters Don’t Understand“

Das übliche Gejammer darüber, dass Männer keine Frauen wählen, ist nicht nur albern, sondern gefährlich. Gilt nicht nur für die USA. Kommt endlich mal klar, Jungs. Wir wählen euch doch auch.

„I have been haunted by this unnamed white midwestern male voter for longer than I can remember. He turns up anytime a woman runs for anything, tucks his polo shirt into his jeans, and starts listing all the ways the candidate just doesn’t share his values. If only I could find him and talk with him! If only we could grab one of those proverbial beers. I would explain that although he matters and is important, now is not the time to make things about himself. Now he has to do what I and so many women and people of color have done in this country for generations: hold our nose and vote for a politician who might not totally get us, but whom we have to trust to do their best by us anyway.

I lived through the roller coaster of Hillary Clinton’s candidacy. I watched Elizabeth Warren supporters campaign while Bernie bros told them they were wasting their time. Then the Supreme Court took away the right to choose that I had thought belonged to all American citizens. Now I’ve run out of patience. My friends’ barstool logic is not only maddening; it’s dangerous.“

Der Artikel im „Atlantic“ von Xochitl Gonzalez endet hoffnungsvoll, und auch das lässt sich ganz möglicherweise auf die Bundesrepublik übertragen. Mehr Hoffnung und Freude statt Meckern und Hass.

Ja, bin vermutlich naiv. Könnte auch an den vielen Gute-Laune-Clips von Taylor Swift in meiner Insta-Timeline liegen, die mir musikalisch total egal sind, mir aber trotzdem Hoffnung geben, dass man sich mal wieder in Massen für etwas Gutes engagiert. Und wenn es nur Buchstabenarmbändchen sind.

„Harris is kind of a goofball. She’s earnest when you wouldn’t expect earnestness. She tells awkward stories. She laughs often and loudly. She is not at all cool. And people seem to like it? Many of these things worked against her back in 2020, but now it’s like seeing an ex at a high-school reunion: Suddenly the old flaws look different. Is it us? Are we lonely and desperate now? Probably.

The point is that for some time now, the only place for laughter in politics has been at a Trump political rally, in response to one of his cruel jokes. Politics has been about mass death and mass deportations. Harris takes these things seriously, but she can also provoke joy, which this country desperately needs. At that event Monday night, Harris told Biden—with warmth and sincerity—that she loved him. And then she spoke with a smile on her face about the future prospects for our country. Listening, I felt transported to a time before Trump came down the gilded escalator and turned the conversation from hope to carnage. We live in an era of cynicism, but Americans are still attracted to joy. We might find that even our white midwestern male voters want more of that.“

Atlantic-Link, eventuell Paywall, Archive-Link ohne.

Mittwoch, 24. Juli 2024 – Glaspalast

Neues Ding bei mir: herzhaft frühstücken, weil’s länger hält. Und ich hatte einen langen Tag vor mir.

Den ersten Termin für den neuen Job gehabt, per Teams am eigenen Schreibtisch. Danach flugs ins ZI gefahren, wo ein Workshop zum Glaspalastbrand 1931 stattfand und auf dem ich einen kurzen Vortrag hielt. Wie immer bei diesen kleinen Konferenzen: viel gelernt, Altes erweitert, Neues notiert, und mittendrin auch eine Frage zu Protzens Werk beantwortet bekommen, die ich mir seit Jahren stelle, obwohl es um etwas anderes ging.

In den Pausen gute Gespräche gehabt, Lob für meinen Vortrag bekommen („man konnte Ihnen so gut zuhören, schöne Sätze“ – das habe ich auch noch nie gehabt, das war nett), nach dem Abendvortrag beim Get Together im ZI ein Glas Wein genommen und ein Scheibchen Brot mit Hummus geknabbert, weil ich dachte, ach, ich geh ja gleich nach Hause, da esse ich dann endlich was Anständiges.

Stattdessen schon im ZI festgequatscht, doch noch in die anschließende Location mitgegangen, immer noch nichts zu essen bestellt, denn ich gehe ja gleich nach Hause, ist klar, aber erneut stattdessen entspannte vier Stunden mit der Hamburger Kunsthalle rumgenerdet und bei einem Hauch zu viel Riesling versackt. Viel gelacht und außerdem viele Tipps für die kommenden Aufgaben erhalten. Um halb zwei im Bett gewesen, Kopf und Herz mit lauter tollen Dingen voll.

Liebes Tagebuch, das war ein unerwartet schöner Tag.

Ein wortloses (naja) Dankeschön …

… an Jutta, die mich mit „‚So fing man einfach an, ohne viele Worte.‘ Ausstellungswesen und Sammlungspolitik in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg“ überraschte. Das Buch, herausgegeben von Julia Friedrich und Andreas Prinzing, gehört zu den Standardwerken, in die ich dauernd reinschaue, das hatte ich schon im Bachelor in der Hand und nutze es seitdem immer wieder. Umso schöner, dass ich dafür jetzt nicht mehr in die Bibliothek fahren muss.

