Die Kaltmamsell reichte mir einen Fragebogen weiter, den ich sehr gerne annehme. Ich mag Fragebögen, immer her damit.
1. Welcher Körperteil schmerzt dich am häufigsten?
Meine linke Schulter. Vor zehn Jahren war es meine rechte. Ich bin von Arzt zu Ärztin gelaufen, wurde geröntgt, MRTet, bekam Krankengymnastik und Tabletten, obwohl niemand wusste, woher die Schmerzen kamen. (Weswegen ich die Tabletten auch nicht genommen habe. Pfft.) Irgendwann merkte ich, dass sie von alleine besser wurden, wenn ich flach auf dem Rücken liege oder ich im Sitzen die Schulter irgendwo nach hinten gegendrücken kann. Das habe ich jahrelang gemacht, bis die Schmerzen einfach irgendwann weg waren. Und sobald ich mich darüber freuen konnte, fing es links an. Keine Ahnung, warum, aber ich kann die Schulter ja immer irgendwo gegendrücken.
2. Welche Bewegung machst du am liebsten?
Ein Buch aufschlagen.
3. Welches ist dein Lieblingsfrühstück?
Zuhause, wie man gestern erst wieder sehen konnte, Cappuccino und Saft. Wenn ich außerhalb meiner Wohnung gegen Geld irgendwo frühstücke, was recht selten passiert, weil ich ja alles zuhause habe, was schmeckt, wird es meistens was mit Obst und viel Käse und einem riesigen Milchkaffee.
4. Zurückschlagen oder wegrennen?
Die klassische Antwort: kommt drauf an. Wenn’s nicht wichtig ist: wegrennen. Ich bin ein eher konfliktscheuer Mensch, ich kriege es nicht mal hin, Kellnern zu sagen, dass das Essen mies war. Wenn mir an einem Thema aber etwas liegt und ich kontra kriege, schlage ich immerhin verbal zurück. Vor körperlicher Gewalt habe ich hingegen große Angst, da würde ich vermutlich immer wegrennen. Ich musste es allerdings glücklicherweise noch nie ausprobieren.
5. Was siehst du gerade, wenn du deinen Kopf nach links wendest?
Den Rest meines L-förmigen weißen Sofas, auf dem ich rumlungere, wenn ich blogge, ein viersegmentiges weißes Expedit von Ikea, in dem viele Weinflaschen stehen, den unteren Teil des goldenen Rahmens von Luise und die weiße, geöffnete Tür zum Flur.
6. Duschen oder Vollbad?
Ich wohne seit Jahren in Wohnungen mit Badewanne, auf die ich immer Wert gelegt habe, bis mir irgendwann aufgefallen ist, dass ich vermutlich nur noch einmal im Jahr bade, wenn’s hochkommt. Als ich noch Golf gespielt habe, war es das Größte, nach der Runde erstmal die müden Knochen in ein heißes Bad zu tauchen. Aber seit ich das nicht mehr tue, ist die Badewanne eigentlich nur noch Deko. (Aber ich kaufe mir jetzt trotzdem endlich die Absolvente, das hab ich mir vor drei Jahren beim Studienbeginn versprochen.)
7. Wo sitzst du am liebsten in der Sonne?
Nirgends. Ich mag Sonne gerne aus der kühlen Sicherheit meiner Wohnung heraus. Und wenn ich schon raus muss, dann bitte nur in den Schatten; alles über 15 Grad empfinde ich als nervig, alles ab 25 als wirklich störend. Wie sagten Tokio Hotel vor Jahren mal bei einem Interview: „Wir sind mehr so Drinnies.“ Ich bin bei euch, Jungs.
8. Welches Kleidungsstück ist der kürzlichste Neuzugang in deinem Schrank?
Eine Winterjacke. Ich konnte meine schwarze nicht mehr sehen, deswegen habe ich jetzt eine in kermitgrün.
Die steht mir übrigens laut meiner Farbberatungskarte ü-ber-haupt nicht. Als Sommertyp soll ich bitte kräftige Farben vermeiden. Und die Länge ist auch nicht okay; laut den total wichtigen Hinweisen für dicke Frauen, wie sie sich bitte schmeichelhaft kleiden sollen (vulgo: „Bitte verhüllen Sie sich weiträumig, damit Idioten die Konturen Ihres Körpers nicht ertragen müssen“), soll ich Jacken tragen, die über meinen Hintern rübergehen. Dann sieht quasi niemand mehr, wieviel Po darunter ist. (Ist klar.) Ich habe aber meist keine Lust, Jacken zu tragen, die ich beim Radfahren hochschieben oder auf die ich mich draufsetzen muss, also trage ich eine Jacke, die meinen Hintern nicht ganz bedeckt. IN EINER KRÄFTIGEN FARBE! Ich müsste mich also eigentlich ganz fürchterlich fühlen, aber stattdessen fühle ich mich ganz wundervoll so als dicker Wollfrosch.
9. Was entspannt dich mehr: Musik oder Stille?
Stille. Musik höre ich fast nur noch als Hintergrund beim Putzen oder Kochen und da ist es die Gute-Laune-Playlist. Ich bin generell eine Freundin der Stille.
10. In welcher Sportart wärst du gerne richtig gut?
Kendo, weil’s supercool aussieht.
11. An welchen Urlaub erinnerst du dich am liebsten zurück?
Ich erinnere mich gerne an die Studienreise nach China zurück, weil ich da zum ersten Mal kapiert habe, was ein anderer Kulturkreis Kulturraum ist und die Welt ganz anders sein kann als meine kleine deutsche Blase. Und an die Studienreise nach Rom, denn die hat mir den letzten Kick gegeben, Kunstgeschichte studieren zu wollen. Auch wenn ich jetzt die betreffenden Blogeinträge kaum noch ertragen kann, weil sie eben kunstgeschichtlich unglaublich naiv und unwissend sind.
Wie immer am 12. des Monats: zwölf Bilder vom Tag. Alle anderen gibt’s bei Draußen nur Kännchen.
Das erste, was ich sehe, wenn ich aufwache: Luise. Sehr schemenhaft, zugegeben. Ich bin schon gespannt darauf, wie der Blick im Sommer sein wird, wenn es morgens im Zimmer heller ist.
Immer noch leicht körnig, weil das Licht immer noch düster ist: mein Frühstück. Heute eher ein Flat White statt des üblichen Cappuccinos – der Milchaufschäumer war anscheinend noch nicht ganz wach.
Ich hatte am Montag Serverprobleme, weswegen ich meinen langen Blogeintrag über meinen kurzen Parisbesuch nicht in der WordPress-Maske tippen konnte. Aber rumsitzen wollte ich natürlich auch nicht, also schrieb ich ihn vorgestern erstmal ohne Links und Bilder in ein Word-Dokument.
Aus dem dann nur gut eine Stunde später ein schöner Blogeintrag wurde.
Eigentlich wollte ich gestern erst in die Stabi und dann ins Zentralinstitut für Kunstgeschichte. So sehr ich letzteres liebe – manchmal hat die Stabi dann doch einen Katalog oder ein Buch, das dort nicht steht. So wie jetzt gerade, wo ich in der Stabi die englische Ausgabe einer Dissertation über Kiefer und seine Bilder zu Celans Todesfuge lese anstatt die französische im ZI. Draußen vor dem Fenster mischten sich aber Regen und Schnee, weswegen ich zuhause weitertippte, wo auch genug Bücher lagen, aus denen ich mich bedienen konnte. Mit einem Ausblick auf neue Tulpen und einem kleinen Snack an meiner Seite.
In meiner Hausarbeit wollte ich Närrin ja alle Bilder aufzählen, in denen Kiefer auf Wagner rekurriert, und sie neu besprechen, weil mir die bisherige Forschung zu dem Thema zu wischiwaschi ist. Während des Referats kamen mir so fünf, sechs Bilder unter und ich dachte launig, ach, das wird gehen. Es gibt leider kein Werkverzeichnis von Kiefer, weswegen ich die Zeit vor und nach dem Jahreswechsel damit zubrachte, alle Kataloge durchzublättern, die im ZI stehen. Inzwischen bin ich bei 23 Werken mit eindeutigem und zehn Werken mit nicht-eindeutigem Wagner-Bezug – und ich habe noch nicht mal alle Kataloge durch geschweige denn die Datenbanken aller Museen dieser Welt angeklickt (das mache ich dann auch erst bei der Dissertation).
Dementsprechend sieht meine Hausarbeit aus, die bisher nur aus der Einleitung, dem Forschungsstand und den blanken Daten zu den Bildern besteht. Ich habe gestern angefangen, diese wenigstens rudimentär zu beschreiben; also nicht in allen Einzelheiten (es gibt ja auch ein Abbildungsverzeichnis), aber wenn ich schon über Wagner-Bezüge rede, dann möchte ich wenigstens genau die möglichst präzise erläutern. Also: Was soll der Speer bei Parsifal I, wieso ist Siegfried’s Difficult Way to Brünhilde eindeutig Wagner und nicht Nibelungenlied und so weiter.
Blöderweise frisst das mehr Zeichen als ich dachte. Ich darf – extra noch mal nachgeguckt – 50.000 Zeichen inklusive wissenschaftlichem Apparat schreiben. Nach meiner gestrigen Arbeit bin ich bei 43.000 und ich habe mit meiner These (Wagner bei Kiefer ist ein Hinweis auf das Familiäre und nicht den großen, anonymen NS-Staat) noch nicht mal angefangen geschweige denn alle Bilder beschrieben. Daher überlege ich jetzt ernsthaft, diese Arbeit nicht als reguläre Hausarbeit, sondern als meine Forschungsarbeit zu nehmen, die eigentlich erst im 3. Mastersemester vorgesehen ist und 70.000 Zeichen umfassen darf. Das werde ich dringend mit meiner Dozentin besprechen müssen. Ich weiß ja inzwischen, dass ich mich in jedes Thema reinfresse und bei jedem Thema irgendwann denke, daraus kann man viel mehr machen, aber dieses Mal fühlt sich das wirklich nach Forschung und einer neuen Sichtweise auf ein Werk an, während ich im Bachelor doch gefühlt nur Zeug aus der Sekundärliteratur zusammengetragen und neu interpretiert habe. Die Arbeit, die ich jetzt gerade leiste – ein auszugsweises, thematisches Werkverzeichnis – habe ich so aber noch nicht vorgefunden. Hm. Anke: Sprechstundentermin machen statt weitergrübeln. Heute.
Bis dahin jammere ich noch darüber, dass ich keinen Platz mehr auf meinem Schreibtisch habe.
Und dass in jedem Buch andere Maße für die gleichen Bilder stehen, was mich wahnsinnig macht.
Gegen 17 Uhr gab’s dann Mittag. Ich gönnte mir zwei Folgen Grace and Frankie auf Netflix, bevor ich mich für die Abendveranstaltung aufhübschte: eine Buchpräsentation in den Kammerspielen. Genauer gesagt, eine Präsentation dieses Werks:
Netterweise gab es die Möglichkeit, das Werk in den Kammerspielen zu erwerben, was F. für mich erledigte, während ich noch unterwegs war. Gut, dass ich den ollen Rucksack aufgesetzt hatte anstatt das damenhafte Handtäschchen zu nehmen, denn die beiden Bücher wiegen fast fünf Kilo und sind riesengroß.
Die Präsentation begann mit zwei kurzen Vorträgen: Was soll das eigentlich, wer hat damals Mein Kampf gelesen, wer sollte es heute noch lesen usw. Dann trug eine Schauspielerin der Kammerspiele Passagen des Originaltextes vor, die dann von den vier anwesenden Editoren Christian Hartmann, Thomas Vordermayer, Othmar Plöckinger und Roman Töppel zerpflückt wurde. Man bekam einen guten Eindruck davon, wie die letzten Jahre der Arbeit an dem Buch verlaufen waren, dass quasi jeder Satz angeguckt, überprüft und notfalls kommentiert wurde. Die Ausführungen waren allesamt sehr lehrreich und so komisch das klingt: Ich freue mich darauf, in der Edition lesen zu können.
Bemerkenswert fand ich die Einleitung von Christian Hartmann, dem Leiter des Projekts, der klarstellte, dass man mit einer gewissen Haltung an die Sache gegangen wäre, um die, halbwegs O-Ton, „Lügen, Verfälschungen und Andeutungen Hitlers“ zu korrigieren. Er meinte, man könne diesem Buch nicht neutral gegenüberstehen. Ich erinnerte mich an die ersten Amazon-Rezensionen, die genau das beklagt hatten: dass man eben die Haltung spürt, mit der jemand an den Originaltext gegangen ist und diesen, jetzt aber O-Ton Hartmanns, „umzingelt“ hat mit seinen Anmerkungen. Dann scheint der Plan ja funktioniert zu haben.
Zuhause wollte ich dann aber doch nicht mehr in der Edition lesen – sie ist in ihrem Format leider sehr bettunfreundlich – und las daher weiter Patricia Highsmiths The Price of Salt, or Carol. (Den Film habe ich nicht durchgehalten, die Geschichte interessiert mich aber.)
Seit Anfang Oktober beschäftige ich mich intensiv und fast ausschließlich mit Kiefer, vor allem mit seinem Frühwerk. Die Hausarbeit ist zu einem Drittel geschrieben, der Rest ist noch im Kopf und muss nur noch aufs Papier (haha), auf meinem Schreibtisch stapeln sich Bücher zu Kiefer, und im Zentralinstitut für Kunstgeschichte steht mein Handapparat aus Ausstellungskatalogen. Als ich im Dezember erfuhr, dass bis April eine Retrospektive von Kiefer im Centre Pompidou läuft, zierte ich mich noch ein wenig, aber als ich im ZI den Ausstellungskatalog in der Hand hatte und sah, wieviele Bilder ich dort sehen könnte, über die ich seit Monaten nachdenke, buchte ich ein Ticket. Am Samstag war es dann soweit; ich stand um vier Uhr morgens auf, um den 7.15-Flug nach Paris zu kriegen, dort ins Museum zu gehen und abends wieder zurückzufliegen. (Keine Zeit und kein Geld für mehr.)
Ich landete um 9 in Paris; das Centre Pompidou öffnet allerdings erst um 11. Ich wusste, dass der Flughafen Charles de Gaulle ein riesiges Monster ist, und ich hatte keine Ahnung, wo die RER-Gleise waren, von denen mich ein Zug bis nach Châtelet-Les Halles bringen sollte, damit ich von dort zu Fuß zum Centre Pompidou laufen könnte. Daher hatte ich mir nur locker ein kleines Touri-Programm überlegt, falls ich tatsächlich noch Zeit hätte. Das Monster war allerdings überraschend gut ausgeschildert, ich fand sofort die Ticketautomaten, erwischte den richtigen Zug und war laut Swarm-Check-in um 10 nach 10 mitten in Paris.
Wer in Les Halles das Wort sortie nicht kennt, wird vermutlich dort unten verenden. Ich suchte nach dem Ausgang zur Rue de Rivoli, fand ihn manchmal, verlor die Richtung dann wieder und dachte schließlich, Schnickschnack, ich nehme jetzt die nächste Treppe nach oben und zücke Google Maps. Denn die 50 Minuten, bis ich theoretisch am Centre Pompidou sein müsste, wollte ich erstmal am Louvre investieren. Am, nicht im, das war zeitlich nicht drin (leider), aber ich wollte mir auch nur eine einzige Wand angucken: die Ostfassade.
Die Kunstgeschichte ist bis heute traurig darüber, dass nicht Bernini diesen Teil des Louvres umbauen durfte, denn seine Entwürfe wären einen Hauch schwungvoller geworden als das, was da jetzt seit 1674 steht. Ich habe im Bachelor, glaube ich, drei Dozenten gehabt, die sich in drei unterschiedlichen Vorlesungen oder Seminaren über diese Fassade beschwerten, und jetzt, wo ich sie gesehen habe, kann ich das nachvollziehen. Man steht vor einem ewig langen Block, und das Auge kann sich nirgends richtig festhalten. Ein Mittelrisalit und zwei Eckrisalite gliedern die lange Kolonnadenreihe zu wenig, um wirklich Abwechslung zu erzeugen. Die Doppelsäulen betonen die Aneinanderreihung von einer Achse nach der nächsten sogar noch anstatt sie zu unterbrechen. Das Ganze wirkt sehr massiv, es fehlt die Leichtigkeit von Bernini oder auch die des französischen Schlossbaus, der durchaus gezeigt hat, wie man lange Fronten spannender gestalten kann, zum Beispiel die Gartenseite von Versailles, die kurz vor der Louvre-Umgestaltung entstand.
Ich verbrachte trotzdem ein Viertelstündchen damit, die Fassade abzugehen – und entdeckte überrascht, dass hinter ihr irgendwann der Eiffelturm hervorlugt. Mir fehlt für Paris jeglicher Orientierungssinn, ich weiß nie, von wo man den schnuffigen Turm sieht. Aber jetzt, wo ich ihn gesehen hatte, dachte ich, machste doch noch schnell das übliche Tourifoto von der Pont Neuf.
Die Louvre-Fassade war mein einziger geplanter Bonustrip zum Centre Pompidou; ich hatte locker im Hinterkopf, dass, wenn ich früh genug mit Kiefer fertig wäre, ich noch zur Notre Dame schlendern könnte. In der war ich zwar schon zweimal, aber Kathedralen kann man sich ja immer wieder angucken. Und nun stand ich auf der Brücke, guckte zum Eiffelturm, drehte mich um, um in Richtung Centre Pompidou zu gehen – und sah natürlich schon die Türme der Notre Dame. Das wäre jetzt ja quasi albern, erst zu Kiefer zu gehen und dann nochmal hierhier, also schlenderte ich über die nächste Brücke auf die Île de la Cité, am Justizpalast vorbei, wo sich die ersten Tourigruppen sammelten – es war sehr leer in Paris, was mich etwas wunderte, so kannte ich die Stadt überhaupt nicht –, bis ich wenige Minuten später vor der Kirche stand.
Was mir neben der ungewohnte Leere noch auffiel: sehr viele Menschen in Tarnkleidung mit Maschinenpistolen, selten allein, meist gleich mindestens zu fünft. Vor Notre Dame mischten sie sich aufmerksam zwischen die Touris, später sah ich sie vor dem Rathaus in noch größerer Anzahl, und sogar vor dem Centre Pompidou, dort allerdings eher vereinzelt. Bevor ich in Notre Dame eintreten durfte, musste ich meinen Rucksack öffnen – ich bin mir allerdings unsicher, ob das vor den Attentaten nicht auch schon so war, genau wie im fnac Les Halles, wo ich später am Tag noch einen Comic kaufte. Vor dem Centre Pompidou gab es längere Schlangen, weil man auch hier die Taschen öffnen und durch einen Metalldetektor gehen musste.
Aber noch stand ich vor Notre Dame und guckte mir entspannt die Fassade an. Ich mag die Königsgalerie so gerne, die die Fassade horizontal teilt und die Portalzone deutlich von Fensterzone und Türmen trennt. Auch an Tympana kann ich nie vorbeigehen, ganz gleich an welcher Kirche sie sich befinden. Ich freue mich immer über die raffinierten Gestalten, vor allem, wenn sie nicht die üblichen weihevollen Jünger und Apostel sind, sondern wie hier Fratzen und Ungeheuer.
Drinnen war es wie immer: zu laut. Ich glaube, es kommen stets mehr Schilder hinzu, die Menschen darauf hinweisen, dass das hier eine Kirche ist, also Fresse, aber das bringt nie was. Ich mag das Innere von Notre Dame eh nicht so richtig gerne, freute mich aber wie immer an den Fensterrosen, wobei mir dieses Mal die beiden im Querschiff sogar besser gefielen als die große Rose an der Hauptfassade. Und ich genoss, wie immer in gotischen Kirchen, den Chorumgang, weil ich halt so gerne hinter dem Hauptaltarraum rumlaufe. Das kennt man aus modernen Kirchen ja nicht, dass nach dem Altar noch was kommt außer einer Wand. In den gotischen Kirchen befinden sich hier aber diverse kleine Kapellen, in denen gerne Reliquien lagen, und der Chorumgang war für die ganzen Pilger da, die sich die Reliquien auf ihrer Reise anschauen wollten. Damit die Jungs (Pilgern war eine fast ausschließlich männliche Angelegenheit) nicht das ganze Mittelschiff vollstanden, schuf die Gotik halt Platz für sie und steuerte sie um den Altarraum herum, auf einer Seite rein, weitergehen, nicht stehenbleiben, auf der anderen Seite raus. Klappt heute noch genauso. Theoretisch. Praktisch steht natürlich immer jemand mit Selfiestick im Weg.
Ich blieb nicht lange in der Kirche, setzte mich nur kurz ins Mittelschiff, um mich zu freuen, dass ich in Paris sein kann und ging dann weiter ins Centre Pompidou. Zu Kiefer. (OMG!)
Mir diese Ausstellung anzuschauen, war ein sehr ungewohntes Erlebnis. Normalerweise gehe ich fürchterlich emotional in Museen. Gerade wenn ich endlich ein Bild oder eine Skulptur sehe, die ich vorher oft in Büchern gesehen habe, stehe ich gerne mal wackelig vor dem Werk und schlucke Tränchen runter. Das ging mir bei Kiefer überhaupt nicht so, obwohl ich mir sein Œuvre durchaus auch emotional erschlossen habe. Stattdessen erwischte ich mich, quasi durchgehend zustimmend zu nicken, ja, schöne Hängung, bisschen wenig Platz, aber gut, so ist das Museum eben, können ja nicht alle so riesig sein wie die Pinakothek der Moderne, weiternicken, gucken, ja, kenne ich, aha, so sieht das also in echt aus, so hatte ich mir das auch vorgestellt, aha, aha.