Hier steht das Inhaltsverzeichnis, was ziemlich gut verdeutlicht, wie vielfältig die Aufsätze des Buchs sind. Für mich war spannend, wie schnell die Kunstdiskussion in der Bundesrepublik sich vom Figürlichen zur Abstraktion bewegte, sowie die gute Vergleichbarkeit zwischen den Besatzungszonen bzw. einzelner Häuser, von denen man (manchmal) aufs große Ganze schließen kann. Ich habe bisher jedesmal von den Fußnoten und der weiterführenden Literatur profitiert und nicht nur das Buch selbst, sondern auch diverse Titel aus eben diesen Fußnoten in der Diss genutzt. Ich lese es auch jedesmal mit einem anderen Erkenntnisinteresse – für mich ist und bleibt das Buch eine totale Wundertüte. Vielen Dank für das Geschenk, ich habe mich sehr gefreut!

„Werbung über alles“

Auch Juna schreibt über Adidas und den Marketingfail, über den ich gestern bloggte. Sie ergänzt um die Fälle Oetker und Ulla Popken, die total an mir vorbeigegangen sind. Backpulver von 1933 gefällig? Oder ein Shirt mit einer 18 drauf?

„So fiel Oetker jüngst mit einer „Retro Edition“ ihres Backpulvers auf, in dem sie dessen 125-jährigen Geburtstag feierten. Die geneigten Interessenten konnten nun Backpulver in Designs unterschiedlicher Jahre kaufen: 1893, 1902, 1916, 1933, 1956, 1979, 1986 und 2001. Aufmerksame Beobachter äußerten ihre Verwunderung zur Wahl des Jahres 1933.“

(via Aurora auf Masto)

„Noch jemand wach im Marketing?“

Ich freue mich seit zwei Tagen über den Artikel von Marlene Knobloch zur irrsinnig dämlichen Idee von Adidas, einen Schuh herauszubringen, der an die Olympischen Spiele 1972 erinnert – und dafür ein Model zu engagieren, das gerne antisemitischen Quatsch von sich gibt.

Der Artikel beginnt mit einer Abrechnung von Werbe- und Marketingagenturen, und als jemand, der diesen Zirkus nun endlich hinter sich lassen kann, möchte ich sagen: Genau so ist das.

„In der Regel rasten Scharen von Designern, Textern, Creative Directors nach einem Auftrag eines großen Kunden aus, köpfen Cremantflaschen und beuten sich für die nächsten Monate begeistert aus, werfen Bälle an die Wand, trinken literweise Kaffee, brüten bis tief nachts vor Stehschreibtischen, um schließlich eine 50-seitige Präsentation zu zeigen, in der Worte wie „Universum“, „Brand-World“ und der Vitruvianische Mensch von Leonardo da Vinci auftauchen („perfekte proportions“).

Mit von Concealer schlecht kaschierten Augenringen präsentiert man dann ein „Rebranding“ des Logos, einen etwas elliptischeren Kreis, einen leicht veränderten Farbton. Oder den neuen Slogan, das Ergebnis eines 50-köpfigen Teams nach monatelanger Arbeit, zum Beispiel: „100 Prozent Genuss“.“

Dann beschreibt Knobloch sehr genau, was das verdammte Problem am ganzen ist: dass mal wieder niemand über die eigene Nasenspitze hinaus gedacht hat, wenn überhaupt bis dort hin.

„Bella Hadid als große Antisemitin zu entlarven, ist gar nicht zwingend nötig. Es reicht, sich zu fragen, ob es wirklich eine gute Idee war, eine propalästinensische Aktivistin, die regelmäßig gegen den israelischen Staat austeilt, als Gesicht für eine an Olympia 1972 erinnernde Kampagne auszuwählen? Und ob wirklich niemand im sicher nicht unterbesetzten PR-Team eine Sekunde an die ermordeten israelischen Sportler gedacht hat?“

Sie erwähnt die Geschichte von Adidas, die auch gerne so tun, als hätten sie sich 1945 aus dem Nichts gegründet. Dass einer der Gründer sich niedlich „Adi“ abkürzt, weil sein Taufname nicht mehr ganz en vogue ist, ist ein netter Zufall. No jokes with names, mein Patenonkel trug diesen Namen ebenfalls, genau wie sein Vater. Aber hier passt es halt so schön. Die Erwähnung von Kanye, an dem Adidas ewig festhielt, auch als sich so langsam herausstellte, dass er kein verkanntes Genie, sondern ein beknackter Antisemit ist, passt auch.

Der gesamte Tonfall des Artikel ist Balsam auf meine Seele. Er ist nicht aufgeregt, nicht fassungslos, nicht anklagend, sondern fragt einfach mal gründlich nach. Der Artikel liest sich so, als ob jemand jetzt aber echt mal von allem die Schnauze voll hat, und ich fühle mich sehr verstanden.

„Adidas will die Olympia-Kampagne jetzt „überarbeiten“. Auf eine Anfrage antwortet das Unternehmen: „Wir sind uns bewusst, dass Verbindungen zu tragischen historischen Ereignissen hergestellt wurden – auch wenn diese völlig unbeabsichtigt sind –, und wir entschuldigen uns für jegliche Verärgerung oder Leid, die dadurch verursacht wurden.“ Frage: Wie kann man keine Verbindung zu „tragischen historischen Ereignissen“ herstellen, wenn sie an dem historischen Ereignis stattfanden, an das man erinnern will? Es ist nicht so, als hätte sich ein Radfahrer während der Olympischen Spiele 1972 irgendwo in Trudering am Knöchel verletzt.“

Hier der SZ-Paywall-Link, hier der von Archive.

„Zwischen dem 21. Mai und dem 8. Juni 1940 wurden 1558 ostpreußische Behinderte und 300 aus Polen deportierte Geisteskranke in einer mobilen Gaskammer ermordet. Diesen Mord führte das »Sonderkommando Lange« durch, das mit den Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD eingerückt war und dem SS-Hauptsturmführer und Kriminalkommissar Herbert Lange (Stapo-Leitstelle Posen) unterstand. Patienten der Anstalten Allenburg, Tapiau, Kortau und Carlshof wurden zu je 40 in den Gaswagen getrieben. Die Soldauer Aktion leitete der Höhere SS- und Polizeiführer Warthe, Wilhelm Koppe, der mit dem Höheren SS- und Polizeiführer Nord-Ost in Königsberg, Friedrich Wilhelm Reddies, für jeden getöteten Kranken ein Kopfgeld von zehn Reichsmark vereinbart haben soll. Nach der Aktion fand im Lagerkasino ein Abschieds- und Kameradschaftsabend statt. Die Angehörigen des Mordsonderkommandos erhielten als Anerkennung für ihre Tat ein Bernsteinkästchen samt Widmung des ostpreußischen Gauleiters und Sonderurlaub im besetzten Holland.“

Andreas Kossert: „Ostpreußen. Geschichte und Mythos“, 7. aktualisierte Auflage, München 2007/2022, S. 307.

Dienstag, 16. Juli 2024 – Book Mobile

Ich folge auf YouTube seit Längerem einer Dame aus Kanada, die einen Bücherpodcast hat, den ich noch nie gehört habe, und die ihr altes Haus aus dem 19. Jahrhundert renoviert, während sie darin wohnt, was ich total gerne anschaue. Die Videos verstoßen gegen alle Regeln, die ich in Casey Neistats Videokurs gelernt habe: Sie sind irre lang, total beschaulich und wollen überhaupt nichts von mir als Zuseherin.

Im einem älteren Video erzählt Bissett, dass sie sich einen Mini-Truck gekauft habe, aus dem sie ein Büchermobil machen möchte (hervorragende Idee), und im neuesten können wir ihr dabei zuschauen, wie sie die ersten Dinge auspackt, mit denen das Book Mobile ausgestattet wird. Das fand ich so liebevoll, dass ich es im Blog festhalten wollte.

Sie berichtet über das Logodesign, was mir sehr passend zu ihr, ihrer Persönlichkeit und einem winzigen Büchermobil zu passen scheint (auch auf Insta zu bewundern). Dann zeigt sie uns diverses Merchandising sowie bedruckte Papiertüten, denn wer Bücher kauft, muss die auch irgendwo hinpacken, damit sie nicht dreckig werden, sehr lobenswert. Ich habe immer eine kleine Plastiktüte im Rucksack, in der ich meine jeweilige Lektüre transportiere; derzeit ist es eine aus dem NS-Dokuzentrum, wo ich einen Katalog erworben hatte, was leider meistens zu den Büchern passt, die ich mit mir rumtrage. Schließlich packt sie bestellte Bücher aus und spätestens da wollte ich einen Kakao mit Marshmallows haben und einen geschmückten Baum, denn das war wie Weihnachten.

Was ich am liebsten mochte: Ihre Kategorien, nach denen die Bücher im Mobil aufgestellt werden. Scheiß auf „Fiktion“ und „Sachbuch“: Bei ihr gibt es zum Beispiel die Kategorie „Best books for binging“ oder „Books my friend think you should read“. Oder „The best books I’ve read in the past five years“. Oder „Beautiful covers of Classics“. Und noch mehr, ich habe irgendwann nicht mehr mitgeschrieben.

Das Büchermobil wird vermutlich nur in Nova Scotia rumfahren, aber falls ihr da mal im Urlaub seid: Kauft was für mich ein und schickt es mir, ich erstatte das total.

Sonntag, 14. Juli 2024 – Rezension

Wer wissen möchte, wie mir der Konferenzband „Georg Kolbe im Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Brüche in Leben, Werk und Rezeption“ gefallen hat, kann das in meiner Rezension für die Informationsmittel für Bibliotheken nachlesen.

Auf Wohnungssuche

Ich habe es gestern erwähnt und heute werde ich etwas genauer: Ab August bin ich im schönen Passau als Provenienzforscherin unterwegs. Dafür bräuchte ich allerdings dringend ein Dach über dem Kopf. Bisher war meine Suche erfolglos – ich dachte eigentlich, nach dem Münchner Mietmarkt kann mich nichts mehr schocken, aber Passau als Studierendenstadt ist nochmal ein ganz spezielles Pflaster. Mein Hauptwohnsitz wird München bleiben, ich bräuchte in Passau wirklich nur etwas ganz Kleines, aber genau das wollen anscheinend alle Erstis im Wintersemester auch, die vermutlich gerade jetzt alle ihre Zulassung erhalten haben.

Daher: Wenn ihr etwas wisst, wäre ich extrem dankbar.

Ich suche:
– ein bis höchstens zwei Zimmer in Passau, Lage total egal.
– Muss: Einbauküche. Und damit meine ich nicht zwei Kochplatten und eine Mikrowelle, womit die Studis hier abgespeist werden, sondern eine Küche mit Backofen. Ich weiß zwar inzwischen, dass es kleine externe Backöfen gibt, in denen ich meine Kichererbsen rösten kann, aber wenn’s geht, würde ich darauf verzichten wollen.
– Kann und wäre ein Paradies: Balkon. Das ist aber auch das erste, wobei ich Abstriche mache.
– Kann: bitte nicht im Erdgeschoss. Aber auch hier bin ich kurz davor, dieses Suchkriterium bei allen Immoportalen nicht mehr wegzuklicken.