Ich weiß nicht, ob es an meiner wirklich gründlichen Vorbereitung lag, daran, dass ich eben seit Monaten über Kiefers Werk brüte und so ziemlich alle Bilder kannte, die an den Wänden hingen und sie mich deswegen auf den ersten Blick nicht mehr überraschen konnten, oder ob schlicht meine gebündelte Konzentration überwog, weil ich wusste, ich bin nur heute hier, in zwei Stunden kann ich eh nix mehr sehen, also streng dich an. Das fühlte sich eher nach Arbeit an als nach einem entspannten Museumsbesuch, aber: Es war großartig. So fühlt man sich also als Kunsthistorikerin. Aha, aha.
Die Ausstellung war halbwegs chronologisch geordnet, aber gleichzeitig – sehr schlau – nach Themen. Im Pressedossier des Centre Pompidou, das ich peinlicherweise nicht mehr auf der Website wiederfinde, ist ein praktischer Plan abgebildet, in dem die Räume beschrieben sind. Den ersten Raum, Rhétorique de guerre, nahm ich mit, weil das mit Kiefers älteste Werke waren, die also in die Zeit fallen, mit der ich mich in der Hausarbeit beschäftige. Hier besah ich mir eher seine Maltechnik als die Motive – die kannte ich ja auch alle – und die Farben, weil man bei denen in keinem Katalog sicher sein kann, ob sie auch wirklich denen auf der Leinwand entsprechen. Hier fand ich auch Maikäfer flieg (1974), das den Titel des Katalogs ziert und bei dem mich die dicken Farbschichten faszinierten, die durchbrochen waren von völliger Abwesenheit von Farbe. Das hängt übrigens sonst im Hamburger Bahnhof in Berlin, einfach mal vorbeischauen.
Durch den Raum mit Papierarbeiten ging ich recht schnell; ich war wegen der Gemälde hier. Eins meiner liebsten fand ich dann auch schon im dritten Raum, in dem Landschaftsbilder hingen, darunter Siegfried vergißt Brünhilde (1975), das sonst in Duisburg im MKM hängt. Gerade bei diesem Bild bin ich froh, dass ich es endlich im Original gesehen habe, denn in den meisten Abbildungen kam es mir sehr rosig vor – jetzt weiß ich, dass diese Version (es gibt mehrere, siehe meine gestrigeNölerei bei Twitter) eher grünlich schimmert, fast unwirklich und wie ein Unterwassersee aussieht anstatt wie ein oberirdischer Acker im Tageslicht.
Im vierten Raum, Mythes germaniques, hing Varus (1976), über das ich schon im Referat gesprochen hatte und das ich sehr gerne mag. Das hatte ich mir immer größer vorgestellt als es ist; 200 x 270 cm ist nicht gerade winzig, aber im Vergleich zu den Werken aus dem nächsten Raum – Une histoire allemande – dann doch fast kleinformatig. Eben dieser Raum war der, für den ich nach Paris geflogen bin. Hier hingen Parsifal III (1973) und Notung (1973) und ich blieb sehr lange bei ihnen. (Wobei ich glaube, dass das Bild eher Parsifal I ist; die Nummerierung geht in allen Katalogen lustig durcheinander. Das Bild mit dem Speer ist der Mittelteil des Triptychons Parsifal III, I, IV, daher tippe ich auf die I.)
Endlich konnte ich mich mit der Größe der Bilder konfrontieren anstatt sie auf höchstens 30 Zentimeter Breite in einem Buch abgedruckt zu sehen, ich konnte die gemalte Maserung des hölzernen Dachbodens mit den Augen verfolgen und gucken, was der gemalte Raum mit mir macht. Auch hier bemerkte ich das Fehlen jeglicher Emotionalität, es blieb bei der faszinierten und begeisterten Konzentration und einem sehr positiven Schub für die Hausarbeit. Außerdem fand hier ein Ereignis statt, das eine meiner Theorien ganz wunderbar bestätigte, das ich aber trotzdem nicht in die Arbeit schreiben werden kann, weil es ganz und gar unwissenschaftlich ist.
Mein Zugang zu Notung und dem Wagner-Bezug im Bild ist nicht der übliche „Wagner ist Hitlers Lieblingskomponist und damit sind die Bilder ein grobschlächtiger Hinweis auf den NS-Staat“. Stattdessen glaube ich, dass Wagner für etwas anderes steht – er ist für mich ein Hinweis auf die enge Bindung, die Hitler zur Familie Wagner in Bayreuth pflegte. Die Bilder mit Wagner-Bezug zeigen für mich intimere Szenen als andere Kiefer-Bilder, wo er weite Landschaften abbildet, Stammbäume mit deutscher Geschichte, NS-Architektur usw. – der große Bogen zum Nationalsozialismus. In den Wagner-Bildern geht er für mich vom großen Ganzen und dem übermächtigen Staat weg in die kleine Keimzelle der Familie, die durch ihr Mitwirken eben auch für das Funktionieren des NS-Staats gesorgt hat und die jetzt, nach 1945, eisern dazu schweigt, um das Wirtschaftswunder durchzuziehen. Das ist für mich eine andere Ebene als die der großen Politik. Mir kam das Schwert im Bild auch nie wie eine Waffe vor, sondern wie ein Kinderspielzeug. Und als ich Samstag vor dem Bild stand, rannte plötzlich ein kleiner Junge direkt auf das Bild zu und hatte die Hände schon nach dem Spielzeugschwert ausgestreckt, als sein Vater ihn noch kurz vor dem Absperrseil schnappen und festhalten konnte. Aha, aha.
Eigentlich war damit schon alles erfahren, was ich haben wollte, als ich den Parisflug gebucht hatte. Aber ein Raum wartete noch auf mich, der mich dann doch ein bisschen emotional werden ließ.
Im Raum La valeur des ruines hingen mehrere Werke aus der Bilderserie Kiefers, in der er NS-Architektur gemalt hatte, Speer, Troost, die ganze Bande. Auf ein Bild – Dem unbekannten Maler (1983) – hatte er einzelne Strohhalme geklebt, was ich nie so recht verstanden hatte. Aber jetzt, als ich vor dem Bild stand, war auf einmal alles klar: Die Halme fielen nach und nach vom Bild ab, an einigen Stellen war nur noch die Leinwand zu sehen – so wie die abgebildete Architektur in unseren Städten nicht mehr zu sehen ist, weil sie nach 1945 nach und nach vernichtet oder verbaut wurde, aus den Augen, aus dem Sinn.
In diesem Raum hingen noch zwei weitere großformatige Bilder, für die sich die Fahrt alleine gelohnt hätte: Margarete und Sulamith, beide von 1981. In ihnen verarbeitet Kiefer Paul Celans Todesfuge: Margaretes goldenes Haar wird von Stroh dargestellt, Sulamiths aschenes bekommen wir nicht mehr zu sehen; stattdessen stehen wir vor dem Bild eines Gebäudes, das einer Soldatenhalle von Wilhelm Kreis von 1939 nachempfunden ist, das aber an einen Ofen erinnert (kann man im Link unter Sulamith sehen). Die Bilder hingen direkt nebeneinander, und vor ihnen standen gefühlt weitaus mehr Menschen als vor allen anderen Werken. Vielleicht weil sie, im Gegensatz zu vielen anderen Bildern Kiefers, so simpel und eindrücklich funktionieren.
In dem Moment, in dem ich vor diesen Bildern stand, twitterte ich: „Verstehe zum ersten Mal die Wucht der Materialität von Kiefer“ und „Arschfrühes Aufstehen, teurer Flug – alles egal, alles richtig gemacht.“ Und mit genau diesem Gefühl bin ich dann auch durch den Rest der Ausstellung gegangen, die mir für meine Hausarbeit nichts mehr brachte, weil die Bilder und Skulpturen zu neu und anderen Themen zugeordnet waren, aber sie gaben mir einen hervorragenden Gesamteindruck mit. Ich kann jede Kritik verstehen, die Kiefer seit 40 Jahren zu hören kriegt – esoterischer Quatsch –, ich weiß nun aber ganz genau, warum mich diese Bilder so faszinieren. Sie haben mich schon als kleines Foto in dutzenden von Büchern begeistert und sie tun es erst recht, wenn ich vor ihnen stehe. Ihre Größe, ihre Haptik, ihre nachvollziehbaren, lesbaren Spuren, überhaupt Spuren, nicht einfach nur Farbe auf Leinwand, sondern ein Landkarte meines eigenen Landes und seiner Vergangenheit, das Empfinden, hier Wahrheiten zu sehen und kein vages Kunstwollen sowie das Gefühl, schon viel gewusst zu haben, es aber es jetzt erst richtig verstehen zu können – all das nehme ich mit. Merci, Monsieur. Merci, Paris.
Kracherrezept, ich weiß. Aber ganz ehrlich: Jede Ente à l’orange kann einpacken, wenn ich eine Schüssel Pudding vor der Nase habe. Das Buch, aus dem ich das Rezept habe – natürlich Deutschland vegetarisch –, sagt mir zwar, dass gekochte Süßspeisen aus Milch und Stärke Flammeri heißen, während ein Pudding eigentlich eine im Wasserbad gegarte Speise ist, aber das weiß außer dem Buch vermutlich niemand.
Okay, jetzt weiß ich’s.
Mpf.
PUDDING! Menno.
Kracherzubereitung, dauert fünf Minuten plus Kühlzeit und schmeckt grandios. Noch besser mit Vanillesauce, Obst, gesüßter Sahne, was weiß ich. Ich esse Pudding allerdings ohne alles.
In einem Topf
400 ml Milch,
100 ml Sahne,
100 g Zartbitterschokolade, fein gehackt (bei mir Kuvertüretröpfchen),
40 g Zucker,
10 g dunkles Kakaopulver (also kein Kaba oder sowas),
35 g Speisestärke und
1 Prise Salz (vergesse ich immer, ist egal)
unter ständigem Rühren mit einem Schneebesen aufkochen. Das ständige Rühren ist erstens wichtig, weil sich das dunkle Kakaopulver, die Stärkeklümpchen und der Zucker so anständig auflösen, und zweitens, weil die wunderbare Flüssigkeit beim Heißwerden ganz plötzlich zu einer wunderbaren Schlotzmasse wird. Den Zeitpunkt sollte man nicht verpassen, sonst brennt alles an. Sobald die Schlotzmasse kocht, weiterrühren und noch eine Minute kochen lassen (ich mache dabei immer schon die Herdplatte aus) und dann in Gläser oder eine Schüssel umfüllen und auskühlen lassen. Wie man auf dem Bild erkennt, bekommt der Kram eine herrliche Haut, was sowieso das beste am Pudding ist.
Kracher-PS: Für Vanillepudding Schokolade und Kakao weglassen und stattdessen das Mark einer Vanilleschote, drei Eigelb und 80 g Zucker nehmen.
Vormittags noch rumgedöst, gelesen, gebloggt, weiter auskuriert. Nachmittags handfeste Nahrung statt Suppe zu mir genommen. Am späten Nachmittag den Hummeln im Hintern bzw. in den Fingern nachgegeben und mich nach fünf Tagen Pause wieder an den Schreibtisch gesetzt und weiter an der Kiefer-Hausarbeit geschrieben. Gut vorangekommen. Nebenbei Nachschub an Schokoladenpudding gekocht because I can. Guter Tag.
Ein Bekannter kam vorbei und räumte mir so gut wie alle Umzugskartons aus meinem winzigen Kellerabteil, so dass dieses jetzt wieder benutzbar ist. Vorher musste man erstmal Zeug rausräumen, um überhaupt eintreten zu können. 40 Kartons nehmen doch ganz schön Platz weg, aber der gehört jetzt wieder mir. Und wenn mein Kreislauf nicht mehr nach einer Treppe und fünf-Kartons-Tragen anfängt memmig zu werden, werde ich auch endlich Kram aus meiner Abstellkammer in der Wohnung in einige der noch übriggebliebenen Kartons packen und sie im Keller stapeln, wie sich das gehört.
—
Essen.
Nachdem ich mich drei Tage lang von Weintrauben, Schokoladenpudding und Caear Salad ernährt habe (Knoblauchcroutons kann ich auch an der Schwelle zum Exitus zubereiten und ja, ich habe für Notfälle wie Erkältungen ein Fertigdressing im Haus, jetzt isses raus), konnte ich gestern endlich mal wieder was kochen. Heißt: Ich kann schon wieder 30 Minuten am Stück irgendwo rumstehen und Gemüse schnippeln und ich kann wieder mehr schmecken.
Gestern ist es eine Kokosmöhrensuppe geworden. Ich hatte leider keine rote Currypaste mehr im Haus, von der ich sonst einen Klecks in die Suppe gebe; stattdessen warf ich aus dem Handgelenk Kurkuma, gemahlenen Koriander, gemahlenen Kreuzkümmel und Currypulver darüber. War auch okay. Als Deko gab’s Petersilie statt Koriander (hatte ich auch nicht, und gestern war in Bayern ja Feiertag, was den Nachschub stark erschwerte), Mandelblättchen, Sesam und dunkles Sesamöl. Ich sollte überhaupt mehr dunkles Sesamöl an Dinge klecksen, das war sehr lecker.
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Lesen.
Ich kann mich wieder besser konzentrieren, weswegen ich gestern nicht weiter vor Pastewka vor mich hindöste, sondern mal wieder ein Buch in die Hand nahm. Ich lese immer noch Mythos Trümmerfrauen, und gestern stieß ich auf eine Passage, die für mich als Kunsthistorikerin interessant war. (Der folgende Text lehnt sich stark an Trebers Buch an, vor allem an die Seiten 280–343.)
Es gibt in Berlin auf beiden Seiten der ehemaligen Mauer Statuen für Trümmerfrauen bzw. Aufbauhelferinnen. Die beiden Skulpturen sehen sehr unterschiedlich aus, was auch mit dem unterschiedlichen Frauenbild in den beiden neu entstehenden deutschen Staaten zu tun hat.
Hier die Aufbauhelferin von Fritz Cremer (den ich inzwischen netterweise aus unserem Ost-West-Dialoge-Seminar kenne), 1954, Rathausstraße vor dem Roten Rathaus:
Seit Ende des Krieges war in Ost-Berlin und der SBZ/DDR die Aufbauhelferin medial repräsentiert. Die Berichterstattung über ihre Arbeit diente allerdings nicht dazu, ein objektives Bild von ihr zu zeichnen, sondern das negative Image der Trümmerräumung umzudeuten. Trümmerräumung war, wenn es nicht von Maschinen erledigt wurde, zunächst von ehemaligen Parteigenoss*innen, dann von Arbeitslosen übernommen worden und galt als Straf- oder Sühnearbeit. Auch waren Männer grundsätzlich in der Mehrheit; Frauen arbeiteten sehr selten im Baugewerbe (im NS-Staat war ihnen dieses untersagt gewesen), und wenn sie es jetzt, nach 1945, taten, dann aus purer Not, um ihre Essensrationen aufzustocken und nicht aus freudigem Aufbauwillen. In der SBZ wurde nun aber genau diese Tätigkeit als Folie für das neue sozialistische Frauenbild genutzt: Die Trümmerfrau wurde zu einer Vorreiterin der Gleichberechtigung.
Der Staat folgte hier alten Forderungen der proletarischen Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts, allen voran Clara Zetkin, die schon damals das Recht der Frau auf außerhäusliche Erwerbsarbeit als eine wesentliche Voraussetzung für die Emanzipation der Frau angesehen hatte. Die sowjetische Militärregierung hatte bereits 1946 mit dem Befehl 253 gleichen Lohn für gleiche Arbeit festgelegt, der unverändert in die DDR-Verfassung übernommen wurde; weiterhin wurden alle Gesetze, die der Gleichberechtigung der Frau in Ehe und Familie entgegenstanden, aufgehoben (im Gegensatz zur Bundesrepublik, die beispielsweise 1952 die Aufhebung des Verbots der Frauenarbeit auf dem Bau wieder rückgängig machte, so dass dort weiterhin die Regelung von 1938 galt).
Die Praxis konnte mit der sozialistischen und gleichberechtigten Theorie allerdings nicht mithalten, denn das neue Frauenbild und die vollständige Integration der Frau ins Berufsleben traf auf die Beibehaltung der männlichen Vormachtsstellung und deren Privilegien. Trotzdem galt gerade die Trümmerfrau (die nach und nach als „Aufbauhelferin“ bezeichnet wurde) als Vorbild für alle Frauen, die nun einen vielleicht ungewohnten, sogenannten Männerberuf erlernen wollten. Trümmerräumen sollte nicht mehr als Strafarbeit oder als Arbeit aus der Not angesehen werden, sondern als emanzipatorischer Akt. Und so sieht die Skulptur dann auch aus: eine junge, tatkräftige Frau in Arbeitshosen, die in schweren Stiefeln steckt, schultert eine Schaufel. Ihr linker Fuß berührt nur noch knapp die Platte, auf der Skulptur steht, sie scheint im Vorwärtsdrang abgebildet worden zu sein.
Ganz anders das Bild, das in West-Berlin von der Trümmerfrau gezeichnet wurde. Die Plastik stammt von Katharina Szelinski-Singer und wurde 1955 auf der Rixdorfer Höhe im Volkspark Hasenheide aufgestellt.
(Die Bildquelle ist ein Artikel von Leonie Treber, die das Buch Mythos Trümmerfrauen verfasst hat. Gleich mal ne Leseempfehlung. Das Foto stammt von Dietmar Treber.)
Die Figur der Trümmerfrau hatte in den westlichen Medien kaum Wiederhall gefunden; bis auf West-Berlin war sie kaum repräsentiert. In der öffentlichen Meinung hatte sich die Trümmerfrau als Phänomen von Ost-Berlin bzw. der SBZ herausgebildet. Die Politik tat ein Übriges, um die Leistung der Frauen in einem anderen Licht erscheinen zu lassen: Sie sah die dort arbeitende Frau als ein Beispiel für die Ausbeutung des weiblichen Geschlechts. Das bundesrepublikanische Frauenbild knüpfte fast nahtlos an das des NS-Staates an: Die Vormachtsstellung des Mannes wurde nicht in Frage gestellt, die Festlegung der Frau auf die Mutter- und Hausfrauenrolle als „natürliche Anlage“ ihres Geschlechts beschrieben. Die Gleichberechtigung war zwar im Grundgesetz festgeschrieben, aber anders als in der DDR, wo alle bestehenden Gesetze, die diesem Grundsatz widersprachen, einfach gestrichen wurden, wurde in der Bundesrepublik um jede Änderung gerungen.
Auch aus finanziellen Gründen waren Frauen aber, wie ihre Schwestern in der DDR, außerhäusig berufstätig; 1960 stellten sie bereits 33,4 Prozent aller Erwerbstätigen. Das heißt jedoch nicht, dass ihre Berufstätigkeit gesellschaftlich anerkannt war: „Geduldet wurde die Berufstätigkeit unverheirateter Frauen oder verheirateter Frauen, solange die finanzielle Situation dies erforderte. Kategorisch abgelehnt wurde hingegen die dauerhafte Berufstätigkeit der Frau über die wirtschaftliche Notlage hinaus und vor allem die der Mutter.“ (S. 314)
Die Trümmerfrauen-Skulptur in West-Berlin sieht dementsprechend aus: Eine ältere, müde gearbeitete Frau im langen Rock legt zur einer kurzen Pause ihre Hände in den Schoß; in einer Hand hält sie einen Hammer, was für mich neben der Haltung der beiden Figuren (sitzend vs. stehend) fast einen noch größeren Unterschied im Abbild macht. Eine geschulterte Schaufel erweckt den Eindruck einer tatkräftigen Aktion, man sieht die Dame fast vor sich, wie sie sich kraftvoll den Steinmassen nähert, während der Hammer nur an das Putzabklopfen der Ziegel erinnert, eine kleine, leise, fast bürokratische Geste. Außerdem sieht die Figur wie ein Abbild der Vergangenheit aus, während die Aufbauhelferin eindeutig den Weg in die Zukunft antritt. Zusätzlich ist der Standort der Plastik wichtig: Während die Westberliner Trümmerfrau zwar am Ort ihres Wirkens abgebildet wurde (die Rixdorfer Höhe entstand auf einem Schuttberg), bleibt sie doch eher außerhalb der Sicht – im Gegensatz zur Ostberliner Aufbauhelferin, die stolz direkt vor dem Rathaus in der Stadtmitte steht.
Freitag und Samstag war ich noch fit, obwohl ich Samstag am Schreibtisch bemerkte, dass mein Hals langsam zu kratzen begann. Frohgemut kippte ich mehrere Kannen Tee aufs Kratzen und hoffte darauf, gesund zu bleiben, denn für Samstag, den 9. Januar sind ein Parisflug und ein Ticket fürs Centre Pompidou gebucht. Das mit dem Gesundbleiben klappte nicht so recht, jetzt gerade kuriere ich die Erkältung aus, die mich ab Sonntag ins Bettchen verdammte, wo ich hustend rumdöste, aber im Kopf weiter an der Hausarbeit schrieb. Ab und zu guckte ich ein, zwei Videos, gönnte mir Schokoladenpudding neben acht Kilo Weintrauben und viel Pfefferminztee und hoffte einfach nur darauf, gesund zu werden. Momentan glaube ich, am Samstag in Paris sein zu können, auch wenn ich vermutlich noch husten und mich wie eine Schnecke vorwärtsbewegen werde, aber verdammt noch mal, ich werde mir Kiefer angucken, so.
Was schön war: der gefühlt sehr sinnvoll verbrachte Schreibtischsamstag. Der Schokoladenpudding. Und dieses Video, das ich gestern sah und das ich jeder_m, die/der so einen Hauch an Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts interessiert ist, einfach mal als Herz legen möchte. Ist lehrreich und unterhaltsam. Prof. Dr. Michael Mönninger, Institut für Kunstwissenschaft an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig, spricht über „Big is Beautiful“ – Über die Verführungskraft des Maßstablosen im modernen Städtebau. Von der Ringvorlesung Großbauten in ihren Gesellschaften. Zwischen praktischer Nutzung und symbolischer Bedeutung stehen bereits drei Videos online, die anderen habe ich aber noch nicht gesehen.
Und wo wir gerade bei Ringvorlesungen sind: Die Gerda-Henkel-Stiftung hat auch gerade eine im Programm und zwar zum Thema Global Art History. Also das Wegkommen vom westeuropäisch-zentrierten Kanon, die Probleme von Kunst in einer globalisierten Kultur, Kunst nach dem postcolonial turn usw. Noch nicht gesehen, aber hiermit schon mal für mich vorgemerkt und für euch empfohlen.
Manche Fragen gingen mir im Laufe der Jahre auf die Nerven oder ich empfand sie als bedeutungslos, weswegen sie rausflogen. Als erstes starb die Frage „Zugenommen oder abgenommen?“, weil mich diese Frage viel zu lange viel zu sehr beschäftigt hatte. Seit ich intuitiv esse, gut esse, gern esse und mich bewege, weil es Spaß macht und nicht, weil es Kalorien verbrennt, geht es mir deutlich besser. Ich habe seit 2009 keine Waage mehr und sie keinen Tag vermisst. Da ich eher selten Klamotten kaufe und gerade Hosen so lange trage, bis sie auseinanderfallen, kann ich aber trotzdem vermelden, dass ich anscheinend seit ungefähr sieben Jahren mein Gewicht halte – das habe ich seit der Pubertät nicht mehr hinbekommen.
Ich habe seit 2012 auch keinen Ganzkörperspiegel mehr und das war ebenfalls eine sehr gute Idee. Wenn ich mich in irgendwelchen Klamotten gut fühle, dann reicht mir das als Bestätigung, ich brauche keine visuellen Hinweise mehr dazu. Deswegen fliegt dieses Jahr auch die Frage nach „mehr oder weniger bewegt“ raus, denn darauf will ich ebenfalls nicht bewusst achten. Ich liebe mein Fahrrad, ich habe bequeme Schuhe, das reicht mir. Generell geht mir der Selbstoptimierungswahn, was den Körper angeht, seit Längerem auf den Zeiger. Aber auch ich bin davon leider nicht ganz frei: Seit ein paar Jahren trainiere ich fast jeden Tag meinen grauen Klumpen im Kopf. Team 2h Bib statt 2h Gym! Aber jeder, wie er mag.
Die Fragen nach Haarlänge oder Kurzsichtigkeit haben sich bei mir auch erledigt; meine Haare bleiben irgendwie immer halblang, so dass ich sie mir hinter die Ohren klemmen kann, um ungestört zu lesen, und an meiner Kurzsichtigkeit wird sich vermutlich auch nichts mehr ändern. Das muss ich nicht jedes Jahr wieder neu notieren. Die Frage nach dem besten Sex habe ich von Anfang an eher ausweichend beantwortet, weil euch das nichts angeht; die ist anscheinend seit letztem Jahr nicht mehr dabei, was mir erst beim Copypasten des Eintrags aufgefallen ist.
Was in diesem Jahr rausfliegt: die Frage nach dem Geld. Das spielt seit meinem ersten Semester nur noch eine Rolle, weil es nicht mehr so üppig da ist wie vorher, was mir klargemacht hat, wie sehr ich mich früher über meinen Kontostand definiert habe. Ich habe immer von mir behauptet, dass mir das egal sei, „it’s just money“, aber den Satz kann man in all seiner Großkotzigkeit natürlich auch nur von sich geben, wenn eben genug da ist. Auch meine erste Twitter-Bio, Liberaces Ausspruch „I cried all the way to the bank“, schien mir im Nachhinein zu sagen, ja, dir geht’s vielleicht nicht gut, aber hey, du kannst dir alles kaufen. Was mich aber anscheinend auch nicht glücklich machen konnte. Das kriegt das viele Wissen, das ich in den letzten vier Jahren angehäuft habe, deutlich besser hin, auch wenn ich beim Anblick meines Kontos manchmal in eine Papiertüte atmen möchte. Jedenfalls will ich nicht mehr darüber nachdenken, ob ich mehr oder weniger verdient habe als im Jahr davor. So viel wie in der Werbung werde ich vermutlich eh nie wieder haben. Auch okay.
Ich ahne, dass sich spätestens hier die Frage aufdrängt, wieso ich den Bogen überhaupt noch ausfülle. Ganz einfach: Alleine die Fragen nach Dingen, die ich im vergangenen Jahr zum ersten Mal oder nach langer Zeit wieder gemacht habe, lohnen das Nachdenken.
1. Der hirnrissigste Plan?
Ich glaube, ich hatte in diesem Jahr keinen einzigen hirnrissigen Plan. Seit der Trennung, dem Umzug, der beruflichen Neuorientierung und dem Alles-auf-Anfang meiner neuen Beziehung bewege ich mich gefühlt sehr auf Eierschalen. Alles wackelt ein bisschen, daher bin ich vermutlich gerade etwas übervorsichtig bei allem, bloß nicht noch mehr kaputtmachen. Vielleicht ist das auch der hirnrissige Plan, überlege ich gerade.
2. Die gefährlichste Unternehmung?
Eventuell ohne anwaltliche oder steuerfachliche Unterstützung mit der KSK korrespondiert zu haben. Ich warte noch, was dabei rauskommt.
3. Die teuerste Anschaffung?
Letzter Teil des Umzugs.
4. Das leckerste Essen?
Die erste Stadionwurst in Augsburg, jedes Oktoberfestbier, das Schnitzel mit Katha und dem Sängermeister in Wien, der Burger auf F.s Balkon und mein Geburtstagsmenü im Broeding,
5. Das beeindruckendste Buch?
Comic: La page blanche von Pénélope Bagieu. Auf französisch mühsam entziffert, ein paar Monate später auf deutsch runtergelesen. Das sollte ich vielleicht nochmal mit einem anderen französischen Comic machen. Runner-up: Haarmann von Peer Meter und Isabell Kreitz.
Sachbuch: Kongo von David van Reybrouck. Generell eins der beeindruckendsten Sachbücher, die ich je gelesen habe, nicht nur in diesem Jahr. Runner-up: Mythos Trümmerfrauen von Leonie Treber.
Fiktion: Room von Emma Donoghue. Runner-up: This isn’t the sort of thing that happens to someone like you von Jon McGregor. Ich habe viel zu wenig Fiktion gelesen in diesem Jahr; hier liegen noch so viele schöne Leser*innengeschenke, zu denen ich noch nicht gekommen bin.
Ich habe in diesem Jahr überhaupt keine Musik gekauft, zahle aber brav für Spotify, weil ich mich an meinen „Mix der Woche“ so gewöhnt habe.
8. Das schönste Konzert?
F. führte mich in die Oper aus und das war ziemlich toll.
9. Die tollste Ausstellung?
Anselm Kiefer im Centre Pompidou und in der Albertina. Das war fantastisch, so viele Werke so kurz nacheinander (Januar und März) von ihm anschauen zu können. Wobei: Der Prado hat mich auch umgehauen.
10. Die meiste Zeit verbracht mit …?
… überlegen, was schön war, damit ich es ins Blog schreiben kann. War eine gute Therapie, um nicht dauernd Vergangenem hinterher zu trauern oder Zukunftsangst zu schieben. Manchmal denke ich aber auch darüber nach, ob das nur eine blöde Vermeidungsstrategie ist.
11. Die schönste Zeit verbracht mit …?
… Kunstgucken, kuscheln, lesen (auf dem Sofa, am Schreibtisch, in Bibliotheken), schreiben (auf dem Sofa, am Schreibtisch, in Bibliotheken), lernen, dazulernen, noch mehr lernen, weiterlernen.
12. Vorherrschendes Gefühl 2016?
Quo vadis, Gröner?
13. 2016 zum ersten Mal getan?
Die goldene Hochzeit meiner Eltern gefeiert. Einen Fahrradschlauch gewechselt. In Wien gewesen. In Madrid gewesen. In Rosenheim und Bad Aibling gewesen. Ja, das mag etwas abstinken, aber diese Aufenthalte haben sowohl mein Masterthema als auch die Entscheidung für eine Promotion sehr bestimmt. Ach ja, mich für eine Promotion entschieden (wenn man mich lässt). In vielen Archiven gewesen und es so toll gefunden, dass ich das noch viel öfter machen möchte. Den FC Augsburg als alternativen Fußballclub zu Bayern entdeckt. Und: an einem Museumskatalog mitgeschrieben. So, jetzt isses raus. Das war dieser Job, über den ich immer nur wolkige Andeutungen gemacht habe. Der Katalog erscheint aber erst 2017 und daher darf ich IMMER NOCH NICHT darüber bloggen.
Paris und ich hatten immer eine etwas schwierige Beziehung. Als ich das erste Mal in Paris war, zerstritt ich mich übelst mit meinem besten Freund auf dem Père Lachaise. Das zweite Mal war Kai mein Begleiter, wobei: Eigentlich war ich seine Begleiterin, denn Paris war immer seine Stadt; sein Onkel lebt da, wir übernachteten da, Kai ging vor und ich hinterher. War damals okay, weil ich es nicht anders wollte, aber dieses Mal war Paris meins. Ich war zum ersten Mal alleine in der Stadt und ich flog, weil ich eine Ausstellung anschauen wollte; ich kam als Besucherin und ging als Kunsthistorikerin. Paris und ich sind jetzt Kumpels.
15. Drei Dinge, auf die ich gut hätte verzichten können?
Der letzte Teil meines Hamburg-München-Umzugs, der zwar theoretisch durch ist, mich seelisch aber immer noch nicht loslässt. Überhaupt alles, was mich noch nicht loslässt – oder was ich noch nicht loslassen kann.
Die geschichtsvergessene Wiederkehr der Idiotie (Trump, Brexit, AfD).
16. Die wichtigste Sache, von der ich jemanden überzeugen wollte?
Ähnliche Antwort wie im letzten Jahr: Mich selbst davon, dass das schon irgendwie alles wieder passen wird.
17. Das schönste Geschenk, das ich jemandem gemacht habe?
So oft, wie F. es erwähnt hat, war meine Kondition im Prado – fünf Stunden statt zwei – anscheinend ziemlich schön für ihn. Für mich auch.
18. Das schönste Geschenk, das mir jemand gemacht hat?
Eine Flasche Wein von meinem liebsten Neuseeländer Weingut, eine Packung Nougatpralinen (TEAM NOUGAT!), ein kleines Stofftier und eine Postkarte mit Münchner Motiven, auf der nur „Welcome home“ stand, die in meiner Münchner Küche auf mich warteten, als ich zum letzten Mal aus Hamburg geflogen kam.
19. Der schönste Satz, den jemand zu mir gesagt geschrieben hat?
„Wären Sie an einer Zusammenarbeit interessiert?“
20. Der schönste Satz, den ich zu jemandem gesagt habe?
Herbsttagung des Arbeitskreises Provenienzforschung
Am Montag saß ich im Museum Fünf Kontinente und lauschte den halben Tag mit roten Öhrchen überwiegend spannenden Vorträgen. Genauer gesagt, diesen hier. Ich habe kaum mitgeschrieben, weil ich lieber zuhören wollte, aber ein paar Dinge kommen jetzt doch ins Blog.
Gleich der Einführungsvortrag von Hilke Thode-Arora, die seit Kurzem am Museum Fünf Kontinente angestellt ist, beschäftigte mich noch länger. Es ging dabei nicht um das, was ich bisher unter Provenienzforschung verstanden hatte – also hauptsächlich die Beschäftigung mit Kunst- und Kulturgütern, die während der NS-Zeit unrechtmäßig ihre Besitzer wechselten –, sondern um ethnologische Zeugnisse, die vor allem während der Kolonialzeit des Deutschen Reiches in dessen Gebiet gelangten. Thode-Arora beschrieb unter anderem, wie genau diese Raubzüge vor sich gingen; einmal die mit militärischer Gewalt, dann gab es aber auch den sogenannten „Stillen Tausch“, wo sich Einwohner der angegriffenen Gebiete aus ihren Dörfern zurückzogen, die Seefahrer von dort Dinge mitnahmen, die ihnen wertvoll erschienen, aber im Gegenzug etwas zurückließen, meist Naturalien. Dass das genauso unrechtmäßig war, sollte man nicht betonen müssen.
Die Vortragende erwähnte aber auch, dass die Ureinwohner der betreffenden Gebiete (ich habe mir leider nicht gemerkt, welche genau) schon recht früh anfingen, sich auf schatzsuchende Europäer einzustellen. Ein Forscher hielt sich jahrelang bei einem Stamm in Polynesien auf, arbeitete und lebte mit ihm und ging mit ihm fischen. Als er in europäischen ethnologischen Museen angeblich polynesische Angelhaken sah, konnte er berichten, dass die vermutlich nie benutzt worden waren, weil sie schlicht unpraktisch waren. Sie waren wahrscheinlich eher direkt zum Verkauf oder Tausch produziert worden, hatten aber nie Wasser gesehen.
Ich lernte das Wort „Repatriierung“, das verwendet wird, wenn es darum geht, unrechtmäßig erworbene Dinge zurückzugeben; bei NS-Raubgut sprechen wir von „Restituierung“. Manche Dinge sollen aber gar nicht wieder repatriiert werden. Thode-Arora zeigte Bilder von Samoanern, die europäische Museen besuchten und noch nicht einmal verlangten, dass die Glasvitrinen geöffnet wurden, in denen ihre Objekte lagen, um diese nicht zu stören. Ein Zitat, das ich brav von der Folie abschrieb, damit ich es richtig wiedergeben konnte: „The object lives here now and is taken care of.“ Einige Museen gaben Besuchern aus den betreffenden Ländern Gelegenheit, mit ihren kultischen Objekten zu interagieren, sie zu berühren; auch davon sahen wir Fotos, die mich sehr faszinierten. Nicht nur weil ich eine intime Handlung miterleben durfte (jedenfalls sind kultische Riten für mich auf einer Ebene immer intim, auch wenn sie öffentlich sind wie das Abendmahl in der Kirche), sondern weil die Objekte schlicht wunderschön waren.
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Auf den ersten Vortragsblock war ich am meisten gespannt, denn hier ging es um den Münchner Kunsthandel. Zwei Doktorandinnen stellten ihre Arbeiten vor; einmal ging es generell um jüdische Kunsthandlungen, die noch nicht erschlossen sind – die Doktorandin war bisher auf über 30 gestoßen, wenn ich mir das richtig gemerkt habe –, der zweite Vortrag handelte von Jaques Rosenthal. Meike Hopp, bei der ich im 3. Semester im Provenienzforschungsseminar saß, referierte über Hugo Helbing, der Historiker Sebastian Peters über seine MA-Arbeit zu Anna Caspari. Abschließend staunte ich über einen Schatz, auf dessen Erschließung vermutlich der halbe Saal wartete, jedenfalls erwähnte Hopp die vielen Anfragen, die sie schon bekommen hatten für: die überlieferten Bücher der Kunsthandlung Julius Böhler. Im Bayerischen Wirtschaftsarchiv liegen schönst annotierte Bücher, in denen seit ca. 1910 (?) bis in die 1970er Jahre hinein jedes Werk aufgeführt wurde: wann es gekauft wurde, von wem (wichtig für die Provenienz), wann es verkauft wurde, an wen (yay) und zu jeweils welchem Preis. Außerdem besitzt das ZI neuerdings einen Riesenberg an Fotos, die sehr hilfreich sind, wenn man 700 Bilder mit dem Titel „Bayerische Landschaft“ im Depot hat. Den Titel habe ich mir gerade aus dem Ärmel geschüttelt, aber ich merke schon bei meiner winzigen Arbeit zu von Welden, wie irre es mich macht, dass ich zwar Titel finde, aber keine Ahnung habe, wie das Bild dazu aussieht und ob die „Badende“ aus Ausstellung 1 von 1939 die gleiche ist wie die aus Ausstellung 2 von 1955.
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Im zweiten Teil stellten einige Münchner Institutionen ihre Erfolge bei der Provenienzrecherche vor. Stephan Kellner von der Bayerischen Staatsbibliothek sprach über die NS-Raubgutforschung im Haus und erwähnte den Berg von über 60.000 Büchern, die sie alleine aus der Ordensburg Sonthofen übernommen hätten, bei dem davon auszugehen war, dass einige Stücke Raubgut waren. Es wurden bereits diverse Stücke restituiert. Auch die Bayerische Staatsgemäldesammlung wühlt ihre Bestände durch und konnte bisher einige wenige Bilder an ihre rechtmäßigen Eigentümer zurückgeben. Das forderte auch eine Frage im Publikum heraus, ob sich der ganze Aufwand denn lohne für zwei, drei Bilder, woraufhin eine ziemlich scharfe Erwiderung kam, dass sich der ganze Aufwand selbst für ein einziges Bild lohnen würde. Natürlich könne man nichts wiedergutmachen, natürlich sei der Zustand vor dem Holocaust nicht wiederherstellbar, aber es liege in unser aller Verantwortung, wenigstens zu versuchen, erlittenes Unrecht zu mildern.
Am aufregendsten, weil so schön detektivisch, war der Vortrag von Ilse von zur Mühlen vom Bayerischen Nationalmuseum, das, genau wie die Bayerische Staatsgemäldesammlung, einen Teil der Sammlung Göring besitzt. Sie stellte ein Besteckset vor, von dem erstmal geklärt werden musste, wann es überhaupt hergestellt wurde. Auf den Messern fand sich ein winziger Name, den das Klingenmuseum Solingen einem dänischen Schmied Ende des 18. Jahrhunderts zuordnen konnte. (Natürlich gibt es ein Klingenmuseum und natürlich ist es in Solingen. Ich wollte die ganze Zeit begeistert in die Hände klatschen, was wir uns alles leisten.) Auf den Griffen der Messer fand sich ein Wappen, das Experten auf vor 1819 datierten. An den Gabeln fand sich zudem eine winzige Punze, also ein kleiner Abdruck im Silber; in diesem Fall war das ein Eberkopf, der in den Niederlanden im 19. Jahrhundert bei der Silbereinfuhr eingestempelt wurde. Eine zweite Punze konnte das bestätigen. Zu diesem Zeitpunkt im Vortrag musste ich nachträglich notieren, was ich hier gerade verblogge, denn das klang schon so nach Verbloggen. Daher bekam ich fünf Sätze nicht mit und weiß daher nicht mehr genau, wie jetzt das Silber zu dem Herrn kam, den ich wieder mitbekam, nämlich Kaiser Wilhelm II; ich vermute, irgendwelche niederländischen Aristokraten wollten dem armen Exilanten ein hübsches Messerset schenken, wenn er schon kein Reich mehr hatte. Von dort könnte es dann als Geschenk bei Göring gelandet sein, wäre also kein Raubgut, aber komplett belegt war der letzte Teil der schönen Theorie noch nicht.
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Im letzten Block kamen dann die nichtstaatlichen Museen zu Wort, also die eher kleinen Heimat- und Volkskundemuseen, in deren Schränken auch durchaus untersuchungswürdige Objekte liegen. Ich muss gestehen, ich weiß nicht mehr, welche der beiden Damen, die im Programm abgedruckt waren, gesprochen hat, aber der Vortrag war toll (Frau Lange oder Frau Bach, sorry!). Sie sprach über ihre Arbeit in der Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen, an die sich Häuser wenden, die nicht mehr so recht weiterwissen mit ihren Beständen. „Dann kommt man da hin, es werden Vitrinen geöffnet und Schubladen aufgezogen – und dann kommt immer irgendwann der Satz: ‚Und dann haben wir noch das da.‘ Das sind fast immer Judaika, denen man ansieht, dass sie Gewalt ausgesetzt waren.“ (Ich zitiere aus dem Gedächtnis, aber „Und dann haben wir noch das da“ habe ich mir gemerkt, weil es mir in seiner Hilflosigkeit sehr stimmig vorkam.) Die Vortragende sprach über eine besondere Torarolle, die vermutlich eher einem Privathaushalt gehörte, denn sie ist zu klein für eine Synagoge, die Schrift wäre zum Vorlesen zu winzig. Sie scheint in einer Pfütze gelegen zu haben, das Papier ist durchfeuchtet und brüchig, wenn man sie anhebt, rieseln Grashalme heraus. Der Text ist stellenweise verschwunden; dafür sorgt Säure, man geht davon aus, dass auf diese Torarolle uriniert wurde. Die Anordnung der Texte sei ungewöhnlich, ein angefragter Rabbiner aus Jerusalem meinte, er hätte derartiges noch nie gesehen. Außerdem ungewöhnlich: Einige Worte im Text sind handschriftlich verstärkt. Die Landesstelle unterstützt das betreffende Museum gerade bei der Restaurierung der Torarolle und natürlich bei der Provenienzrecherche.