Wenn die Gesamtmiete unter 500 bliebe, wäre das perfekt.

Freitag, 12. Juli 2024 – Signatur

Arbeitsvertrag unterschrieben und eingetütet. Ab 1. August bin ich wieder festangestellt.

Donnerstag, 11. Juli 2024 – Blond

Das Buch „Blonde Roots“ von Bernardine Evaristo durchgelesen. Es kehrt die Geschichte der Sklaverei um und macht Schwarze Menschen („Blaks“) zu den Besitzer*innen von weißen Menschen („whytes, wiggers“). Letztere versuchen, sich mit Dreadlocks, Cornrows und Lehm im Gesicht dem Schwarzen Schönheitsideal anzupassen. Sie bekommen nach ihrem Raub vom „grauen Kontinent“ Europa, der laut der Landkarte, mit der das Buch beginnt, südlich von „Aphrika“ liegt, aphrikanisch klingende Namen als „slave names“. Die Hauptfigur heißt also nicht mehr Doris Scagglethorphe, sondern Omorenomwara, die als Mädchen entführt und versklavt wird und eines Tages als junge Frau die Gelegenheit zur Flucht bekommt.

Im Buch kommen fast nebenbei lauter Klischees vor, die ich mit Schwarzen oder weißen Menschen verbinde, mit den Kulturen von Europa und Afrika, und jedesmal musste ich kurz im Kopf umdenken, weil ich durch meine Schulbildung, meine eigenen Erfahrungen, dem Medienkonsum von 40 Jahren und auch der universitären Ausbildung, gerade in Kunstgeschichte, gnadenlos festgeschriebene Empfindungen und Vorstellungen im Kopf habe. Das war im besten Sinne irritierend.

Was mich aber bis zum Schluss des Buchs fertiggemacht hat, weil ich es nicht abschütteln konnte, worüber ich noch nachdenke: dass ich bei jeder Beschreibung von Sklaverei oder Sklaven und Sklavinnen automatisch Bilder von nicht-weißen Menschen im Kopf hatte. Das Buch bemüht sich auf so gut wie jeder Seite, mich daran zu erinnern, dass die Hauptperson weiß ist und ihre Besitzer*innen Schwarz, aber in meinem Kopf war es immer umgekehrt. Wenn die Wunden einer Auspeitschung beschrieben werden, hatte ich automatisch Bilder eines Schwarzen Rückens im Kopf, vermutlich, weil ich noch keine anderen gesehen habe – oder im Vergleich zu den Bildern der US-amerikanischen Sklaverei viel zu wenige. Wie gesagt: im besten Sinne irritierend.

Die Geschichte liest sich genauso schmerzhaft wie alle anderen Storys über Sklaverei, aber der simple Trick, Schwarz und weiß und die dazugehörigen Machtverhältnisse umzukehren, macht es trotzdem zu einem sehr lesenswerten und erstaunlich unterhaltsamen Buch.

Ich frage mich gerade, ob ich es als unterhaltsam empfunden habe, weil ich weiß, dass es Fiktion ist. Wobei ich natürlich bequem ignoriere, dass diese Fiktion auf einer furchtbaren Wahrheit beruht. Ich wiederhole mich erneut: irritierend.

Ein französisches Dankeschön …

… an Anna, die mir per Patreon einen kleinen Betrag zukommen ließ, damit ich mir den Comic „La vision de Bacchus“ von Jean Dytar bestellen konnte. Ich schrieb schon einmal über diesen Vorgang und beendete den Eintrag mit den launigen Worten: „Sprachunterricht und Bücher in einem Aufwasch. Die [Buchhandlung] Librairie Française wird mein Ruin werden.“

Letzte Woche war der Band da und ich schlenderte vorbei, um ihn abzuholen. Und weil ich schon mal da war, fragte ich nach einer Empfehlung für Anfängerinnen der französischen Sprache. Die Inhaberin (?) erkundigte sich nach meinem Sprachniveau – „B1?“ – „Höchstens.“ (Eher noch A irgendwas, aber egal, man braucht ja Ziele im Leben) – und fragte dann: „Wie wäre es mit einer Geschichte über eine alleinstehende Frau, die eine Buchhandlung eröffn…“, woraufhin ich innerlich mit „Tais-toi et prends mon argent!“ antwortete, was laut Deepl „Shut up and take my money“ bedeutet. Äußerlich drückte ich mich gewählter aus: „Ja, das klingt gut, danke!“ Statt einem also zwei Bücher bezahlt und zufrieden den Laden verlassen. Vielen Dank für immerhin eins der Werke, ich habe mich sehr gefreut!

Lektüre im zweiten Quartal 2024

(Erstes Quartal 2024)

Zwei Sterne: sehr gut
Ein Stern: gut
Kein Stern: immerhin durchgelesen

Ich notiere in einem schönen, alten klassischen Word-Dok direkt nach dem Zuklappen des Buchs meine Eindrücke. Deswegen kommt im folgenden Eintrag das Wort „lesen“ ungefähr zwanzigmal vor. Das muss so.

April

Brigitte Reimann: Die geliebte, die verfluchte Hoffnung. Tagebücher und Briefe 1947–1972 **

Mit großem Gewinn gelesen. Hier und hier erwähnt.