In vielen Heimatmuseen liegen Judaika, teilweise nicht einmal inventarisiert. Intern hätten viele Häuser die sinnlose Diskussion geführt, ob der damalige Direktor die Stücke am 9. November 1938 ins Museum gebracht hätte – dann hätte er sie gestohlen – oder am 10., dann hätte er sie quasi gerettet. Viele Stücke sind in einem schlechten Zustand, auch weil sich jahrzehntelang niemand damit befasst hat. Die Vortragende erzählte allerdings auch von einem sehr hoffnungsvollen Fall, sie bat aber um Verständnis, dass sie das Museum nicht nennen wollte, um das es ging. Daher verzichte ich hier auf die Wiedergabe des Vortrags, aber ich habe durch ihn von der Arbeit Theodor Harburgers erfahren, der Ende der 1920er Jahre viele israelitische Gemeinden in Bayern besuchte und ihre Kunstschätze dokumentierte. Diese Berichte und Fotos sind heute ein unverzichtbares Hilfsmittel, von dem ich bis Montag abend noch nie gehört hatte.
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Ich habe von der Tagung viele Eindrücke, Anlaufstellen und Namen mitgenommen, die mir bei meinen eigenen Recherchen nützlich sein könnten. Und nebenbei wurde mir vor Augen geführt, wie sinnvoll mein kleines Orchideenfach sein kann. Das ist manchmal ganz schön zu wissen, wenn ich wieder mit mir ringe, ob ich nicht doch wieder sinnlos Werbung machen sollte, weil sie die Miete deutlich einfacher bezahlt als die Wissenschaft.
In den letzten Tagen wurde in meiner Timeline ein Artikel von Kiki sehr oft geteilt und abgefeiert, was mich etwas gewundert hat. Ich las ihn mehrfach, um zu verstehen, worum’s eigentlich geht, fand es aber nicht heraus; mir kam er wie eine Ansammlung von Klischees und schlechter Laune vor (dagegen ist ja nichts einzuwenden), aber er beklagt die „Arroganz der Linken“, die jetzt anscheinend schuld daran ist, dass schlecht bezahlte Menschen AfD und Trump wählen. Und gegen diese Deutung habe ich dann doch etwas einzuwenden.
Zuerst holt Kiki die grobe Keule raus und wettert gegen die überhebliche „linke Intelligenzia“, die ihrer Meinung nach so aussieht:
„Die „Wir nennen es Arbeit“-Romantiker, zumeist Akademiker aus dem, was wir in der Schule „Laberfächer“ nannten, bei denen es mehr auf Meinungen denn auf Fakten ankam, die Soziologie, Psychologie und Gendergedöns studiert haben oder mit ihren Macbooks im Café sitzen, Erdnussflips ironisch essen und sich ihr mehr oder weniger freiwillig minimalistisches Leben schönsaufen, die sind doch genauso betroffen von den negativen Auswirkungen der Globalisierung.“
Ich hätte die „linke Intelligenzia“ jetzt nicht unbedingt im Sankt Oberholz vermutet, sondern eher in Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen oder als Autor*innen von klugen Büchern und Blogs. Ich habe die „linke Intelligenzia“ auch nicht als diejenigen wahrgenommen, die Kiki mit „zynischen Witzen vom hohen Ross aus […] in der eigenen, kleinen, engen Filterblase“ genervt haben, aber über beides können wir gerne diskutieren. Sowohl im Oberholz als auch auf Twitter sind meiner Meinung nach auch eine Menge Leute unterwegs, die eher konservativ wählen und beide Gruppen waren in meinen Augen nicht unbedingt Meinungsführer – dafür sind die Menschen im Digitalen dann doch noch zu einflusslos.
Nach dem reißerischen Reinkommer, in dem Kiki mal eben die angebliche mittelose Intelligenzelite, die es meiner Meinung nach so nicht gibt, sondern die eine gehässige Klischeevorstellung ist, mit ausgestorbenen Handwerksberufen, die auch kein Geld mehr bringen, in einen Topf wirft, kommt sie zu dem Schluss, dass sich zu all diesem Elend noch die „klassische Linke in ihrem Elfenbeinturm, die in den Städten wohnt und sich als quasi-Hüterin der Moral und des Rechts begreift“ gesellt.
„Sie zeigt angewidert mit dem Finger auf die Wählerschaft von Trump, AfD, Front National, UKIP, Lega Nord und wie sie noch alle heißen, die rechten und jenseits von Rechts formierten Gruppierungen zwischen Moskau und Dublin, Oslo und Ankara.
Sie halten ihre hehren, gebildeten Gefühle für die einzig akzeptablen, lachen über die Landeier, Ossis, Dunkeldeutschen, anatolischen Bauern, Balkanspacken. Sie sind erschrocken und empört wenn rechtsnationale Einzeltäter Attentate verüben, rasend schnell mit Hitlervergleichen bei der Hand, wenn jemand CDU wählt und merken gar nicht, was sie da gerade tun.“
Hier geht mir jetzt einiges zu sehr durcheinander. Ohne dafür Zahlen zu haben, glaube ich, dass auch SPD-Wähler*innen Schwiegertochter gesucht gucken und damit die hehren Moralvorstellungen fies untergraben, dass es auch in ostdeutschen Städten genug Menschen gibt, die „Landeier“ für doof halten (und vermutlich umgekehrt) und dass so ziemlich jede*r, der*die links von der NPD steht, von rechtsnationalen Attentaten entsetzt ist. Warum man über anatolische Bauern und Menschen vom Balkan lachen sollte, weiß ich allerdings nicht, mir fallen da nicht mal Klischees sein. Das Elfenbeinturm-Bashing hat mich nach wenigen Absätzen latent genervt, aber das mag mein sensibles Seelchen sein, denn seit einem Jahr habe ich ja auch einen akademischen Abschluss und arbeite eifrig an einem zweiten. Komisch, dass ich jahrzehntelang auch als Nicht-Akademikerin ähnliche Wert- und Moralvorstellungen hatte wie heute.
Dann kommt noch ein kleiner Seitenhieb auf die Clinton-Wähler*innen, die sie auch deshalb gewählt haben, weil sie eine Frau ist. Lustig, dass den angeblich Abgehängten eine symbolische Wahl, nämlich die eines gefühlt starken Mannes, zugestanden wird, der anderen Seite aber nicht, die mit einer Frau an der Spitze der USA sicher auch ein Zeichen setzen wollte. Natürlich hatten wir schon andere weibliche Regierungschefs, worauf Kiki zu Recht hinweist, aber die Länder, die von ihnen regiert wurden, waren Pupsländer im Vergleich zu den Vereinigten Staaten. Nicht umsonst machen sich jetzt eine Menge Menschen auch außerhalb der USA Sorgen, eben weil deren Reichweite deutlich größer ist als die von zum Beispiel Island. Eine Präsidentin wäre ein deutliches Signal an alle amerikanischen Frauen gewesen, genau wie Obama ein Signal für die Schwarzen war. Aber für jemanden, die Geschlechterpolitik vermutlich unter „Gendergedöns“ abtun würde, mag das nicht so sein.
Aber zurück zum eigentlichen Wutanfall: Die großkotzigen linken Denker*innen, ob sie nun am Macbook oder im Elfenbeinturm sitzen, kapieren nicht, wie es zu AfD und Trump kam und sie sind überrascht vom „Arschtritt der Verachteten“. Schauen wir uns diese Verachteten doch mal an:
„Ich denke, das sind in der überwiegenden Mehrheit auch keine Nazis, Rassisten, Sexisten und was es sonst noch so für -ismen gibt, die den Mann gewählt haben. Das sind Menschen, denen schlicht das Hemd näher als die Jacke ist, lies: Sie sind weltweit seit rund 40 Jahren trotz harter Arbeit auf dem immer schneller absteigenden Ast und wissen, dass ihnen diese Talfahrt in erster Linie die (Sozial)Demokraten beschert haben, die linke Intelligenzia, die für alle Minderheiten ein Herz und großzügige Programme haben, ganz besonders für die eigenen Tasche, nur nicht für die künftige Minderheit – die der weißen Mittelschichtklasse.“
Es scheint hier gleichzeitig um die Menschen in den USA und der Bundesrepublik zu gehen, denn die Sozialdemokrat*innen dürften auf das Leben von Amerikaner*innen recht wenig Einfluss gehabt haben. Wenn wir uns nur die Bundesrepublik angucken, sollte man vielleicht erwähnen, dass die Sozis in den letzten 40 Jahren gerade mal in 13 den Kanzler gestellt haben und dass Angela Merkel seit 2005 Zeit hatte, die vielen schlimmen Minderheitenprogramme wieder rückgängig zu machen. Hat sie vermutlich aus guten Gründen nicht getan.
Die Mehrheit der Trump-Wählerinnen mag sich vielleicht selbst nicht als Nazi, Rassist oder Sexist bezeichnen, aber sie nimmt durch ihre Stimme in Kauf, dass sie von jemanden regiert wird, der all das zu sein scheint. Das ist für mich nicht viel besser und daher auch nicht durch das dusselige Argument zu entschuldigen, dass sie trotz harter Arbeit kein Bein mehr auf den Boden bekommen. Vor allem, weil genau die finanziell eher schlecht Gestellten mehrheitlich Clinton gewählt haben: Menschen mit einem Jahreseinkommen bis zu 50.000$ haben eher für die Demokratin gestimmt, reichere Menschen für Trump, wobei die Zahlen ab 100.000$ kaum noch auseinandergehen. Die Mär der sozial Abgehängten, die Trump vertrauen, ist schlicht falsch.
Bei der AfD sieht es nicht viel anders aus: Auch hier speisen sich die Wählerstimmen nicht ausschließlich aus ehemaligen enttäuschten Wähler*innen von linken Parteien. Bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern wanderten zwar 17% von der SPD zur AfD, aber auch 16% von der NPD. Der größte Teil der Wähler*innen hat einen Realschulabschluss (27%), 14% sogar einen Hochschulabschluss (verdammter Elfenbeinturm!), so dass man auch hier nicht pauschal sagen kann: Das sind die Abgehängten, die nur noch Berufe haben, die niemand mehr braucht. Warum die Menschen AfD wählen, scheint mir auch aussagekräftig:
„Und nur im Bereich Flüchtlingspolitik billigten die Befragten der Partei überhaupt nennenswerte Kompetenz zu: 17 Prozent gaben an, die AfD löse die Probleme in der Flüchtlingspolitik am besten. Alle anderen Themenfelder – Arbeitsplätze (drei Prozent), Bildungspolitik (vier Prozent), soziale Gerechtigkeit (sechs Prozent) – hätten die AfD kaum über die Fünf-Prozent-Hürde gebracht. Dem Selbstbild der AfD, die sich vehement gegen die Einstufung als Ein-Themen-Partei wehrt, entsprechen diese Zahlen nicht.“
Anders ausgedrückt: Den AfD-Wähler*innen geht es nicht um ihre Arbeitsplätze oder dass Minderheiten gefördert werden, was Kiki vermutet. Ihnen geht es um das Wahngebilde der angeblichen Flüchtlingswelle, die sie überrollt und meiner Meinung nach lassen sie sich da von Fakten auch nicht mehr beirren.
„Sich für Schwächere stark zu machen, das funktioniert nur so lange, wie man selbst keine Hilfe braucht. Tut weh, aber ist so. Gibt es rassistische Übergriffe, hässliche Attacken gegen LGBTQ-Menschen, Übergriffe gegen Muslima? Ja. Sind die entschuldbar? Natürlich nicht. Aber wann habt Ihr das letzte Mal die Meinung geändert, weil man Euch als Nazis oder Idioten beschimpft hat? Ach so, Hass ist keine Meinung. Ja, dann … brauchen wir ja auch nicht mehr miteinander reden, oder? Ist ja alles gesagt. Ich gut, du doof, hugh, ich habe gesprochen.“
Wenn ich mich an die Diskussionen in den Medien erinnere, gab es zwar wütende Stimmen, die die AfD-Wähler*innen als Nazis und Idioten beschimpften, aber der weitaus größere Teil räumte ihnen hübsche Plätzchen in Talkshows frei, schrieb sorgenvolle Kolumnen, wie man diese Menschen wieder dazu bringt, anständige Parteien zu wählen und ging sogar physisch auf sie zu, wie Claudia Roth bei den Einheitsfeierlichkeiten in Dresden, wo aber anscheinend niemand mit ihr reden wollte, sondern lieber weiter sinnlos rumbrüllte. Totale Überraschung. Deshalb habe ich auch keine Lust mehr, mit diesen postfaktischen Nasen zu diskutieren, denn genau das wollen sie ja gar nicht. Ich sehe keine Bereitschaft von AfD-Wähler*innen, mal mit Grünen- oder Linken-Wähler*innen zu reden, um ihren Standpunkt verständlich zu machen. Ich sehe nur Demonstrationen mit hasserfüllen Plakaten und Menschen, die selbst dann noch „Lügenpresse“ schreien, wenn die Medien ihr Material ungeschnitten online stellen, um zu zeigen, dass sie nicht manipulieren. Ich sehe bei Trump-Wähler*innen, soweit ich das berurteilen kann, auch eher Häme und Großkotzigkeit anstatt den Versuch, den Clinton-Wähler*innen die Sorge zu nehmen, dass unter einem Rassisten und Sexisten nicht alles schlechter wird.
Und da sind wir wieder bei den oben angesprochenen „hehren, gebildeten Gefühlen“, die, wenn ich Kiki richtig verstehe, total doof sind, weil sie auf gewissen Moralvorstellungen beruhen. Und das war der Punkt, an dem ich am längsten geknabbert habe. Ja, ich glaube, dass die Linke, ich nutze jetzt mal diesen Allgemeinplatz, sich völlig zu Recht etwas auf ihre Moralvorstellungen einbildet und deswegen geschockt ist, dass sie offensichtlich nicht von allen geteilt werden. Ich glaube, die Linke zeichnet sich durch progressives Denken aus, während die Rechte eher bewahren will. Das ist nichts Schlimmes, bringt uns als Gesellschaft aber nicht weiter. Ich (als Linke) empfinde es als wohltuend, dass immer mehr gesellschaftliche Gruppen laut werden und Rechte fordern, die jahrhundertelang nur der weißen, männlichen, heterosexuellen Oberschicht zugestanden wurden. Daher erfüllt es mich mit großer Sorge, dass diese Zugeständnisse anscheinend nicht nur nicht von allen geteilt, sondern sogar aktiv abgelehnt werden. Das liegt aber nicht daran, dass diese Menschen AfD oder Trump wählen, obwohl ich das auch zum Kotzen finde. Meine hehren, gebildeten Gefühle können schlicht nicht verstehen, warum jemand nicht möchte, dass es anderen genauso gut geht wie einem selbst. Das ist der Punkt, auf dem ich rumkaue und den ich nicht dadurch auflösen kann, indem ich AfD-Wähler nicht mehr Nazis nenne und sie auf einen Salbeitee einlade, so zum Reden. Dass auf einmal so simple Dinge wie Anstand oder Mitgefühl für Schwächere weggewählt werden, das macht mir Sorgen.
Die Verachtung, die Kiki der Linken unterstellt, gilt nicht denen, die kein großes Gehalt mehr nach Hause bringen. Die Verachtung gilt den Arschlöchern. Und das meiner Meinung nach völlig zu Recht. Es ist nicht mehr unsere Aufgabe, ihnen weitere Talkshow-Zeit zur Verfügung zu stellen, es ist nicht mehr unsere Aufgabe, ihnen liebevoll das verwirrte Köpfchen zu tätscheln. Es ist unsere Aufgabe, ihnen sehr deutlich klar zu machen, dass sie sich mit diesen menschenverachtenden Positionen außerhalb der Gesellschaft positionieren. Das mag eine riskante Strategie sein – die deplorables-Bemerkung hat Clinton sicher geschadet wie auch das „Pack“ von Gabriel –, aber ich glaube, dass die Beschwichtigungspolitik der letzten Monate uns nicht weitergebracht hat.
Was schön war, Montag, 14. November 2016 – Kunsthilfe
Ihr erinnert euch an mein letztes 12von12, wo ich einen Brief aus Paris erwähnte (6. Bild), in dem ein Hobbyhistoriker nach einer Grabplatte bzw. deren Inschrift und einem darauf abgebildeten Wappen fragte? Ich weiß jetzt, was da steht und ich weiß auch, zu wem das Wappen gehört, und deswegen hat sich der gestrige Tag ziemlich gut angefühlt, weil ich jemandem helfen konnte.
Vormittags erledigte ich Korrekturen, mittags saß ich im wie immer lehrreichen Rosenheim-Seminar, und direkt danach radelte ich ins Zentralinstitut für Kunstgeschichte, um ein Wappen zu suchen und einen Aufsatz über Kasernen in der NS-Zeit für eine Dame auf Twitter einzuscannen. In die Bibliothek des ZI darf man, wie üblich, keine Jacken mitnehmen, Rucksäcke, Zeug halt, in dem man Bücher verstecken könnte. Besonders ist hier, dass man auch keine Getränke mitnehmen darf, was aber okay ist, weil der Weg vom Leseplätzchen zum Schließfach nicht sehr lang ist. In der Stabi mit ihrer Riesentreppe würde mich das doch sehr nerven, wenn ich für einen Schluck Wasser gefühlt 500 Meter gehen müsste. (Ich sehe die Sportlerinnen unter euch mit den Augen rollen, aber ich bin nicht zum Laufen in der Bibliothek, sondern zum Lernen.) Ich zuppelte also meinen Laptop ohne Hülle aus dem Rucksack, mein Netzteil und mein Notizbuch, in dessen hinterer Klappe immer meine Bezahlkarte für die ZI-Scanner liegt. Mein USB-Stick, den ich ebenfalls dazu brauche, steckt in meiner vorderen Rucksacktasche. Jedenfalls theoretisch. Gestern steckte er da nicht, denn ich hatte ihn beim letzten Besuch in die Hosentasche umgesiedelt, deren Inhalt ich immer auf meine Flurkommode werfe, wenn ich nach Hause komme, und anscheinend vergessen, ihn von dort wieder in den Rucksack zu packen. Knurrend ging ich trotzdem in den Lesesaal, vielleicht würde ich ja gar nichts finden, dann wäre das auch egal.
Natürlich fand ich alles, was ich suchte. (ZI-Bib <3) Ich erinnerte mich an dieses Buch, in dem ich für meine Frauenchiemsee-Hausarbeit ewig geblättert hatte, weil es irrwitzig ausführlich war. Ich meinte mich auch an ein Kapitel zu erinnern, in dem es um Grabplätze in der Klosterkirche ging – mein Thema war ja unter anderem das Grab der ersten uns bekannten Äbtissin, der seligen Irmengard. Als ich im vierten Semester diese Arbeit schrieb, durfte ich noch nicht ins ZI – damals durfte man dort erst mit einem anständigen Forschungsinteresse rein, also mindestens eine BA-Arbeit, heute dürfen wir KuGi-Studis ab dem ersten Semester rein –, aber ich ahnte, dass das Buch da sein würde. War es auch, und ich hatte mich richtig erinnert: Ein Kapitel beschäftigte sich nur mit den Grabdenkmälern im Münster.
Düll, Sigrid: „Grabmalplastik und Epigraphik im Kloster Frauenchiemsee“, in: Brugger, Walter/Weitlauff, Manfred (Hrsg.): Kloster Frauenchiemsee 782-2003. Geschichte, Kunst, Wirtschaft und Kultur einer altbayerischen Benediktinerinnenabtei, Weißenhorn 2003, S. 201–246, hier S. 206.
Die Platte ist ein Epitaph für die selige Irmengard, die von der Äbtissin Magdalena Auer (Äbtissin seit 1467, verstorben 1494) posthum in Auftrag gegeben wurde. Die lateinische Inschrift besagt genau das: wer dort liegt und dass sie zu Lebzeiten ihre Schäfchen (Nonnen) weise geführt hat. Das linke Wappen zeigt die französischen Lilien (ihr Vater war König des ostfränkischen Reiches), das mittlere Wappen mit den gekreuzten Seerosenblättern steht für Frauenchiemsee, und das rechte Wappen ist das der Äbtissin Auer.
Jetzt musste ich diese Infos von den Buchseiten nur irgendwie in eine E-Mail kriegen. Nachdem ich den ganzen Lesesaal nach einem mir bekannten Gesicht abgesucht, aber keines gefunden hatte, setzte ich mich tapfer über alle Konventionen hinweg und fragte laut nach einem USB-Stick, der mir auch sofort gereicht wurde. Yay! Auch den Aufsatz über die Kasernen fand ich sofort im Regal, zog mit Stick und Büchern zum Scanner und bastelte danach schöne verschickbare PDFs aus den Buchseiten.
Das hat sich gut angefühlt, interessierten Leuten mit meinem Wissen – oder meinem Zugang dazu – weiterhelfen zu können.
Was schön war, Donnerstag, 3. November 2016 – Kuratorische Gespräche
F. und ich guckten uns eine Podiumsdiskussion im Haus der Kunst an, auf der Frances Morris und Kasper König über zwei ihrer vergangenen, wegweisenden Ausstellungen sprachen, Paris Post War: Art and Existentialism, 1945–55 (Tate Gallery London, 1983) und Westkunst (Kölner Messehallen, 1981), in der Kunst von 1939 bis 1970 gezeigt wurde. Beide interessierten mich natürlich aus dem Blickwinkel, den ich gerade für von Welden einzunehmen versuche: Was wurde nach 1945 für wichtig gehalten, was wurde direkt nach dem Krieg gezeigt, was deutlich später, was aber im Nachhinein für die Zeit prägend war.
Die beiden stellten zunächst ihre Ausstellungen noch einmal in Bildern vor – Morris zunächst mit Dias, weil sie meinte, sie hätte halt von der Ausstellung keine PowerPoint rumliegen, was ich charmant fand. König hatte hingegen eine ewig lange Bildstrecke aus dem Kunstforum eingescannt, in dem damals die Ausstellung – wie in fast allen Medien – sehr kritisch gesehen wurde. So konnten wir nachträglich immerhin per Bild durch die Räume wandern, während die beiden teilweise Hängungen erläuterten, auf Künstler*innen hinwiesen etc. In einem Raum der Westkunst hingen Josef Albers‘ Farbquadrate und Edward Hoppers melancholische Interieurs nebeneinander, und als das Bild kam, dachte ich spontan, wow, tolle Hängung, spannender Kontrast und trotzdem eine Einheit, als König meinte, genau der Raum wäre total verrissen worden. So scheinen sich Sehgewohnheiten geändert zu haben. Morris zeigte außerdem Bilder der Tate Modern, die erst 2000 eröffnet wurde, was mich überraschte; für mich gehört das Museum schon so zu den Standards, dass ich die in die 1990er verortet hätte. Die Tate Modern war das erste Museum, das seine Sammlung nicht chronologisch präsentierte, sondern thematisch geordnet, was völlig neue Nachbarschaften und Ansichten ergab. Heute ein total normales Konzept, jedenfalls auf Sonderausstellungen.
Ich fand es sehr spannend, den beiden alten Recken, wenn ich das so flapsig sagen darf, zuzuhören. Okwui Enwezor, der die Diskussion leitete, meinte, solche Ausstellungen, wie die beiden sie auf die Beine gestellt hätten, wären heute überhaupt nicht mehr möglich; aus klimatechnischen und versicherungsrechtlichen Gründen würde man heute nie mehr eine solche Masse an großen Namen in einen Raum kriegen, heute würde für jedes Zwei-Zentimeter-Exponat ein Kurier per Business Class eingeflogen, das sei auch nicht mehr zu bezahlen. Umso mehr bin ich jetzt auf Post War im Haus der Kunst gespannt, die sowohl Morris als auch König überschwenglich lobten, wenn auch König meinte, er hätte zwischendurch zweimal ins Café gemusst, weil er so durch gewesen sei. Das beruhigte mich, dass auch Profis irgendwann nichts mehr sehen können.
Beide wiesen allerdings darauf hin, dass Paris Post War und Westkunst auch heute deshalb vermutlich nicht mehr so zustande kämen, weil heutige Kurator*innen ihrem Publikum nichts mehr zutrauten. Westkunst wurde vorgeworfen, zu kompliziert zu sein, woraufhin König meinte: “What’s wrong with being complicated? Trust your audience!” Ich weiß nicht, ob ich diese Aussage generell so stehen lassen würde, aber ich ahne, dass auch wirtschaftliche Gründe dafür sorgen, dass manche Ausstellungen einfacher zugänglicher sind als andere. Ein Kurator erzählte mir mal, dass sein Haus immer abwechselnd Ausstellungen konzipiere: einen Blockbuster, wo die üblichen schnuffigen Namen hingen, die sei immer voll, weil alle die schön fänden, und dann käme eine Ausstellung, die den Kurator*innen aus kunsthistorischer Sicht am Herzen liege, bei der man aber davon ausgehen könne, dass da längst nicht so viele Menschen durchrennen, weil sie anstrengender sei.
Ich finde, beides hat seinen Reiz. Ich bin per se erstmal dankbar, Originale sehen zu können, auch wenn es die immer gleichen Namen sind und die ganz großen Werke sowieso nicht mehr verliehen werden. Gleichzeitig freue ich mich aber auch über Namen, die ich nicht kenne, über Werke, bei denen ich erstmal ein Fragezeichen über dem Kopf habe, was manchmal auch nicht weggeht – aber das ist ja das Tolle an Kunst, das darf ruhig da bleiben. Die Idee, dass man Kunst irgendwie verstehen müsste, geht mir immer mehr auf den Zeiger. Ich finde es völlig in Ordnung, sich mit Kunst zu konfrontieren und dann einfach das mitzunehmen, was kommt. Ich darf Kunst auch einfach schön finden oder doof oder belanglos oder scheiße, und dafür muss man sie nicht verstehen.
Hausarbeit „Leo von Welden zur Zeit des Nationalsozialismus“
Ihr habt die Entstehung dieser Hausarbeit quasi Schritt für Schritt mitbekommen, und jetzt kriegt ihr sie endlich zu lesen. Falls ihr daran überhaupt noch Interesse habt und nicht sofort augenrollend ein anderes Blog anklickt.
Hey, nein, nicht augenrollend ein anderes Blog anklicken, das ist eine tolle Arbeit geworden! Meinen jedenfalls der Dozent (Note 1,0) und die Tochter des Künstlers, die sich nach dem Lesen bedankte, dass ich aus ihrem Vater keinen strammen Nationalsozialisten gemacht habe. Dazu gab’s keinen Grund, aber natürlich war das eine ihrer Befürchtungen. Umso mehr wusste ich es zu schätzen, dass ich ohne Einschränkung in Aktenordner reingucken, Korrespondenzen lesen und Grafikmappen durchblättern durfte.
Ein weiteres Dankeschön geht ans Lenbachhaus, das mir nicht nur anständige digitale Abbildungen von Werken, die sich in seinem Depot befinden, zur Verfügung gestellt hat, sondern auch nichts dagegen hat, dass ich sie im Rahmen dieser Arbeit ins Internet stelle. In diesem Zusammenhang: Die Abbildungen (Scans, Fotos) aus dem Nachlass von Weldens, die sich im Anhang der Arbeit finden, habe ich hingegen entfernt.
In der Arbeit finden sich einige offene Fragen, die ich bis zum Abgabezeitpunkt nicht klären konnte und die ich teilweise bis heute noch nicht weiterverfolgt habe BECAUSE SEMESTERFERIEN. In der Fußnote 38 auf S. 8 weiß ich zum Beispiel nicht, ob eine Ausstellung in Freiburg stattgefunden hat. Das hätte man vielleicht im Stadtarchiv Freiburg klären können oder beim Kunstverein, aber auf diese Idee bin ich eine gute Woche vor Abgabe der Arbeit nicht mehr gekommen. Wir erinnern uns: Die ganzen tollen Unterlagen, anhand derer ich vieles klären konnte, die aber teilweise neue Fragen aufwarfen und die dafür sorgten, dass ich die Hälfte der Arbeit nochmal umschrieb, bekam ich erst am 6. September – Abgabetermin war der 15.
Vom vierseitigen Bericht an das Kriegsschädenamt finden sich im Nachlass nur noch die letzten drei Seiten (S. 13 in der Arbeit); ich hoffte auf Akteneinsicht im Stadtarchiv, das den Nachlass dieses Amtes verwaltet; das schloss aber genau zu dieser Zeit den Lesesaal für Renovierungsarbeiten für vier Wochen, weswegen man sich keine Akten ausheben lassen konnte. Auch das steht natürlich noch auf meinem Plan, inzwischen aus purer Neugier und der Vorfreude darauf, in Originalunterlagen wühlen zu dürfen.
In der Fußnote 109 erwähne ich, dass ich noch auf Auskunft zu der aufgetauchten Mitgliedsnummer der Reichskammer der bildenden Künste warte; die traf wenige Tage nach Abgabe ein und war leider negativ. Auch unter der alternativen Schreibweise „von Velden“, die ich in einigen Zeitungsartikeln fand, war von Welden außerhalb der beiden Fundstellen, die ich in der Arbeit beschreibe, nicht in den Beständen des Bundesarchivs zu finden.
Ich kümmere mich jetzt um von Welden nach 1945. In sechs Monaten steht dann hier quasi Teil 2 zum Herrn. Bleibt dran. (Mach ich ja auch.)
Nachtrag: Was schön war, Dienstag, 11. Oktober 2016 – Madrid, Tag 2: Albora
Wenn wir einen Städtetrip machen, gucken wir gerne, ob die Möglichkeit besteht, ein Fußballspiel zu besuchen und außerdem, ob es ein nettes, bezahlbares Sternerestaurant um die Ecke gibt. Letzteres hat in Madrid im Gegensatz zum Fuppes geklappt – wir haben uns das achtgängige Menü im Albora gegönnt.
Was ich in Madrid ungewohnt und unerwartet fand: dass viele Menschen kaum oder gar kein Englisch sprechen. Hier hatten wir einen Kellner, der offensichtlich auswendig gelernt hatte, was er uns auf Englisch erzählen soll; bei Fragen war seine Sprache aber schon am Ende. War aber egal, wir waren zum Essen und nicht zum Quatschen hier. Einen Abend später hatten wir im Samarkanda eine Kellnerin, die uns zwar die englische Karte brachte, aber anscheinend nicht verstand, was in ihr stand; sie notierte sich buchstabengenau, was wir ihr zeigten. Hat auch funktioniert.
Das Albora ist eine schöne Mischung zwischen schick und schnuffig, die Decken sind niedrig, wodurch man sich angenehm unterhalten kann, das Essen war (bis auf kleine Ausreißer, die mein Gesamturteil aber nicht schmälern konnten) hervorragend, die Weine bis auf einen sehr gut, und das einzige, was ich wirklich zu bemängeln hätte, war das Tempo. Das war doch recht zackig, wir waren mit den acht Gängen plus Gruß aus der Küche, süßem Rausschmeißer und Espresso in knapp zweieinhalb Stunden durch.
Der Teller zum Reinkommen – oder eher die Schieferplatte; das Zeug kann ich ja auch nicht mehr sehen: von rechts nach links knusprige Sardine, aufgeplusterter Mais mit Gurke und Meerrettich (lustig im Mund), das in der Mitte hab ich vergessen (Fisch?), irgendwas mit viel Käse (eher unlustig im Mund) und ein herrlicher Apfel-Blutwurst-Macaron. Bei Macarons habe ich immer ein schlechtes Gewissen beim Essen, weil sie so wunderschön aussehen. Also bevor man sie isst.
Über den Serviervorschlag musste ich auch grinsen, weil es sich fast steinzeitlich anfühlte, aus diesem Klotz zu essen. Unter dem Blumenkohlschaum verbargen sich Schwertmuscheln und, laut Speisekarte, seafood curd. Den muss ich nicht noch mal essen. Das war wie Meeresboden ablecken; alles an Fischigem püriert und (gefühlt) ein bisschen Sand untergemischt.
Dafür war der Wein ein schöner Beginn: der Laxas Rias Baixas Albarino 2015 hatte viel unaufdringliche Aprikose. Die Weine hat sich F. allen Ernstes gemerkt, das kleine Elefantengehirn. Ich habe keine Tasting-Notizen gemacht, weil ich essen und trinken und so gerade noch fotografieren wollte, aber nichts aufschreiben. Deswegen habe ich auch in Madrid nicht gebloggt, weil ich gucken wollte, ohne schon im Hinterkopf den Blogeintrag auszuformulieren. (Hab ich natürlich trotzdem gemacht.)
Ein kleiner Salat aus eingelegtem Perlhuhn mit Langustinen. Sah hübsch aus, ich hatte nichts am Teller zu meckern und am Essen noch weniger. Der Wein war mein Lieblingsweißwein des Abends: Im Carramimbre Rueda Verdejo 2015 war so richtig schön Grapefruit drin, die lange im Gaumen blieb. Kiste kaufen wollen.
Umami pur mit Umami drunter: Wildpilze auf geräuchertem Eigelb. Das war schon fast zu intensiv an Aroma, aber der Verdejo kam gut damit klar.
Garnelen in Babyoktopusbrühe (klingt schlimmer als es schmeckte) und Kohlrabi, der in Meeresfrüchteconsommé eingelegt wurde. Die Garnelen fand ich super, bei der Brühe musste ich mich etwas überwinden, aber das mag daran liegen, dass ich keine regelmäßige Fisch- und Meereszeugesserin bin. Genau deshalb bestelle ich ja diese Menüs, um aus meiner Rind- und Lammkomfortzone rauszukommen.
Mein Lieblingsgang, von dem ich blöderweise nicht mehr weiß, was er war. *patsch* Auf der Speisekarte stand nur fish of the day, er war weißfleischig (offensichtlich), schön fest, sehr zart und gerade mal mit einem Hauch Salz gewürzt. Er schmeckte frisch und nach Meer und nach Fisch, aber nicht fischig, und war ganz, ganz großartig. Erinnerte mich an das Rindfleisch im Theresa, was auch einfach nur schnickschnacklos nach Rindfleisch schmeckt. Dazu gab’s Avocado und Kartoffeln, womit man bei mir eh immer offene Türen einrennt, und ich war glücklich. Selbst der olle Chardonnay konnte hier mithalten.
(Edit: Alleswisser F. dee-emmt gerade: Der Fisch war Loup de Mer. Nächstes Mal frage ich ihn gleich, anstatt mich im Blog als Schrumpfkopf zu outen.)
Kaninchen mit Kaffee, Schokolade und Leberschaum. Ich bin bei nicht-süßer Schokolade meist recht skeptisch, aber die hier war perfekt ausgewogen. Sie fing lieblich an, hörte aber wild-saftig-deftig auf, und der Leberschaum hat auch nicht so fies nach Leber geschmeckt wie es sich anhört. (Ich mag Leber.)
Noch mehr Wild, dieses Mal Hirsch, dazu rote Bete, schwarze Oliven und Mangold. Die Jogurtkleckse dazu waren der Hammer. Der Kellner fragte uns, ob wir den Tempranillo weitertrinken oder zu diesem Gang eventuell einen Rioja haben wollten, und wo wir schon mal da waren, nahmen wir natürlich einen Rioja. Wenn man uns so fragt. Ts. Der war auch richtig gut, schön tief und hach.
Und schon waren wir beim Dessert. Hier hätte ich mir, wie angesprochen, eine kleine Pause gewünscht, aber nix da, es wurden gnadenlos Zitronen- und Ingwereiscreme mit Rosmarinschlotz („slush“) aufgetragen. Dazu gab’s einen Sherry, den ich absolut nicht austrinken konnte, so schwer war er. Ein leichter Süßwein wäre jetzt nett gewesen.
Okay. Der Maiskolben da ist Maiseis und war großartig. Drumrum liegt Popcorn und weiteres süß-salziges Maiszeug, was auch toll war. Das Graue ist auch Eis, und ich fand graues Eis optisch so attraktiv und ausgefallen, dass ich völlig vergessen hatte, dass ich Trüffeln eher skeptisch gegenüberstehe. So war es auch hier; das Trüffeleis mochte ich überhaupt nicht, aber mit dem Mais zusammen ging’s runter. Ein leichter Süßwein wäre jetzt nett gewesen.
Und dann warf man uns noch etwas lieblos ein paar Kleinigkeiten hin, die alle sehr schmackhaft waren, aber es wurde uns doch zu verstehen gegeben, dass nach uns vielleicht noch jemand anders den Tisch haben wollte. Es war überhaupt überraschend voll. Gut, am nächsten Tag war Nationalfeiertag, weswegen niemand früh ins Bettchen musste, aber dass noch Reservierungen für 23 Uhr angenommen wurden, fand ich sehr ungewohnt. Wir tranken trotzdem noch einen Espresso und verließen dann äußerst entspannt und satt das Lokal, um zur U-Bahn zu gehen.
Wir stiegen in Atocha aus, ich warf wieder sinnlos Pokébälle durch die Gegend und versuchte ebenso sinnlos, eine Arena zu erobern, denn das hatte noch nie geklappt. Und was soll ich sagen? Diesmal klappte es, dank meiner tollen türkisen Drachenkatze. (Das ist eine türkise Drachenkatze. Fresse.) Ich freute mich sehr: Meine erste Arena, die mir immerhin ungefähr 45 Minuten gehörte, war ausgerechnet der tolle Atocha-Bahnhof.
Wir waren den ganzen Vormittag und den frühen Nachmittag im Prado gewesen, danach waren wir durch den botanischen Garten spaziert, dann hatten wir uns etwas ausgeruht (yay for Kuscheln!), bis wir uns langsam feinmachten und zum Essen fuhren. Und als Tagesabschluss hatte ich meine erste Arena erobert. Das war rundherum ein ganz wundervoller Tag.
Nachtrag: Was schön war, Dienstag, 11. Oktober 2016 – Madrid, Tag 2: Prado
In Madrid wollte ich drei Bilder unbedingt sehen: die Guernica (gleich am ersten Tag in der Reina Sofia erledigt) sowie Velázquez’ Las Meninas und Rogier van der Weydens Kreuzabnahme. Letzere hängen im Prado und dort gingen wir dann auch um kurz vor 10 hin, stellten uns in eine noch nicht allzu lange Schlange, freuten uns über die vier geöffneten Kassen und und waren ziemlich schnell im Museum, wo uns sofort eine Dame ansprach, ob wir an einer individuellen Führung interessiert wären. Waren wir nicht und im Laufe der ersten Besichtigungsstunde wurde ich auch immer nöliger auf diese Führungen. Auf Gruppen ist man in großen Museen als Besucherin ja eingestellt, durch die man sich irgendwie durchwuseln muss, gerade vor den Bildern, die alle sehen wollen (Kreuzabnahme, Las Meninas, ähem), aber dass man zusätzlich noch drei bis vier Einzelführungen hat, die gerne mit iPad oder großformatigen Ausdrucken zusätzliche Infos vermitteln wollen – hab ich nicht verstanden: Man steht doch direkt vor dem Bild, was soll dann noch ein Detail auf dem iPad? – und für eine weitere quatschige Geräuschkulisse sorgen, fand ich doch etwas nervig. Das gab sich aber nach einiger Zeit; wir waren ungefähr fünf Stunden im Museum (inklusive entspannter Mittagspause), aber die geballten Führungen waren fast alle zwischen zehn und elf Uhr morgens. Merke ich mir für den nächsten Besuch, denn in den Prado will ich dringend nochmal.
Dass man relativ schnell drin ist – wunderbar. Dass die Garderobendamen freundlich sind – Bonus. (Looking at you, Centre Pompidou.) Dass das Gebäude mit unglaublichem Zeug vollhängt – erwartbar. Aber wie clever vieles hing und wie viel ich durch diesen einen Besuch gelernt habe, dass hat mich doch sehr überrascht. Einziger Verbesserungsvorschlag: bitte statt der viel zu spärlichen Holzbänke plüschige Sofas wie im Kunsthistorischen Museum in Wien. Dieser Vorschlag gilt für alle Museen. Ein Traum, diese Sofas.
Wenn man durch den Eingang im ersten Stock das Museum betritt, begegnen einem gleich mal zwei Bilder, die das gleiche Motiv zeigen, nämlich Adam und Eva, die olle Schlange und den verführerischen Apfel. Das überrascht jetzt nicht, dass es mehrere Ausführungen dieses Motivs gibt (mir fallen spontan eine Milliarde ein), aber dass gerade diese beiden hier hängen, links Tizian, rechts Rubens, hat mich sehr gefreut, denn genau diese recht detailgenaue Gegenüberstellung haben wir mal in einem Seminar behandelt. Der Prado hat mit die meisten Rubens-Gemälde überhaupt, soweit ich weiß, und ich fand es sehr souverän, diesen einen nicht in den riesigen Rubens-Saal zu hängen, sondern keck zwischen die Tizians.
Ich guckte noch ein paar Italiener an, aber irgendwie wollte ich dringend zu van der Weyden. Gestern in der Reina Sofia brauchte ich ein paar Säle, bis ich mir genug Mut angeguckt hatte, um zur Guernica zu gehen, heute wollte ich die Tränen der Maria sehen, bevor ich mir den Rest des Museums vornahm. F. und ich blätterten im deutschen Faltplan, den man netterweise in die Hand gedrückt bekommt, fanden den richtigen Raum und machten uns auf den Weg ins Erdgeschoss, wo die flämischen Meister hingen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, an einigen Altären vorbeizuhuschen, aber auf den van der Weyden war ich schlicht zu gespannt, um noch länger zu warten.
In meinem ersten Semester an der Uni (awww, ich war mal so klein) habe ich eine Hausarbeit über Hans Memling geschrieben, der vermutlich ein Schüler van der Weydens war. Bei der Recherche zu Memling blätterte ich dementsprechend oft in van-der-Weyden-Katalogen und war damals schon fasziniert von seiner Malweise. Ich meine mich daran zu erinnern, den Begriff „Meister der Tränen“ irgendwo gelesen zu haben – und ich bin für diesen Blogeintrag extra nochmal brav in die KuGi-Bibliothek gestapft –, aber ich finde das nicht mehr wieder, also bitte nicht zitieren. Die Tränen in van der Weydens Kreuzabnahme waren mir aber noch vier Jahre später im Gedächtnis, weil sie mich schon in kleinformatigen Reproduktionen beeindruckt haben. Und nun konnte ich sie endlich in Originalgröße sehen.