Maxie Wander: Guten Morgen, du Schöne **

Tolles Buch, zu recht ein Klassiker. Wieso kannte ich das als Westdeutsche nicht? Wieso kannte ich auch Frau Reimann nicht? Wieso kannte ich so viele bildende Künstler*innen der DDR nicht?

Norbert Frei: Im Namen der Deutschen. Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit 1949–1994, München 2023 **

Viel gelernt, lesbar verpackt, wenn der schlechte-Laune-machende Inhalt nicht wäre, gerne wieder.

Mai

Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand **

Irre viel Geschichte, NS, DDR, alles spannend, aber es passiert dann doch recht wenig. Das Spannende und für mich Aufschlussreiche passiert in den langen Beschreibungen vom Alltag. Daher: große Empfehlung. (Ich musste allerdings ab und zu mal querlesen auf den letzten 100 Seiten.)

Jenny Erpenbeck: Aller Tage Abend **

Eine Familiengeschichte durch fast das gesamte 20. Jahrhundert, immer unterbrochen vom Tod einer Tochter, die im nächsten Kapitel wieder aufersteht und eine andere Handlung ermöglicht. Das fand ich einen sehr schlauen Kniff. Gern gelesen.

Juni

Manja Präkels: Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß **

Autobiografisch gefärbter Roman, der Kindheit und Jugend in der DDR, der Wendezeit und den sogenannten Baseballschläger-Jahren behandelt. Ganz nebenbei auf Dinge aufmerksam gemacht worden, über die ich Wessi nie nachgedacht hatte. Beunruhigt gelesen.

Uli Oesterle: Vatermilch, Band 1: Die Irrfahrten des Rufus Himmelstoß **

Halbbiografischer Comic, der im München der 1970er und 2000er Jahre spielt. Sehr gern gelesen; mich über das gezeichnete Tantris gefreut.

Uli Oesterle: Vatermilch, Band 2: Unter der Oberfläche **

Geht weiter in den 1970er Jahren. Der Band erschien erst 2023, ich ahne, dass ich bis zum Ende der Story im vierten Band noch ein paar Jahre warten muss.

Isabel Kreitz: Die Entdeckung der Currywurst *

Graphic Novel nach dem Roman von Uwe Timm, laut dem die Currywurst in Hamburg und nicht in Berlin erfunden wurde. Ich mochte die gezeichnete Nachkriegszeit.

Deniz Ohde: Streulicht **

Roman über ein Mädchen mit Migrationshintergrund, das zu einer jungen Frau wird, der das immer klarer wird und die diesem Umstand trotzdem schutzlos ausgeliefert ist. Ich musste oft kurz aufhören zu lesen, weil sich einiges so absurd und schmerzhaft liest in seiner total gut gemeinten Gehässigkeit oder im besten Falle Gedankenlosigkeit. Empfehlung.

Samstag, 29. Juni 2024 – Erstes Mal Elphi

F. und ich waren für einen sehr kurzen Kurztrip in Hamburg, Freitag am späten Nachmittag angekommen, ging es Sonntagmorgen schon wieder zurück. Für die Statistik: Hinfahrt fast pünktlich OMG, Rückfahrt 30 Minuten Verspätung. Für mich eine noch recht neue Erkenntnis: um wie viel schneller die Zeit vergeht, wenn man nicht liest, sondern Podcasts hört. Vermutlich auch, weil ich bei denen dauernd wegnicke, was überhaupt der beste Zeitvertreib auf langen Zugfahrten ist.

Ich hörte dieses Mal den Sommelier-Podcast von Silvio Nitzsche. So ganz glücklich bin ich mit seiner Gesprächsführung noch nicht, denn ein Teil des Konzepts ist es, allen Gästen dieselben Fragen zu stellen. Und die eingesprochenen Werbeblöcke sind unerträglich in ihrer Künstlichkeit. Trotzdem habe ich die gut zwei Stunden komplett gehört, denn die aktuellen Gäste sind unsere Lieblingswirte aus dem Lieblingsgasthaus, dem Waltz.

Gegessen und getrunken haben wir unter anderem in der Bar Three Fingers, die sich im Hotel Pier Drei in der Hafencity befindet. Die Drinks auf der Karte waren okay, wir bestritten mit ihnen höflicherweise auch die erste Runde, aber danach zauberten wir dem Barkeeper ein Lächeln ins Gesicht mit unseren Extrawünschen, denn inzwischen haben wir in der Bar Tantris gelernt, was uns schmeckt. F. bat um einen Old Fashioned, bei dem erstmal die Whiskysorte besprochen wurde. Ich wünschte mir einen Rum-Martinez, bei dem der Barkeeper überlegen musste, ob er eine bestimmte Zutat im Haus hätte – ob ich sonst einen Espresso Martini mal mit Rum probieren wolle? Das klang auch spannend, aber anscheinend war alles Notwendige vorrätig, ich bekam den Martinez und war glücklich.

Einen Abend später nahmen wir den Absacker nach unserem ersten Konzert in der Elbphilharmonie in einer weiteren Hotelbar, nämlich die, die auf der Ausgangsebene der Elphi liegt: das Blick im Westin. Die Drinks waren ebenfalls okay, mir ein bisschen zu gewollt anders, und hier sah es auch nicht so aus, als ob wir jemanden mit Sonderwünschen glücklich gemacht hätten. Aber als Ausklang eines etwas seltsamen Abends völlig in Ordnung. Und natürlich bester Blick aller Zeiten auf Hamburg.

Eigentlich hätte ich am späten Freitagabend einen Termin in Hamburg gehabt, um den wir dann noch den Besuch in der Elphi rumstrickten, aber diesen Termin sagte ich aus Gründen ab. Stattdessen sah ich meinen ältesten Freund wieder und es gab nach einem Burger mit der ganzen Familie die oben genannten Drinks, was ich für eine weitaus bessere Nutzung meiner Zeit halte.

Samstag morgen sahen wir eine Ausstellung mit Fotografien von Henri Cartier-Bresson im Bucerius-Kunstforum, nachdem wir zunächst im Falke-Store im Hanseviertel neue Socken für Herrn F. erstanden, der eben diese vergessen hatte, und zu einem schicken Anzug für die Elphi gehören halt auch schicke Anzugsocken.

F. als Hobbyfotograf nahm vermutlich mehr aus der Ausstellung mit als ich; ich fand sie anstrengend gehängt und verlief mich dauernd zwischen den vielen Themen. Womit sie mich allerdings total kriegte: mit einem halbstündigen Film, den Cartier-Bresson 1945 (!) mit Kriegsgefangenen in Deutschland drehte, die nach Frankreich zurückkehrten. Was ich vorher nicht wusste: Cartier-Bresson war selbst seit 1940 in deutscher Kriegsgefangenschaft gewesen, aus der er nach zwei vergeblichen Fluchtversuchen 1943 entkommen konnte. Der Film „Le Retour (Die Rückkehr)“ zeigt Szenen aus deutschen (Konzentrations-)Lagern, die von der US-Armee bzw. der Roten Armee befreit wurden. Er beschreibt in wenigen Worten und vielen Bildern, wie Millionen von Displaced Persons nun versuchen, in ein anderes Leben zurückzukehren oder aufzubrechen. Der Tonfall ist weniger verherrlichend ob der gelungenen Militäroperation, als ich erwartet hatte; Teile des Bildmaterials wurden von der US-Armee in anderen Zusammenhängen verwendet, wo der Tonfall deutlich anders war; ich las im Foyer den betreffenden Aufsatz im ausliegenden Katalog und hoffe, ich zitere halbwegs korrekt.

Ich habe vom Film hauptsächlich eine große Empathie für Menschen mitgenommen, die ich auch in vielen der Bilder von Cartier-Bresson wiederfinde. Die hatte ich vorher nicht unbedingt mit ihm verbunden, ich hatte ihn eher als unbeteiligten Chronisten wahrgenommen. Das Bild konnte die Ausstellung absolut erweitern.

Danach Geld in einem Kunstantiquariat gelassen. Eine Ausgabe von Erna Lendvai-Dircksens „Ein deutsches Menschenbild“ (1961) gefunden, das vor 1945 noch „Das deutsche Volksgesicht“ hieß. Außerdem ein gefühlt zehn Kilo schweres Buch ins Hotel geschleppt, das den wunderbaren Titel „Der Bergbau in der Kunst“ (1958) trägt und vom Verlag Glückauf, Essen, herausgegeben wurde. Ich bin kunsthistorisch bei den Autobahnen gelandet, weil ich Darstellungen von technischen Werken so mag, und es gibt erstaunlich wenig Literatur zu diesem Thema.

Lecker Galettes und Crêpes im Ti Breizh genossen, das kannte ich noch aus meiner Zeit in Hamburg.

Und abends dann aufgedotzt für unseren ersten Besuch in der Elbphilharmonie. Wir freuten uns sehr auf einen tschechischen Abend: Es sollte Smetana, meinen Liebling Martinů sowie Grandmaster Dvořák geben, aber ein paar Tage vor dem Konzert erreichte uns eine Mail, dass der Sologeiger Leonidas Kavakos aus gesundheitlichen Gründen nicht Martinů mit dem Orchester spielen würde, sondern – Mozart. Ausgerechnet. Fucking Mozart! Ich überlegte ewig, was wohl diese Gründe waren, denn auf der Bühne sah der Herr nicht gebrechlich aus, aber ich ahne, dass er im Vorfeld des Konzerts zu lange an irgendwas laboriert hatte, um das Konzert für Violine und Orchester Nr. 2 H. 293 (1943) einzustudieren. Für den Mozart kann man ihn wahrscheinlich nachts um 4 wecken und den fiedelt er runter.

Aber egal, erstes Mal Elphi ist erstes Mal Elphi. Wie erwähnt trugen wir unseren feinsten Zwirn, wie es sich gehört und wie wir in Münchner klassischen Konzerten immer aussehen – und waren total overdressed. Schon im Hotel-Fahrstuhl wurden wir gefragt, wo wir denn so elegant hingingen, und die jungen Herren, die auf den Fleetstufen rumchillten und zwischen denen wir durchstapfen mussten, meinten auch, wer so gut aussehe, dem mache man doch gerne Platz. Ich nehme Komplimente, wo ich sie kriegen kann, behaupte aber weiterhin, dass sie eher F. galten in seinem hellgrauen Slim-Fit-Anzug und Ray Ban als mir verschwitzer Kugel in dunkelblauem Rinaldi.