Ich schaute auch zuerst auf Maria, die blassgeweint am Kreuz ihres Sohnes zusammenbricht. Obwohl Jesus der bildliche Mittelpunkt ist, geht mein Blick immer zu Maria. Vielleicht weil sie aus der eher strengen Ordnung ausbricht; wo fast alle Köpfe auf gleicher oder ähnlicher Höhe sind (den Diener auf der Leiter im Bildhintergrund mal ausgenommen), ist sie von Schmerz so überwältigt, dass sie sich nicht mehr auf den Beinen halten kann. Sie wird zwar noch von Johannes dem Täufer und Maria Salome aufgefangen, aber sie scheint den beiden zu entgleiten, ihr Schmerz macht sie so schwer, so unhaltbar, während Jesus dagegen fast überirdisch leicht aussieht, als er von Josef von Arimathia und Nikodemus umfasst wird. Der Eindruck wird durch die Kleidung bzw. die fast vollständige Abwesenheit derselben verstärkt: Jesus trägt nur einen feinen weißen Schurz, während Maria in den schweren dunklen Stoffmassen fast versinkt, die sich um sie wölben und nach unten ziehen.
Ich mag die van der Weyden’schen Faltenwürfe sehr gern; sie haben noch nicht die sinnliche Stofflichkeit der Renaissance, die fast spürbare Weichheit, die zum Beispiel Raffael immer entwirft (hier eines meiner Lieblingsbilder von ihm). Bei van der Weyden sieht alles eckiger aus, scharfkantiger, als ob die Kleidung Widerstand leistet anstatt sich an einen Körper zu schmiegen. Die Personen sehen so aus, als würden sie von ihrer Umhüllung getragen und gestützt werden, fast wie ein Korsett trotz ihrer Weite. Ich mag dieses stoffliche Drama sehr gern, genau wie die vielen Details, in denen ich mich bei der Kreuzabnahme verlieren konnte: die feine Gürtelkordel von Maria Salome im grünen Kleid im Gegensatz zum schweren Gürtel von Maria Magdalena rechts im Bild, die kunstvoll gefaltete Haube von Maria Kleophas am linken Bildrand (erinnerte mich natürlich an die Berliner Dame, bei der ich mich nie an den Nadeln sattsehen kann), das reich mit Mustern bestickte Hemd des Dieners, das den Blick auf ein andersfarbiges Unterhemd freigibt, der Pelzbesatz vom Mantel Nikodemus’. Details wie das teilweise geronnene, teilweise noch fließende Blut, das an Jesus’ Körper entlangrinnt. Die Nägel, die der Diener in seiner rechten Hand hält. Und schließlich das Rankenwerk an den beiden oberen Ecken des Bildes, hinter dem ein halbes Tonnengewölbe sichtbar wird, was den Gesamteindruck verstärkt, dass diese Personen nicht lebendig und im Freien gemalt wurden, sondern Figuren in einem goldenen Kasten sind, vielleicht einem Altaraufsatz, in ihren Bewegungen erstarrt. Mich fasziniert genau dieser Gegensatz aus Steifheit und Dynamik; die Füße von Josef und Nikodemus sind verdreht, Johannes scheint gerade einen großen Schritt zu machen, der Schal des Dieners flattet hinter ihm, der violette Umhang von Maria Magdalena rutscht ihr gerade von der Hüfte, all das sollte Bewegung zeigen, aber stattdessen erschien mir das Bild überwältigend ruhig.
(Ausschnitt aus Rogier van der Weydens Kreuzabnahme, Quelle: Prado-Website, wo man sich hochauflösende Bilder runterladen darf. Danke!)
Diese Ruhe spürte ich aber erst, als ich endlich mal fast alleine vor dem Bild war. Während die Gruppen sich in dem kleinen Raum drängelten, guckte ich mir die Hl. Barbara von Campin an, die ich aus einer Vorlesung kannte; seitdem weiß ich, dass zur heiligen Barbara ein Turm als Attribut gehört – der steht hier geschickt vor dem Fenster, anstatt dass sie ihn irgendwie in der Hand hält. Im Rijksmuseum sah ich eine Hl. Barbara, die ihn als Schmuckstück um den Hals trug, das fand ich auch sehr schön gelöst. An Campins Bild haben wir noch die Glaskaraffe auf dem Sims besprochen (Gegenstände aus Glas waren relativ neu in Nordeuropa) sowie die vielen Verzierungen an Bank und Schränkchen, die das Maßwerk von gotischen Kathedralen aufgreifen.
Außerdem verliebte ich mich in diesem Raum in einen weiteren van der Weyden, wo Jesus das macht, was Kleinkinder halt mit Büchern machen: Er knittert drin rum, während seine Mutter vermutlich denkt, nee, ist klar, da hat ja nur ein armer Mönch ein Jahr dran geschrieben, mach’s ruhig kaputt; Junge, wenn du nicht der Heiland wärst, gäb’s jetzt Fernsehverbot.
Im Nebenraum guckte ich länger auf auf das Triptychon der Jungfrau von Dirk Bouts, das aussieht, als würde es aus vier Tafeln bestehen. Es zeigt das Leben der Maria, aber noch spannender als die Panele selbst waren die Bögen um sie herum, die an Tympana erinnern, in denen vom Sterben ihres Sohnes erzählt wird.
Und dann waren endlich alle Gruppen weg, ich konnte fast alleine vor der Kreuzabnahme stehen und weitergucken. Ich wollte mich eigentlich nur innerlich von dem Bild verabschieden und weitergehen, aber es war um so vieles schöner und herrlicher als ich erwartet hatte, dass mir irgendwann die Tränen kamen. Mir wurde das klar, was ich gestern bei der Guernica noch nicht verstanden hatte: dass Schmerz unverkennbar ist, ganz gleich in welcher Form er dargestellt wird. Ob man nun gläubig ist oder nicht, ob man weiß, worum es in diesem Bild geht und wie die Personen heißen (musste ich größtenteils auch nachgucken), alles egal, wenn man vor diesem Bild oder der Guernica steht, entsteht eine Verbindung vom Künstler zur Betrachterin. Man muss nicht mal versuchen zu verstehen, was man sieht – man spürt es.
(Kleiner Einschub: Ich musste an den Ausschnitt aus Doctor Who denken, in dem van Gogh sieht, wieviele Menschen er mit seinen Bildern glücklich macht. Ein Kurator erzählt, dass es einfach sei, Schmerz darzustellen – damit hadere ich noch ein bisschen. Aus der Münchner Residenz kenne ich einige Christusfiguren, die schon fast sadistisch sind in ihrer Abbildung. Sie anzuschauen fühlte sich sehr anders an als vor der Kreuzabnahme oder der Guernica zu stehen. Ich glaube, es ist eine Kunst, Schmerz so wiederzugeben, dass er nachvollziehbar ist oder sogar so, dass man mitleidet und sich ihm entziehen möchte, wie mir das am Vortag bei der Guernica gegangen ist. Schmerz so darzustellen, dass man sich entsetzt statt mitfühlend abwendet, stelle ich mir einfacher vor.)
(Ausschnitt aus Hieronymus Boschs Anbetung der hl. drei Könige, Quelle: Prado-Website)
Ein paar Räume weiter drängelte sich die nächste Menschentraube vor BoschsGarten der Lüste, das ziemlich toll ist, aber mich hat die Anbetung der hl. drei Könige noch mehr fasziniert. Eigentlich kann ich mit Bosch nicht so viel anfangen; ich glaube, den mag man in der Pubertät, wenn man Hesse liest und ahnt, was Kunst oder Literatur so können, wenn man sie lässt, aber irgendwann ist dann mal gut. Diese Meinung muss ich nun revidieren; statt des üblichen Drogenrauschs im Mittelalter sah ich hier ein unglaublich modernes Bild. Als Ausschnitt mal einen der Könige, den ich ewig angestarrt habe, weil ich dachte, oh, Kanye West. Das Flechtwerk auf der Schulter, der fransige Abschluss des Ärmels, der rote Drache auf dem Weihrauchgefäß! Oder der schwarze Diener dahinter, dessen Kopfschmuck aus einer Designsendung von heute kommen könnte. Oder die Schulterpartie des Königs in blau, leider etwas schwer zu erkennen, die aussieht, als ob man in eine Kristallkugel schaut, in der sich Szenen in einem kirchlichen Gewölbe abspielen – nicht aus Stoff, sondern wie aus einer anderen Dimension. Das war nicht der verrückte Bosch, der mich nur nervte, das war eine fast schon futuristische Detailverliebtheit, die ich noch nicht von ihm kannte.
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Auch neu entdeckt: Goya. Den hatte ich bisher immer als ja, wichtig, weiß ich, pflichtschuldig abgespeichert und man kriegt in diversen Seminaren immer wieder die Erschießung der Aufständischen am 3. Mai 1808 gezeigt, aber was so toll ist an diesem Bild, habe ich erst vor dem Original kapiert – weil es so perfekt neben dem Bild hängt, das den 2. Mai 1808 zeigt (auch im Wikipedialink zu sehen). Hier verstand ich endlich, warum Goya als der Beginn der Moderne galt. Während das Bild zum 2. Mai noch in der Tradition alter Schlachtenmalerei ausgeführt wurde, noch Pferde und Schwerter, fein gezeichnete Gesichter und Details zeigt und den Heldenmut von Soldaten abfeiert, sieht der 3. Mai ganz anders aus. Hier ist nichts mehr vom angeblich edlen Kampf zu sehen, die Figuren scheinen schneller, rascher, fast brutaler auf die Leinwand geworfen zu sein, der Bildausschnitt ist enger, alles ist düster statt hell erleuchtet, und niemand auf diesem Bild wird gewinnen. Im Zentrum steht ein Soldat, der erschossen wird; die Nähe zu Christus ist beabsichtigt, die ausgestreckten Arme und das weiße Hemd konnte ich auch schon in Reproduktionen erkennen, aber erst vor dem Original sah ich angedeutete Stigmata in der Handfläche. Zwischen den beiden Bildern besteht ein so großer Unterschied, dass ich es kaum glauben konnte, dass Goya sie zeitgleich gemalt hatte. Mit diesem Bild wird ein ganz neues Kapitel in der Kunstgeschichte begonnen, und im Prado habe ich endlich kapiert, warum.
Nebenbei: Goyas Black Paintings/Pinturas negras sind alleine schon den Besuch im Museum wert, und jetzt weiß ich auch, woher Mike Mignola die Figur des Hellboy hat.
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Meine Güte, dieser Eintrag wird schon wieder hausarbeitenlang. Hier hängt aber auch so viel tolles Zeug!
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Kurz erwähnen will ich noch Dürers Adam und Eva. Der Herr heißt in Spanien übrigens Alberto Durero, was F. und ich seitdem immer sagen, weil’s viel cooler ist. Hier hält auch Adam einen Apfel in der Hand, so dass ich mal die Interpretation wage, dass nicht nur Eva an allem schuld ist – oder sogar eher Adam, weil der Trottel ihr das Obst aufgedrängt hat, wer weiß das schon, man war ja nicht dabei.
Worüber ich mich sehr gefreut habe: dass ich endlich einen Cotán im Original sehen konnte. Sein Stillleben mit Wild, Gemüse und Früchten gilt als das erste spanische Stillleben – und schon fast als eins seiner letzten, denn er hat gerade mal sechs angefertigt. Das zweite, was im Wikipediaeintrag über ihn verlinkt ist, habe ich im zweiten Semester in einer Vorlesung gesehen und seitdem nicht mehr aus dem Kopf gekriegt. Ich finde es so clever, Dinge aufzuhängen und in eine strenge Ordnung zu bringen anstatt wie sonst in Stillleben alles zu Türmchen und Bergen aufzuhäufen, um Pracht und Reichtum zu zeigen. Cotáns Abbildung ist streng und ordentlich und kommt mir wie aus der Zeit gefallen vor. (Hier sieht man schön, wie sich Hamen Y Leon knapp 30 Jahre später von ihm inspirieren hat lassen.)
Neu entdeckt habe ich José de Ribera, dessen Einsatz von Licht und Schatten natürlich von Caravaggio inspiriert wurde, aber mir schien es hier noch kantiger, nicht so weichgespült, nicht auf Effekt und Pose hin gearbeitet. Mir hat besonders seine Darstellung von Jakob gefallen.
Und irgendwann landeten wir dann bei dem Bild, über das die Kunstgeschichte seit Jahrhunderten brütet: den Las Meninas. Ich erwähnte gestern bereits, dass ich die Guernica erst von der Seite sah anstatt frontal, was den Eindruck aber nicht schmälerte; im Gegenteil, ich hatte das Gefühl, dass ich mich erstmal an das Riesending rantasten durfte. Auf die Las Meninas steuerten wir geradeaus zu, als wir den betreffenden Saal betraten und das verstärkte den Bildeindruck ganz wunderbar. Ich persönlich brüte nicht mehr über das Bild, ich glaube, dass Velázquez im Bild das Königspaar malt, das im Spiegel zu sehen ist und wir als Betrachter*innen kurz dessen Position einnehmen. Auch deswegen ist es so irritierend, auf das Werk zuzugehen, weil man die ganze Zeit das Gefühl hat, Velázquez beobachtet einen. Wenn die Mona Lisa einen die ganze Zeit anschaut – so wurde mir das jedenfalls erzählt –, ist das bestimmt nett, aber hier guckt einen ein konzentrierter Maler an, der gerade seinen Job erledigen will, könnten wir bitte mal stillstehen? Und komischerweise macht man als Betrachterin ja auch genau das: Man steht still vor dem Bild. Tolles Ding.
F. und ich verglichen die weiteren Königsporträts im Saal, bedauerten den armen Hund am unteren Bildrand – F. hatte sich ein paar Säle vorher in einen traurigen Goya-Hund verguckt und litt seitdem vor sich hin –, dann ließen wir Rubens links liegen, bewunderten noch ein paar Raffaels und machten bei den Venezianern schlapp. Ich jedenfalls. Nach fünf Stunden wollte und konnte ich nicht mehr, aber wir hatten fast das ganze Museum geschafft und das sogar konzentriert. Damit hätte ich überhaupt nicht gerechnet, aber es zeigte mir, wie spannend die Hängung war, wie gut man sich bewegen konnte, wieviele Querverbindungen man ziehen konnte – und dass man eben auch einfach mal irgendwo durchrennen konnte, ohne das Gefühl zu haben, etwas zu verpassen. Man sieht unglaublich viel und es hat mir sehr viel bedeutet, hier gewesen zu sein. Da fahre ich auf jeden Fall noch mal hin. Alleine für den knitternden Jesus.
Nachtrag: Was schön war, Montag, 10. Oktober 2016 – Madrid, Tag 1
F. und ich verbrachten im September letzten Jahres einige Tage in Amsterdam mit Kunstgucken, ein bisschen Sterneessen und Rumliegen (letzteres mehr von mir als von ihm wahrgenommen). Vor einigen Wochen meinte der Mann dann so, lass uns doch vor deinem Semesterbeginn wieder ein paar Tage in eine schöne Stadt fahren. Ich so: Vielleicht Paris, damit ich mir endlich mal die Mona Lisa angucken kann? F. so: Vielleicht Madrid, damit du dir endlich mal Guernica angucken kannst? Ich überlegte ungefähr eine Sekunde und dann sagten mein Bauch und ich: Madrid.
Spanien stand, wenn ich ehrlich sein darf, noch nie auf meiner Urlaubsliste, aber das Stichwort Guernica reichte, um es da satt draufzupacken. Die Guernica begleitet mich seit fast 40 Lebensjahren, denn sie ist eins der Bilder in meinem allerliebsten Kinderkunstbuch, über das ich hier schon mal kurz schrieb. (Ich möchte inzwischen allerdings den letzten Absatz streichen.) Eltern – wenn ihr dieses Buch noch auf eBay findet: kaufen und verschenken. Das dauert vielleicht 40 Jahre, bis der Nachwuchs Kunstgeschichte studiert, aber es ist wirklich ein tolles Ding.
Nur wegen dieses Buchs saßen F. und ich Montag dann in einem Iberia-Flieger, der uns nach Madrid brachte. Iberia hat anscheinend nur kleine und satte Kunden; ich (knapp unter 170 cm groß) bin noch nie mit den Knien schon in normaler Sitzhaltung an den Vordersitz gestoßen – hier schon. Ich hatte immerhin den Fensterplatz, so dass ich irgendwie seitwärts oder mit einem ausgestrecken Bein sitzen konnte, aber ich weiß echt nicht, wie Menschen über 1,80 das aushalten. Verpflegung gibt’s an Bord nur gegen Bares, und es läuft die ganze Zeit Musik; super, wenn man schlafen möchte, um die unbequeme Sitzhaltung zu vergessen. Dafür war der Flug natürlich billiger als die Lufthansa, aber beim nächsten Mal werfe ich lieber wieder Geld raus.
Außerdem – aber das ist vermutlich nicht die Schuld von Iberia – legte mein Hardcoverbuch aus der Unibibliothek eine sehr seltsame Verhaltensweise an den Tag: Nach gut einer Stunde in der Luft bog sich das Cover leicht nach oben. Im Hotelzimmer war alles wieder normal. Auf dem Rückflug passierte dasselbe: in der Luft verbogen, in der S-Bahn vom Flughafen München nach Hause wieder gerade. Keine Ahnung, was das war. Seltsamer Bibliothekskleber, der nicht auf 10.000 Meter Höhe eingestellt ist?
In Madrid landeten wir am recht neuen Terminal 4, bei dem ich Wetten darüber abgeschlossen hätte, dass Santiago Calatrava es gestaltete; die hätte ich aber verloren – Richard Rogers und Estudio Lamela waren es. Sowohl Abflug- als auch Ankunftshalle sind im Gatebereich eine einzige große Halle mit geschwungenem Dach und hohen Stützen. Was mich so fasziniert hat: wie ruhig es war. Das mag an den wenigen Lautsprecherdurchsagen liegen – am Abflugstag hörte ich eine Ansage, dass kein Boarding angesagt würde, was ich ziemlich okay finde; an Bushaltestellen blökt ja auch niemand über Mikro, dass jetzt die 5 nach Nedderfeld kommt –, aber ich glaube, es liegt an der Höhe und eben den Dächern. Eine sehr angenehme Atmosphäre.
Vom Terminal brachte uns die Cercanías (we call it S-Bahn) bis Atocha. Dass wir ausgerechnet dort, quasi direkt am Bahnhof, ein Hotel gefunden hatten, freute mich, weil ich vor einiger Zeit das schöne Leaving the Atocha Station von Ben Lerner gelesen habe. Es geht um einen amerikanischen Autoren, der ein Literaturstipendium erhalten hat und nun in Madrid sitzt und nicht schreiben kann. Spanisch kann er auch nicht besonders gut, und das waren die Stellen, die mir im Buch mit am besten gefallen haben – wenn er beschreibt, was er glaubt zu verstehen. Das wird im Laufe des Buches immer weniger, er findet, im wahrsten Sinne des Wortes, eine Sprache. Ein Beispiel, wie schön ambivalent dieses Halbverstehen klingen kann: „He told me he owned or worked at a gallery in Salamanca, the ritziest neighborhood in the city, and that his brother or boyfriend was either a famous photographer, sold famous photographs, or was a famous cameraman.“
Das Hotel Mediodia sieht von außen weitaus toller aus als es innen ist, aber ich kann es trotzdem weiterempfehlen: sauber, richtig gute Betten, quasi direkt am Bahnhof, lauter puschelige Fukanos vor der Tür und nur eine Minute Fußweg zur Reina Sofia – da hängt Guernica –, aber recht hellhörig und, totaler Minuspunkt, beim so halbwegs okayen Frühstücksbuffet gibt es kein vorgeschnittenes Obst. Das muss ich als Im-Urlaub-morgens-Müsli-oder-Cornflakes-mit-Obst-drin-Esserin anprangern. Dafür gibt es überraschend wohlschmeckenden Kaffee aus einer Metallbox, die mindestens 100 Liter fasst und auch noch warme Milch spendet. Das hat mich damit versöhnt, morgens immer abwechselnd einen Löffel Schokopops zu essen und dann in einen Apfel beißen zu müssen.
Aber wie gesagt: eine Minute vom Museum weg. Das da oben links ist es mit seinen zwei transparenten Außenfahrstühlen, bei denen ich dann halt zur Wand geguckt habe, am nächsten Morgen bei schönerem Licht aus dem Hotelzimmer raus fotografiert. Apropos Fahrstuhl: Als wir im Museum nach oben fuhren, stiegen wir zu zwei asiatisch aussehenden Herren und nach uns kamen noch zwei weitere Gäste (vom Akzent her Amerikaner*innen). Der eine asiatische Herr hatte die ganze Zeit den Finger auf dem „Tür bleibt offen“-Knopf, bis alle drin waren und drückte ihn wieder, als wir ausstiegen. Bis vor kurzem hätte ich das einfach als höfliche Geste abgespeichert, aber inzwischen weiß ich: Das gehört sich in Japan so.
F. und ich begannen im zweiten Stock, wo hauptsächlich spanische Malerei des 20. Jahrhunderts hängt. Um eine Pointe schon vorwegzunehmen – für mich blieb es fast das einzige Stockwerk, ich wollte nach der Guernica nicht mehr viel sehen, schlenderte noch halbherzig durch eine Retrospektive von Marcel Broodthaerst, war aber nicht mehr bei der Sache, während F. sich noch spanische Kunst nach 1945 gab. Die nehme ich dann nächstes Mal mit.
Ich mochte die dämmerige, unscharfe Abgewandtheit von Isidre Nonells Head of a Gipsy Woman – ich habe mir nur die englischen Titel notiert, weil ich die spanischen nicht verstanden habe – und verliebte mich in die lesende Dame von Julio Romero de Torres, von dem ich dringend noch mehr sehen möchte. Das sieht man am Bildschirm nicht ganz so schön, aber die Lampe und die Tischoberfläche schimmern in einem irritierend modernen Mintgrün, das mich sehr fasziniert hat. Die Dame, die selbstbewusst dem male gaze widersteht, natürlich auch.
In einem weiteren Raum gab es Dada – okay, das ist jetzt nicht ganz spanische Malerei des 20. Jahrhunderts, aber ich mochte es sehr, dass ein Dadagedicht ständig über Lautsprecher eingespielt wurde. Der ganze Raum bekam so eine zusätzliche Dimension, die einem half, die Bildwerke … nicht zu verstehen, aber sich ihnen zu nähern. Ich huschte nur durch Miró (ist nicht so meins), weil ich aus einem weiteren Raum Wagner hörte; das war natürlich Buñuels Andalusischer Hund, neben dem aber noch zwei Dalís hingen, von dem ich auch nicht unbedingt eine Freundin bin, aber die beiden Werke gefielen mir gut so zwischen Kubismus und Surrealismus. Den Link unter „zwei Dalís“ mal kurz anklicken, dann sieht man eine hübsche Eigenart der Website des Museums: eine nach Sälen geordnete Auflistung aller Werke. Vorbildlich. Man durfte in den meisten Räumen ohne Blitz oder Stativ fotografieren, bei der Guernica allerdings nicht, was ich sehr okay fand.
Von Ignacio Zuloaga ist mir Bleeding Christ aufgefallen, bei dem mir der titelgebende Jesus fast wie Staffage vorkam und nicht wie das zentrale Motiv. Das Bild wirkt auch durch seine Größe (248 x 302 cm); es nimmt eine ganze Wand eines kleinen Nebenraums ein und wirkt dadurch noch pastoraler – obwohl Christus hier nicht über den Menschen steht (wie wenn er sich am meist hoch aufragenden Kreuz befindet), sondern auf Augenhöhe. Aber auch die ist hier kaum gegeben, weil sein Gesicht völlig verdeckt ist. Wie gesagt: Staffage. Spannend.
Nebenbei: Die genannten Herren kannte ich alle nicht. Ähem. Auch den nächsten nicht: Von Óscar Domínguez beeindruckten mich mehrere Bilder, obwohl sie surrealistisch sind (man ahnt es schon: nicht so meins). Am besten hat mir Guanche Cave gefallen, weil es bedrohlich ist (die kleine Figur oben, unter der so vieles schlummert), aber gleichzeitig befreiend (die kleine Figur oben, unter der so vieles schlummert). Am liebsten mochte ich dann, bevor ich mich endlich zu Picasso traute, die Telluric Art, die mit weichen, geometrischen Formen und Erdtönen einen ganz eigenen Eindruck der spanischen Landschaft wiedergibt.
Und dann kam die Guernica. So sieht der Raum aus, in dem sie hängt; um diesen Raum herum befinden sich weitere kleinere, die dem spanischen Pavillon von 1937 des Pariser Salons nachempfunden sind. Man kann den großen Raum von zwei Seiten betreten; ich wusste nicht genau, was mich erwartete, F., der schon mal dort gewesen war, ließ mich auch alleine durch die Gegend wandern, wofür ich sehr dankbar war. Wie gesagt, dieses Bild ist eines der ersten, das ich explizit als Kunst wahrgenommen habe; ich weiß, dass es ein wichtiges Bild ist, ich weiß, wie einflussreich es ist, ich kenne seine Details sehr gut, weil ich das Bild sehr oft angesehen habe. Aber eben noch nie in seiner ganzen Größe.
Ich wusste nicht genau, in welchem der Räume das Bild hing, also ging ich ziellos und sah es zum ersten Mal von der rechten Bildseite aus und nicht frontal, was die zweite Möglichkeit gewesen wäre. (Wie groß der Unterschied vielleicht hätte sein können, fiel mir einen Tag später im Prado vor Las Meninas auf.) Aber so sah ich es eben im Anschnitt, natürlich sieht man es schon, bevor man im Raum steht, das ist bei den gewaltigen Ausmaßen auch kein Wunder. Ich hatte mich auf eine starke emotionale Reaktion eingestellt – ich kenne mich ja inzwischen ein bisschen –, aber in den ersten Minuten mit dem Bild war ich ganz die brave Kunsthistorikerin. Das Museum war nicht sehr voll, mit mir standen nur wenige Menschen vor der riesigen Leinwand. Rechts und links neben dem Bild saßen zwei Aufpasserinnen, die uns zuguckten, wie wir Picasso anschauten. Das irritierte mich etwas, das Bild sah so bewacht aus, das hatte einen ganz leicht militärischen Touch, was mich im Bezug auf den Bildinhalt nachhaltig verwirrte. Das war natürlich nicht so gemeint und klar ist es schöner, da zwei Aufpasserinnen hinzusetzen und einen kleinen metallenen Abstandshalter in Kniehöhe zu ziehen anstatt das ganze Bild unter Panzerglas zu packen, damit ihm nichts passiert, aber die beiden erinnerten mich spontan an Soldaten an Ehrenmalen, und das störte irgendwie.
Das konnte ich aber irgendwann in den Hinterkopf packen, auch wenn ich immer noch darüber nachdenke, ob die beiden wohl ein Blog schreiben über Menschen, die sich Picasso angucken (People looking at Guernica). Ich finde, das sollten sie tun. Egal. Ich schweife schon wieder ab, dabei ist mir das vor dem Bild gar nicht so gegangen. Dort fuhr ich mit den Augen erstmal die ganzen Details ab, die ich schon so lange kenne. Als Kind fand ich die Lampe mit den gezackten Lichtstrahlen sehr unheimlich; Licht ist doch nicht zackig, das ist doch da und überall und weich und hell, aber doch nicht so scharf und gemein. Das zerbrochene Schwert habe ich, glaube ich, schon als Kind verstanden, genau wie die generelle Aussage, das hier Menschen fürchterlichen Schmerz empfinden. Im Kunstbuch stehen ein paar Zitate von Kindern; eins meinte, es sehe dort aus wie in der Hölle. Das Detail, was mich immer fertig macht, ist die Mutter mit dem leblosen Kind im Arm am linken Bildrand; die leeren Augen sind für mich der Teil des Bildes, der mir am stärksten in Erinnerung geblieben ist. Wie viel man sagen kann mit einer Leerstelle.
Was ich bisher noch nie sah: Zwischen dem Stier und dem Pferd befindet sich ein Vogel, der schwarz auf schwarzem Grund gemalt wurde. Der ist mir auf Reproduktionen noch nie aufgefallen.
Ich stand recht lange einfach nur da und guckte, ging die ganzen knapp acht Meter Leinwand nach und nach ab, schaute das Bild frontal an, ging nach rechts, nach links, ging weiter weg, ging näher heran, ließ anderen Besucher*innen den Vortritt, ging aber nicht weg. Es kam keine große Emotion, ich merkte aber, wie ich sehr tief atmete – und wie weh es tat, dieses Bild anzuschauen, auch wenn man es schon so oft gesehen hat. Die Traurigkeit, die in mir aufstieg, kam, so dachte ich, nur bedingt durch das Bild, sondern eher durch das Wissen, was es beschreibt, was Menschen anrichten können, wie wenig sie lernen oder lernen wollen, wie sehr sich der Bildinhalt wiederholt, immer und immer wieder. Ich schaute auf das tote Kind mit den leeren Augen und dachte an Alan Kurdi und den blutüberströmten Jungen in Aleppo. Und dann musste ich weg von dem Bild, weil ich plötzlich überfordert war von der Macht und der Größe des Schmerzes, die sich von der Leinwand auf mich übertrug.
Seit ich studiere, höre ich keine Audioguides mehr und lese auch selten etwas nach, wenn mir ein Bild in einem Museum gefallen hat (außer für Hausarbeiten); ich habe auch jetzt beim Verlinken nicht durchgelesen, was zu den Werken auf der Website steht. Ich gucke inzwischen einfach. Ich komme in einen Saal, sehe drei, vier Bilder, die ich anschauen möchte, und das mache ich dann, der Rest wird ignoriert. Ich kann nicht alles in einem Museum anschauen und inzwischen will ich das auch gar nicht mehr. Ich gehe also irgendwo hin, stelle mich vor eine Leinwand und lasse das Werk etwas mit mir machen. Oder auch nicht; es gibt genug Bilder, die nichts in mir auslösen. Deswegen freue ich mich, wenn ein Bild etwas bewegt. Vor Guernica war ich allerdings erschrocken, wieviel ein Bild machen kann, da musste ich irgendwann wirklich weggehen, weil ich sonst im Museum angefangen hätte zu weinen. Ich glaubte, wie gesagt, dass es eher das Wissen um die unendliche Blödheit der Menschen war, die mich so fertiggemacht hat, aber als mir einen Tag später im Prado vor Rogier van der Weydens Kreuzabnahme unerwartet die Tränen kamen, merkte ich, nee, das ist schon das Bild. Das sind zwei Bilder, die ganz schlicht und gleichzeitig fürchterlich brachial Schmerz zeigen. Der Grund für diesen Schmerz ist egal, ob es jetzt Krieg ist oder der Tod des eigenen Kindes, selbst wenn man gar nicht weiß, was überhaupt dargestellt wird, spürt man den puren, gewaltigen Schmerz. Der kommt in der Guernica durch die Abwesenheit jeder Farbe und irreale, verstörende Details zum Ausdruck, in der Kreuzabnahme durch eine überirdische Schönheit, leuchtende Farben und Detailtreue, die zwei Bilder könnten kaum unterschiedlicher sein. Aber sie zeigen eine so starke Emotion, der ich mich irgendwann nicht mehr entziehen konnte. Bei der Guernica konnte ich mich noch abwenden, sie verdrängen, aber einen Tag später holte sie mich wieder ein. Verdammte Kunst. Großartige Kunst.
Hausarbeit zum Seminar „Kindheit und Jugend im 19. Jahrhundert“
Ich freute mich ja bereits über die 1,0 für meine Arbeit zu Festen im Bürgertum, in denen ich mich besonders mit der Rolle der Kinder sowie Geschlechterstereotypen befasse. Jetzt freue ich mich auch über das Gutachten des Dozenten. Ich zitiere auszugsweise:
„Neben ihrer Leitfrage stellt [die Verfasserin] in der Einleitung die Quellen- und Literaturgrundlage der Arbeit vor […]. Sie ordnet ihre Überlegungen umsichtig und differenziert in die Festkultur- und Bürgertumsforschung ein, ebenso bezieht sie Überlegungen der Volkskunde mit ein.“
Das mit der Volkskunde hatte mir meine geschätzte Korrekturleserin auch schon gesagt – ich weiß gar nicht, wo ich das gemacht habe. *googelt „Volkskunde“*
„[Die Verfasserin] setzt sich intensiv mit Deutungen der zugrunde gelegten Literatur auseinander, gibt Thesen wieder, formuliert eigene, die sie aus der konkreten Arbeit mit den autobiographischen Quellen gewinnt. Dies geschieht jederzeit quellenkritisch und reflektiert (Beispiele: S. 3, 8, 10, 17), stets die Leitfrage im Blick behaltend. Ihre differenzierten Ergebnisse bündelt sie im Laufe der Arbeit in Zwischenfaziten und in einer sehr guten Zusammenfassung (durch die emotionale Hinwendung zum Kind wird dieses gleichsam wichtiger Teil bürgerlicher Selbstinszenierung; die Feste folgen einer zunehmend ähnlicher werdenden Ästhetik). Die Arbeit ist formal gelungen und liegt sprachlich deutlich über dem Durchschnitt von Vertiefungskursarbeiten.“
Die Seitenzahlen beziehen sich auf die Fußnoten 5, 48, 62 und 110, jedenfalls sind die in der handschriftlichen Korrektur angestrichen. „Vertiefungskurs“ stimmt bei mir nicht ganz; wenn ich im BA gewesen wäre, wäre das ein Vertiefungskurs gewesen, im MA ist es mein Grundlagenkurs, aber das ist egal. Die Bezeichnung sagt nur, dass sich das Seminar an fortgeschrittene Geschichtsstudis richtet. Auch deshalb freue ich mich darüber, dass meine sprachlichen Fähigkeiten gewürdigt werden. Im mündlichen Gespräch meinte der Dozent noch etwas in der Richtung „hat Spaß gemacht, die Arbeit zu lesen.“ Das Kompliment gab ich zurück: Es hat Spaß gemacht, die Arbeit zu schreiben, weil ich in diesem Kurs sehr viel gelernt und noch mehr mitgenommen habe.
Wer auch ein bisschen Spaß haben will: Die Arbeit steht hier.
Was schön war, Samstag, 10. September 2016 – Worte finden
Gestern konnte man mir auf Twitter beim Denken zuschauen. Ich hatte in den Unterlagen von Weldens einen Bericht gefunden, in dem er seinen Atelierinhalt beschreibt, der bei einem Bombenangriff auf München im Oktober 1943 zerstört wurde. Die erste Seite von vieren fehlte, auf der vielleicht eine Adresse oder ein Empfänger gestanden hätte. Ich wusste nicht, für wen man derartige Berichte verfasst – eine Versicherung schien mir eher unwahrscheinlich. Aber für wen dann? Wieder ein Aspekt der NS-Zeit, mit dem ich mich noch nie beschäftigt hatte – dem Bombenkrieg. Also ab in die schlaue Bibliothek und los mit dem Denken.
Okay, ins Denken musste ich erst langsam reinkommen.
Wie JEMAND mal in die Stabi fuhr und erst am Schließfach merkte, dass JEMAND eigentlich ins Historicum wollte.
Dann fiel mir eine Floskel auf, die ich dauernd benutze, die mir auf einmal sehr unpassend erschien. Die müsste ich mir in der Werbung angewöhnt haben, wo sonst überhöht man nutzlosen Scheiß bis ins Unermessliche.
Gewöhne mir gerade die Floskel „ist nicht kriegsentscheidend" ab, wenn ich keine guten Belege finde. pic.twitter.com/ndoLNbOMdP
Das Buch Als Feuer vom Himmel fiel fand ich, der Titel lässt es schon ahnen, eher populärwissenschaftlich, die Aufsätze waren teilweise eher angerissene Gedanken, Fußnoten gab’s auch kaum. Bombenkrieg gegen Deutschland ist schon recht alt (1990, wenn ich mich richtig erinnere), daher blätterte ich das auch eher durch. Viel Bildmaterial, das ich interessant fand, meine Frage aber nicht beantworten konnte. Neben diesen Büchern stand übrigens David Irving im Regal, der sicher was total Sinnvolles zum Bombenkrieg zu sagen hatte. *hust*
Immerhin fand ich beim Durchblättern das Stichwort „Entschädigung“, und so googelte ich einfach mal nach „bombenschaden entschädigung“ oder ähnlich. Dabei stieß ich auf diesen Spiegel-Artikel, wo das Stichwort „Fliegerschadenstellen“ fiel. Das klang gut, das hätte ich gerne als anständige Quelle. Außerdem fand ich bei Google einen Bund der Fliegergeschädigten; den kannte ich auch noch nicht.
Ich griff zum Buch Fliegerlynchjustiz, eine sehr aktuelle Dissertation, die vielversprechend erschien und sehr lesbar war. Das Buch erwies sich auch in anderer Hinsicht als positiv – ich las, meiner Meinung nach das erste Mal, die Formulierung „Juden und Jüdinnen“, „Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen“ etc. Geschlechtergerechte Sprache in der Wissenschaft. Dass ich das noch erleben darf. Wurde sofort vertwittert, worauf sich das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit aus Berlin meldete:
In diesem Buch fand ich zwar keine „Fliegerschadenstelle“, aber immerhin den Hinweis, dass Fliegerangriffe der Alliierten seit 1942 im offiziellen Sprachgebrauch „Terrorangriffe“ hießen, was sich schnell in der Umgangssprache durchsetzte (S. 114). Damit erklärt sich auch die Überschrift des Berichts von Weldens, der ihn mit „Sachschaden durch den Terrorfliegerangriff München am 2/3. Oktober 1943“ überschrieben hatte.
Für meine Zwecke war dann das ebenfalls gut lesbare Volksgenossinnen an der Heimatfront perfekt; in ihr fand ich den Begriff des „Kriegsschädenamts“, dessen Bestände brav im Münchner Stadtarchiv liegen. Wäre interessant zu sehen, ob der Bericht von Weldens sich dort wiederfindet.
Ich fügte die neuen Erkenntnisse meiner Arbeit hinzu und musste an eine DM denken, die mir F. vor ein paar Tagen geschickt hatte. Er kennt mich so gut.
Gemeinsam aufwachen.*
Eiskaffee.
Bei der Bundesliga einschlafen.
Rührei, selbst bei 30 Grad, Rührei, Kinnings!
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* Ja, das steht hier neuerdings öfter, auch gerne in der Variante „Gemeinsam einschlafen“. Mir ist in den letzten zwölf Monaten aufgefallen, dass das schlicht das größte Glück ist, für das ich nichts tun kann. Meine anderen Glücksmomente kann ich mir erarbeiten, ich kann lernen und lesen und Ausstellungen angucken oder den Sonnenuntergang, ich kann Wein und Käse kaufen, kochen (RÜHREI!), radfahren oder einfach auf meinem Sofa sitzen, meine Bücherwand anschauen und mich darüber freuen, dass ich gesund bin und ein Dach über dem Kopf habe. Okay, Gesundheit kann ich mir auch nur mittelbar erarbeiten, die ist auch Glückssache. Aber dieses Ding namens Liebe, darauf habe ich keinen Einfluss, ganz egal wie sehr ich mich selbst optimiere und wie oft ich auf Tinder bin. Unter 3,5 Milliarden Männern einen zu finden, der einen toll findet und den man selber toll findet – das ist pures, blödes Glück. Ich glaube, ich habe das in meiner letzten Beziehung manchmal vergessen. Das soll mir nicht noch mal passieren.
Ich habe erstmals Feedback auf kunsthistorische Texte bekommen, die ich nicht für die Uni geschrieben habe. Also Feedback im Sinne von Lektoratskorrekturen sowie einem abschließenden Urteil von derjenigen, der ich den Auftrag zu verdanken habe.
Die Korrekturen waren für mich spannend, weil sie offensichtlich von jemandem kamen, der sich mit dem betreffenden Feld der Kunstgeschichte gut auskennt; sie haben meinen Text deutlich besser gemacht. Auf 36 Seiten habe ich bis auf eine einzige Korrektur alles abgenickt. Ich mag es, wenn man sieht, was aus den eigenen Worten werden kann, wenn noch jemand anders drübergeht, und so viel professionelle Distanz muss sein, dass man jemandem vertraut, der einem sagt, nee, Hase, lass uns diesen Satz mal komplett umbauen, denn meisten hat derjenige recht, während man selbst vor lauter Worten den Punkt am Ende des Textes nicht mehr sieht. Schmerzhaft grinsen musste ich darüber, dass ein Werk laut meinen Worten „Potenz“ statt „Potenzial“ hat, irgendwas zu werden, was natürlich geändert wurde.
Auch aus diesem Grund – alberne Wortfindungsstörungen – lasse ich meine Uni-Arbeiten gegenlesen. Nur im Blog müsst ihr mit der ungefilterten Anke leben, aber das scheint auch ganz okay zu sein, schließlich kriege ich Bücher und Schnaps von euch.
Das abschließende, sehr gute Feedback per Mail hat mich dann mit freudig roten Bäckchen vor dem Rechner sitzen lassen. Ich habe etwas länger darüber nachgedacht, warum mich dieses Lob so gefreut hat, denn dass ich anscheinend einen guten Job mache, durfte ich schon öfter hören. Es fiel mir erst Stunden später ein: weil es das erste Lob war, das mein altes mit meinem neuen Leben verbindet. Dass ich ein disziplinierter Textprofi bin, der für Geld mit Deadlines und Korrekturanforderungen klarkommt – geschenkt. Aber dass ich inzwischen auch fachlich korrekte und gut lesbare kunsthistorische Texte abliefern kann, die nicht nur meine Dozierenden freundlich abnicken – das war neu.
Den Kopf ausmachen, nichts berufliches lesen, nichts für die Uni lesen, lange schlafen, Olympia gucken, dank der Rolläden und meiner konsequenten Fenster-zu-Politik eine kühle Wohnung haben, während es draußen 26 Grad warm war. Abends zum Lieblingsmenschen gehen (schmerzfrei, entspannt, im eigenen Tempo, im Flatterrock und mit unfassbar unmodernen, aber herrlich bequemen Trekking-Sandalen), auf dem Alten Nordfriedhof mal wieder ein wunderschön von Moos bewachsenes Grab sehen, das mir noch nie aufgefallen war … (gleich mal instagrammen) …
… ein paar Pokémon fangen, dann den Abend zu zweit (ohne Pokémon) auf dem Balkon verbringen, meine mitgeschleppte Guacamole mit Brezn essen, Pfefferkäse, Gemüsesticks, Sauvignon blanc und Sonnenuntergang. Gemeinsam einschlafen.