An der Elphi musste ich außen natürlich das obligatorische Foto machen, alle danach habe ich vergessen, denn das Gebäude ist noch viel schöner als ich es erwartet hatte. Die lange Rolltreppe bringt einen auf die Höhe der Plaza (8. Stock), wo geschwungene Glastüren einen auf den Umgang führen, auf dem man einmal komplett um das Gebäude rumwandern und sich Hamburg von oben angucken kann. An zwei der Seiten gab es sogar Sitzgelegenheiten, die aber alle besetzt waren, kein Wunder. Das würde ich als Hamburgerin ja dauernd machen: Snack und Champagner einpacken, ein Plaza-Ticket erwerben und dann bei Sonnenuntergang über den Hafen gucken (und das mir neue, unglaublich hässliche „Frozen“-Musicaltheater ignorieren, das direkt neben dem zum „König der Löwen“ steht).

Wir gingen also nur rum, guckten runter, gingen wieder rein und betraten eine Stunde vor dem Konzert die schicke Treppe, die uns auf unsere Etage führte. Jedenfalls ging F. ganz bis oben zu Fuß, ich nahm irgendwann einen Fahrstuhl. Das wäre auch mein einziges Gemecker über die Innenarchitektur: wunderschöne Treppen, hell, groß, aber total seltsame Stufenbreiten, die sich auch dauernd ändern.

Im 13. Stock angekommen, bewunderten wir erneut die Aussicht und nahmen ein kleines Getränk zu uns. Der Saal selbst öffnete eine halbe Stunde vor Beginn, bis dahin genoss ich noch die vielen Blickachsen in die Stockwerke unter dem, in dem unser Saaleingang lag und fand alles schick. Wir meckern ja gerne über die Isarphilharmonie, die ein Behelfsbau ist, bis vielleicht irgendwann auch die CSU mal verstanden hat, dass für eine Stadt, die drei Orchester von Weltrang hat, auch ein dementsprechendes Haus ganz angemessen wäre. Bis dahin quetschen wir uns in ein zu kleines Foyer und über zu enge Treppen; auch deswegen mochte ich die Weite der Elbphilharmonie sehr gern.

Der Große Saal selbst sieht unhöflich ausgedrückt wie ein Wespennest aus: Das Orchester sitzt unten in der Mitte, das Publikum wabenförmig mehrere Ränge nach oben gestaffelt darum. Über die einzigartige Akustik wurde schon alles geschrieben, weswegen ich sehr gespannt war, sie selbst einmal zu hören.

Wir begannen mit dem Smetana, der freundlich an mir vorbeilief. Er fing mit zwei Harfen an, die glasklar durch den Saal schnitten. (Sie können übrigens mithören, während Sie lesen: Hier ist die Aufzeichnung.) Danach setzten die Bläser ein und ich war begeistert. Aber dann kamen die Streicher dazu – und ich war irritiert. Sie klangen, als ob sie unter einer Wachsschicht aufspielten und das änderte sich auch den ganzen Abend lang nicht. Ich hörte Holz- und Blechbläser so deutlich wie noch in keinem anderen Saal, aber die ganzen Saiteninstrumente erschienen mir seltsam gedämpft, wie eine einzige Masse, und damit meine ich nicht einen einheitlichen Orchesterklang, sondern undeutlich, unspezifisch. Ganz komisch.

Was mir auch auffiel: wie konzentriert der Klang beim Orchester blieb. Es fühlte sich für mich so an, als ob das Orchester in einer Blase sitzt oder einem Glaskubus: Ich sah alles, aber der Klang kam nur bis zu einer Wand und ich saß auf meinem Platz auf der anderen Seite dieser Wand. Es erreichte mich emotional so wenig wie in keinem anderen Saal. Und nach der Pause gab es Dvořáks 9. Sinfonie, eines meiner Lieblingsstücke, das ich quasi mitpfeifen kann und das mich gerne zu Tränen rührt. Hier zog es perfekt und seelenlos wie auf einer CD an mir vorbei. Ich verstehe diesen Saal noch nicht, möchte aber dringend noch einmal hin, um zu hören, wie ein anderes Programm auf einem anderen Platz klingt.

Und dann gerne mit einem anderen Publikum. F.s erste Bemerkung, als wir uns in der Pause wiedertrafen (wir saßen nicht zusammen, es hatte nur noch Einzelplätze gegeben): „Ich lästere nie wieder über das Münchner Publikum.“ Was uns so irritierte: dass ein Großteil der Zuschauer*innen vermutlich sonst nie in klassische Konzerte geht.

Nach dem Smetana kam Mozart, bei dem ich fast eingeschlafen wäre, hätte nicht der Violinist mich wachgehalten. Aber nach dem ersten Satz des Konzerts für Violine und Orchester Nr. 3 G-Dur KV 216 kam nicht die erwartete Stille, sondern – Applaus. In mehrsätzigen Werken wird zwischen den Sätzen nicht geklatscht, und die Stille gehört für mich zum Stück, das kurze Innehalten und Durchatmen, bevor es weitergeht. Aber die gab’s hier nicht, sondern es gab Applaus. Nach dem ersten Satz dachte ich noch, okay, man bedankt sich beim Solokünstler, aber als auch nach dem zweiten Satz geklatscht wurde, war ich nachhaltig irritiert. Vor allem von der Menge an Menschen, die anscheinend nicht wussten, dass man eben nicht klatscht. Beim Dvořák ging es blöderweise damit weiter, es gab Applaus, als ob man dafür was geschenkt bekäme, und nach dem dritten Satz, vor dem dramatischen Finale, wurde ich dann auch mal laut, zischte ein „Shhh!“ in die Runde und machte eine entsprechende Handbewegung (F. auch, wie er mir nachher erzählte). Der Dirigent hatte auch keine Lust mehr auf die Faxen, weswegen es nach dem dritten sehr schnell im vierten Satz weiterging, und das nehme ich den Nasen schon ein bisschen übel, dass ich den Satzanfang nicht vernünftig hören konnte, denn der ist großartig.

Wir fragten uns nach dem Konzert, woran das liegen könnte, und ich ahne, dass viele Menschen im Saal waren, die als Tourist*innen in Hamburg sind, wozu anscheinend heutzutage ein Besuch in der Elbphilharmonie gehört. Was ich ja großartig finde, dass Menschen mal so in Kontakt mit dieser Musik kommen. Aber vielleicht braucht es dann doch eine winzige Gebrauchsanweisung im Programmheft, das man netterweise umsonst bekommt. Denn woher soll man wissen, wie ein derartiges Konzert funktioniert, wenn man noch nie in einem war? Oder ich bin inzwischen eine alte Prusseliese, die halt zwischen den Sätzen ihre Ruhe will, kann auch sein.

(Edit nach einem Hinweis auf Masto: Die Elbphilharmonie-Website erklärt sogar das Klatschen.)

Nach dem Schlussapplaus deutete Dirigent Alan Gilbert mit seinen Händen übrigens zwei Nullen an und machte eine Fußballbewegung, das war mal ein hervorragender Service für alle Leute, die bei der Ticketbuchung nicht den EM-Spielplan im Kopf hatten.

Nach unserem Barbesuch hatten wir die lange Rolltreppe, die uns in die Elphi hineingebracht hatte, ganz für uns alleine, das war schön. Und ich höre jetzt weiter Martinů auf YouTube. Sagt mir Bescheid, wenn er mal wieder in der Elphi gegeben wird, dann muss ich ein Ticket kaufen.

Mittwoch, 26. Juni 2024 – Wagnbruck

Wir saßen mal wieder in der Isarphilharmonie. Ich so gerade eben, denn das gestrige Gewitter hatte irgendwas an der U3 kaputtgespielt, weswegen ich den längeren Weg per Bus zur Spielstätte nehmen musste, der quasi aus Prinzip nie pünktlich ist. Ich kam erst gegen 19.20 Uhr im Haus an, das Konzert begann um 19.30, ich musste zwar nicht zur Garderobe oder zum Klo, aber ich bin trotzdem lieber früher da. Auch weil wir gerne Karten in der Mitte haben, und wir hassen ja alle die Leute, die in der Mitte sitzen, aber erst als letzte kommen, damit auch alle anderen in der Reihe auf jeden Fall aufstehen müssen. Leicht angeschwitzt fächerte ich, bis Dirigent Andris Nelsons die Bühne betrat, dann war ich still und lauschte Wagner.

Eigentlich hätte Alban Berg auf dem Spielplan gestanden, aber die Violinistin Baiba Skride musste leider pausieren. Deswegen gab es vor der geplanten 7. Sinfonie von Bruckner ein bisschen was von dem Komponisten, von dem Brucki Fanboy war. Zunächst hörten wir die Ouvertüre zum „Tannhäuser“, die ich sehr gerne mag und bei der ich ein bisschen feuchte Augen bekam, ich Memme. Hier eine Aufnahme der Münchner Philharmoniker unter der Leitung von Andrés Orozco-Estrada.

Wie schon die Wikipedia erwähnt, genau wie das gestrige Programmheft, musste Wagner für die Pariser Aufführung der Oper noch ein blödes Ballett schreiben, wie es damals angesagt war. Genau diese Musik wurde direkt hinter die Ouvertüre gesetzt – und ich verlor schlagartig das Interesse. Ich hatte Wagner noch nie konzertant gehört und merkte gestern erstmals sehr deutlich, dass seine Werke dafür auch nicht so recht geeignet sind. Dem restlichen Publikum ging es ähnlich, ich würde den Applaus als freundlich-lauwarm bezeichnen.

Nach der langen, langen Bruckner-Sinfonie gab’s ein bisschen mehr Enthusiasmus, aber ich ahne, dass alle irgendwie weichgekocht waren und nur nach Hause wollten. Zwei Verbeugungen, nicht mal das übliche Umdrehen des Orchesters zum Balkon, auf dem die Zuschauenden die Musiker*innen bisher nur von hinten gesehen hatten, das war’s. War mir auch recht, ich konnte nicht mehr sitzen. Keinen Drink danach, wir waren beide müde.

Das war nicht ganz so mein Abend, aber selbst bei den langweiligen Stellen dachte ich, vielleicht auch zur Selbstaufmunterung, dass das schon sehr toll ist, Livemusik hören zu können. Egal ob man sich jetzt beim Punkkonzert durchschwitzt oder hier stumm vor sich hingrübelt, es ist immer etwas Besonderes. Das war schön, trotz meines versteckten Gähnens so ab 21 Uhr.

Hier eine Aufnahme der Siebten mit dem HR-Sinfonieorchesters, immer gerne von mir verlinkt, unter der Leitung von Christoph Eschenbach, dauert eine Stunde und zehn Minuten. Auf YouTube gibt es auch eine Aufnahme mit Sergiu Celibidache, der die Berliner Philharmoniker knappe anderthalb Stunden spielen ließ.