Liebes Tagebuch, das war ein sehr schöner Tag, an dem ich quasi nichts Sinnvolles gemacht habe außer glücklich zu sein. Moment, ich streiche das „nichts Sinnvolles“ mal extra dick durch.
Was schön war, Donnerstag, 4. August 2016 – Bibliotheksliebe (Business as usual)
Sechs Stunden konzentriert und zufrieden in der Stabi gesessen und gearbeitet. Mein Hauptteil wächst, gut zwei Drittel der Arbeit sind fertig – also fertig im Sinne von „da gehe ich jetzt noch 20 Mal rüber.“ Ich habe gestern eine Quelle Zeile für Zeile ausgewertet, und so sehr ich mich anfangs über ihren Fund gefreut habe, desto misstraurischer wurde ich, je länger ich an ihr rumklöppelte. Die ist einfach zu sehr auf den Punkt, an ihr kann ich fast jedes Thema, das wir im Kindheitsseminar hatten, und nicht nur meines, nachweisen. Das beunruhigt mich jetzt, auch wenn ich weiß, warum in ihr so viel drin steht. Quasi Münchhausen-Syndrom, auf Quellen bezogen.
Außerdem freute ich mich über eine schöne Buchgestaltung. Nein, dieses Buch ist nicht meine Hauptquelle, ich werte es nur unterstützend aus. Wie auf der BSB-Website unter „Mehr zum Titel“ vermerkt ist, stammt das Buch aus dem Bestand der Ordensburg Sonthofen. Ich komme derzeit vom NS-Thema echt nicht weg. (Ich möchte jetzt nicht darüber nachdenken, wie es eventuell in den Bestand von Sonthofen gekommen ist.)
Mal wieder den Wikipedia-Eintrag zur Stabi durchgelesen und ehrfürchtig geworden. Ja, digital ist super, aber können wir bitte nie aufhören, Dinge aus Papier zu sammeln? Was ich durch den Eintrag auch gelernt habe: Wenn ich im Lesesaal sitze, sitze ich in einem Gebäude von Sep Ruf.
Im Hintergrund weitere Lebenserinnerungen von Menschen, die im 19. Jahrhundert ein Kind waren. Dazu mein Fächer, ohne den ich im Sommer nie aus dem Haus gehe.
Diese mit feinen Blütenranken bedruckte Vorschaltseite fühlt sich übrigens wie Stoff an, nicht wie das übliche Bibelpapier. Sowas hatte ich noch nie in der Hand.
Danke für eure Kommentare auf Twitter zum oberen Bild, die ich natürlich gleich für die Powerpoint zu meiner Rede verwurstet habe. Mein Vater hat sich besonders über „swag, style, hot sauce“ gefreut, das ich frei mit „heißer Feger“ übersetzt habe.
Mal wieder im Heimatdorf zu sein und es dieses Mal – gefühlt zum ersten Mal – mit (kunst-)historischen Augen zu sehen. Zumindest den alten Dorfkern, durch den ich gestern aufmerksam spaziert bin. Ich bin hier großgeworden, und wie immer, wenn man an den Ort der Kindheit zurückkehrt, kommt einem alles viel kleiner vor. Den Schuster und den Schlachter meiner Kindheit gibt es noch, den stets frequentierten Supermarkt nicht mehr, dafür gibt es einen anderen. Der Laden, in dem ich meinen ersten Judoanzug bekommen habe, ist nicht mehr da, dafür gibt es jetzt Kunstgalerien und Cafés. In einem Haus wechseln die chinesischen Restaurants alle Jahre durch, aber es ist eben immer ein chinesisches. Alles sieht noch genauso putzig und aufgeräumt aus wie früher, und erst jetzt als Erwachsene fällt mir auf, wie wohlhabend die ganze Ecke ist.
Unser ehemaliger Hausarzt war Hobbyhistoriker und hat eine dicke Dorfchronik geschrieben, die natürlich bei mir im Schrank steht, in die ich aber nie reingeguckt habe. Das werde ich nachholen.
Die Gemeindebibliothek, in der ich meine halbe Kindheit verbracht habe. Wir hatten einen Familienleihausweis, den aber nie jemand bei sich trug, weil ich den immer hatte. Damals wurde noch in jedes Buch hinten auf einem listenartigen Zettel das Rückgabedatum eingestempelt, und ich fand es immer spannend zu sehen, ob jemand ein Buch an meinem Geburtstag zurückgeben musste und ob das Buch häufig ausgeliehen wurde oder nicht; manchmal wurde der eine, volle Listenzettel mit einem zweiten überklebt. Das fehlt mir heute etwas, dieses Gefühl, ob man ein Buch in der Hand hat, das schon viele in der Hand hatten oder nicht. Gerade bei den wissenschaftlichen Büchern, die manchmal komplett zugeschmiert sind, manchmal aber auch fast unberührt aussehen, würde es mich interessieren, wie oft sie aus dem Magazin geholt werden.
Die Kirche, in der ich getauft und konfirmiert wurde und in der ich meine Omi bei ihrer Goldenen Konfirmation begleiten durfte. Heute feiern meine Eltern Goldene Hochzeit in ihr.
Dieses Holzgiebeldetail ist mir noch nie aufgefallen.
Ich habe gelernt, dass meine Zeit an der Uni irrwitzig schnell vergeht. Gerade eben habe ich mich immatrikuliert und jetzt spreche ich mit meiner Dozentin schon das Thema für meine Masterarbeit durch. Irgendwo ist ein Riss im Raum-Zeit-Kontinuum und sein Name ist Kunstgeschichte.
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Ich habe gelernt – oder aufgefrischt –, dass es keinen schöneren Ort für mich gibt als die Bibliothek des Zentralinstituts für Kunstgeschichte. Es dauert ungefähr eine Viertelstunde, bis das Internet läuft, ich in der hauseigenen Suchmaschine rumgedengelt und danach Bücher und Zeitschriften aus den Regalen in den fünf Stockwerken an meinen Tisch geschleppt habe und anfangen kann zu arbeiten. Egal wie mies gelaunt oder traurig oder hysterisch glücklich ich ankomme, nach einer Viertelstunde steckt meine Nase in irgendwas Gedrucktem, ich sehe Bilder an und lese schlaue Worte, mein Puls geht runter und ich bin geistig an wunderbaren Orten unterwegs, die immer noch nicht langweilig werden.
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Ich habe gelernt, mein Privatleben mit dem Studium zu kombinieren. Das war das große Problem im BA-Studium und meinem Hin- und Herfliegen zwischen München und Hamburg, dass ich nirgends richtig war bzw. irgendwann bei steigendem Aufwand für die Uni lieber in München bleiben wollte, obwohl mein Privatleben in Hamburg war. Nach der Trennung von Kai war die neue Beziehung zu F. hier nicht ganz problemlos, weil es sehr ungewohnt für mich war, plötzlich beides hier zu haben. Es hätte eigentlich alles einfacher werden müssen, aber ganz so leicht konnte ich elf Jahre und alte Gewohnheiten dann auch nicht abschütteln. Kurz vor Semesterbeginn fand der endgültige Abschied von Hamburg statt, und daher war dieses Semester das erste, in dem ich komplett hier war und auch nirgends mehr hinmusste. Auch das hat mich anfangs etwas aus der Bahn geworfen, aber in den letzten ein, zwei Monaten beruhigte sich alles. Ab und zu kommt noch Traurigkeit hoch und das darf sie auch, aber im Prinzip bin ich jetzt angekommen. Und allmählich kriegt mein Kopf das auch mit, dass nicht nur ich und die Uni hier sind, sondern auch noch jemand anders. Das ist sehr schön.
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Ich habe gelernt, dass es sehr sinnvoll ist, seine Hausarbeiten ins Netz zu stellen, denn sie sind anscheinend eine hervorragende Visitenkarte. In diesem Semester habe ich erstmals kunsthistorische Texte geschrieben, die nicht für die Uni waren, und damit würde ich dann jetzt gerne öfter Geld verdienen, bitte. Das kann ich nämlich ziemlich gut.
(Ja, ich habe noch Träume.)
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Ich habe gelernt, wie toll ich es finde, in Archiven in alten Dokumenten zu blättern. Überhaupt: Archive! Bibliotheken! Dieses ganze gedruckte Wissen, das ich schon beim Überfliegen erfassen kann. So sehr ich das Digitale liebe – ich bin ein bisschen nervös darüber, dass manches nur als Pixel auf einem Bildschirm erscheint und nirgendwo fassbar außerhalb eines Servers festgehalten wird. Andererseits mag ich die Flüchtigkeit von Twitter oder ähnlichem auch gerne, und ich glaube, Historiker*innen der folgenden Jahrhunderte werden ganz froh sein, nicht durch noch mehr Zeug waten zu müssen.
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Ich habe gelernt, wie viel ich schon gelernt habe. Allmählich klappt das ganz gut, angesammeltes Wissen abzurufen und in einen neuen Kontext zu setzen. Wo ich im BA bis zum Schluss dachte, okay, ich weiß nichts, merke ich jetzt bei jedem Referat oder beim Schreiben, okay, ich weiß ein bisschen. Und wenn die Promotion durch ist, weiß ich immerhin über einen winzigen Teilbereich der Kunstgeschichte so richtig viel. Darauf freue ich mich jetzt schon.
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Ich habe (mal wieder) gelernt, dass Geschichte einen größeren Aufwand erfordert als Kunstgeschichte und ich immer ein schlechtes Gewissen gegenüber meinem Hauptfach habe, wenn ich das Nebenfach so bepuschele. Ich habe aber auch gelernt, wie sehr ich mich nach zwei Semestern Pause wieder aufs Historicum gefreut habe. Und jetzt muss ich quasi schon wieder Abschied nehmen, denn es kommt nur noch ein Semester, in dem ich in beiden Fächern Vorlesungen und Seminare habe – im Sommersemester 2017 wartet nur noch, nur noch, haha, die Masterarbeit.
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Ich habe gelernt, dass mich ein Thema so fesseln kann, dass ich es nicht loslassen möchte. Deswegen werde ich mich für die eben angesprochene Masterarbeit noch einmal mit Anselm Kiefer und Richard Wagner beschäftigen. Auf unserer schlauen Website steht, dass man Anfang des dritten MA-Semesters mit der Prüferin Kontakt aufnehmen soll wegen des Themas – schon erledigt und alles abgenickt bekommen. Check!
Ich erinnere mich an meine inneren Turbulenzen während der Hausarbeit zu dem Thema, als ich auf jeder Seite und bei jedem Unterpunkt merkte, dass ich noch so viel mehr zu sagen hätte. Ich freue mich sehr darauf, all das endlich aufschreiben zu können, und ich freue mich auch darüber, dass meine Faszination für dieses Thema gehalten hat. Innerlich hatte ich irgendwie drauf gewartet, dass mich ein neues Thema anspringt, aber nein. Kiefer und Wagner wollen noch was von mir. Wagner war bis an sein Lebensende mit einem seiner Werke nicht glücklich und meinte mal: „Ich bin der Welt noch einen Tannhäuser schuldig.“ So geht es mir mit dieser Arbeit. (Um das Ganze mal so richtig hoch aufzuhängen.)
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Ich habe gestern meinen Stundenplan fürs Wintersemester gebastelt, der mir ausnehmend gut gefällt. Und als er fertig war, war ich gleichzeitig sehr glücklich – weil er mir so gut gefällt – und sehr traurig, weil ich weiß, dass es der letzte ist, den ich noch basteln muss. Ich möchte noch nicht aufhören zu studieren, weil es noch so viel gibt, was ich studieren könnte. Falls irgendjemand mich als Speakerin für ein bedingungsloses Grundeinkommen buchen möchte – Mail genügt. Ich war trotz aller Widrigkeiten in den letzten vier Jahren mit meiner Arbeit für die Uni deutlich glücklicher als in den Jahren zuvor mit meiner Arbeit für Werbeagenturen. Ich bin dankbar für den Quatsch, den ich dort schreiben durfte, denn dieser Quatsch finanziert mir gerade fünf Jahre Studium und wenn ich nicht dauernd teuren Gin kaufen würde, auch noch mindestens ein Jahr der Promotion. Das ist toll, aber ich glaube trotzdem, dass die Welt eine bessere ist, seit ich keinen Quatsch mehr im Akkord produziere, sondern über Wagner und Kiefer nachdenke.
Ich möchte auch generell glauben, dass Menschen sich persönlich mehr und tiefergehender weiterbilden würden, wenn sie die finanziellen Möglichkeiten hätten. Das mag naiv sein, aber ja, ich glaube, dass wir alle einen besseren Tag hätten und eine bessere Gesellschaft schaffen könnten, wenn wir nicht die ganze Zeit damit beschäftigt sein müssten, Geld für Miete und DSL einzusammeln. Ich habe in den letzten Jahren mehr theoretische und/oder wissenschaftliche Texte gelesen als jemals zuvor, und ich behaupte, das hat mich zu einem reflektierteren und damit besseren Menschen gemacht. Ich wünschte, dass mehr Menschen diese Möglichkeit hätten.
Was seltsam war, Montag, 11. Juli 2016 – Stabigespräch
Ich saß morgens ab kurz nach 8 im Lesesaal der Stabi und wälzte Architekturbücher, bevor ich um 11 im Historicum sein musste. Mit den schönen Häuschen war ich schon gegen 10 fertig, danach suchte ich im Zeitschriftenlesesaal noch ein Heft, das im ZI gerade nicht im Regal war – war es hier leider auch nicht, muss ich doch bestellen. Es war kurz nach halb 11, aber ich wollte noch nicht ins unklimatisierte Historicum, wo die letzte Sitzung des Biografiekurses auf mich wartete. Also zerrte ich meine ganzen Klamotten aus dem Schließfach und setzte mich in die große Eingangshalle der Stabi, deren Türen geöffnet waren und wo ein schöner Luftzug herrschte, der bei 30 Grad Außentemperatur sehr willkommen war. Ich zog ein Buch aus dem Rucksack und begann zu lesen, als sich eine Frau neben mich setzte. Sie holte mehrere Bögen Papier aus ihrer Tasche, raschelte damit rum und fragte mich schließlich, ob ich eine Schere dabei hätte. Ich verneinte bedauernd und guckte wieder ins Buch. Und da meinte die Frau freundlich zu mir:
„Entschuldigung, wenn ich das so sage, aber wieso sind Sie so dick, wo Sie doch so hübsch sind?“
Mein erster Gedanke, den ich nicht aussprach, war BITTE WAS?!?, kombiniert mit der kurzen Überlegung, der Dame mein Buch auf die Nase zu hauen. Stattdessen sagte ich:
„Ich finde nicht, dass sich dick und hübsch ausschließen.“
„Nein, natürlich nicht, da haben Sie recht. Ich wundere mich nur – Sie gehen so selbstbewusst durch die Gegend, obwohl Sie so dick sind. Darf ich fragen, warum Sie so dick sind?“
Wieder ein Gedanke, den ich nicht aussprach: Das ist jetzt was ganz anderes als das, was zu zuerst gesagt hast, Hase. Der erste Satz lag schön auf der Linie von dem, was meine Oma mir erzählt hat, seit ich 13 war: „Du könntest so hübsch sein, wenn …“, was ich damals schon, noch Jahre vor dem bewussten Reflektieren über meinen Körper und was er anscheinend über mich aussagt, als total unangemessen empfunden habe.
Was jetzt kam, war die erstaunte Bemerkung darüber, dass dicke Menschen anscheinend selbstbewusst sein können, was in einer Gesellschaft, die Fatshaming als Diätmotivierung ansieht, zugegebenermaßen nicht ganz einfach ist. Ich fühlte mich an Mindy Kaling erinnert, die das in ihrer Autobiografie schön aufgeschrieben hatte:
„When an adult white man asks me “Where do you get your confidence?” the tacit assumption behind it is: “Because you don’t look like a person who should have any confidence. You’re not white, you’re not a man, and you’re not thin or conventionally attractive. How were you able to overlook these obvious shortcomings to feel confident?”“
Diesen Quatsch hatte die Dame sich anscheinend auch gut gemerkt und nicht mehr angezweifelt. Aber zurück zur Frage, warum ich dick bin:
„Ich esse gerne.“
Sie lachte, ja, stimmt, das täte sie auch, aber sie hadere seit Jahrzehnten mit ihrem Gewicht, sie sei jetzt fast 50 und Diäten seien seit ihrer Jugend ein Thema und sie würde das toll finden, dass ich mit meinem Körper so locker umgehe.
Vielleicht sollte ich hier erwähnen, dass die Dame natürlich gertenschlank war. Mich macht es so wahnsinnig, dass nicht nur dicke Menschen sich diesen Selbsthass anerziehen, dieses Kleinermachen, dieses Verschwindenwollen, sondern auch Menschen, denen unsere Gesellschaft nicht dauernd sagt, dass sie sie unattraktiv und bäh findet. Wobei: Frauen mit 50 sind vermutlich auch schon raus, und ich weiß das nur noch nicht. Fragt mich in drei Jahren noch mal.
Ich wusste immer noch nicht, was dieses Gespräch sollte und vermutlich habe ich auch etwas entgeistert geguckt, aber ich dachte, hey, vielleicht kann ich hier positiv auf jemanden einwirken und beantwortete daher brav weiter ihre Fragen, wie ich denn zu dieser Lockerheit und diesem Selbstbewusstsein gekommen sei. Ehrlich gesagt, war mir das bis gestern gar nicht bewusst, dass ich anscheinend diese Ausstrahlung habe, vor allem nicht bei 30 Grad mit meiner üblichen „Ich muss gleich in die Uni!“-Grundhektik und Sonnencreme im Gesicht. Aber schön zu wissen.
Ich erzählte also vom Foodcoaching, das damals den Zweck hatte, mich dünner zu machen, aber stattdessen dafür gesorgt habe, dass ich seitdem Rezepte verblogge statt Filmkritiken. Ich erzählte davon, wie schön es sich angefühlt hat, für meinen Körper zu sorgen anstatt ihn scheiße zu finden und dass dadurch ganz unwillkürlich und ohne dass ich es darauf angelegt hatte, auch das Bewusstsein seiner Stärke und seiner ganz individuellen Attraktivität bei mir im Kopf angekommen sei. Seitdem denke ich nicht mehr darüber nach, dass ich dick bin. Ich weiß, dass ich es bin, aber es ist kein Thema mehr, das mich täglich belastet. Ich brachte auch meinen Standardsatz „Dicksein ist eine Körperform, keine Charaktereigenschaft“ und der gefiel ihr gefühlt sehr. Der schien auch die Frage nach dem Selbstbewusstsein zu beantworten, denn wieso soll mich eine Körperform davon abhalten, selbstbewusst zu sein?
Die Frau bedankte sich für das Gespräch und entschuldigte sich, falls sie zu aufdringlich gewesen war. Ich kann das, ehrlich gesagt, bis heute nicht beantworten, ob sie aufdringlich war. Einerseits habe ich mich gefreut, vielleicht ein paar Vorurteile abbauen zu können, andererseits war die Einstiegsfrage selten dämlich. Ich habe aber auch erfreut gemerkt, dass mein Puls nicht sofort auf 180 war, wie er das früher war, wenn ich auf der Straße doofe Bemerkungen abgekriegt habe (seit Jahren nicht mehr) oder wie das heute noch so ist, wenn ich in Onlinediskussionen die ganzen ekligen Vorurteile über dicke Menschen lese (weswegen ich mich tunlichst aus solchen Diskussionen raushalte). Ich habe ihren ersten Satz anscheinend nicht als Angriff gewertet, sondern als dusselig formuliertes Interesse. Ich war auch während des Geprächs ganz ruhig, wo ich sonst gerne hektisch werde, um ja alle Fakten unterzubringen, die ich in Bezug auf Fatshaming, Diäten und Körperbildern seit Jahren drauf habe, damit ein weiterer Mensch auf diesem Planeten erfährt, dass Dicksein okay ist und nicht die höllische Strafe und Widerlichkeit, zu der es manche Leute machen.
Ich denke immer noch über dieses Gespräch nach und weiß noch nicht so recht, was ich damit anfangen soll. Im Laufe des Tages kamen immer wieder Satzfetzen hoch und ich wollte diese Geschichte auch abends F. gar nicht erzählen, weil sie sich so persönlich angefühlt hat und ich sie noch nicht fertig durchgedacht hatte. Ich bemerkte, dass den gestrigen Tag über keine Wut hochkam auf unsere beknackten Schönheitsnormen oder die Annahme, dass Frauen überhaupt schön sein müssen. Es kam auch keine Traurigkeit hoch, die mich manchmal noch erwischt, wenn ich darüber nachdenke, wieviel Zeit ich in meinem Leben damit verschwendet habe, mit meinem Körper oder meinen Essgewohnheiten unglücklich zu sein anstatt sie anzunehmen und mich mit ihnen zu arrangieren oder sogar anzufreunden. Es kam stattdessen eher eine Anteilnahme hoch mit all den Frauen, die noch genau da sind, wo ich vor sechs, sieben Jahren auch war: gefangen in Ansprüchen, denen ich eh nie gerecht werden kann und einem Selbstbild, das nicht von mir, sondern von anderen gestaltet wurde. Und dann doch ein bisschen Wut, dass fremde Körper überhaupt Diskussionsstoff sind. Die Dame meinte auch zwischendurch, dass sie sich freue, dass ich ihr nicht gleich an die Gurgel gegangen bin, woraufhin ich sagte, vor zehn Jahren wäre ich das. Und danach hätte ich geweint und viel gegessen, um den Schmerz loszuwerden und mir perfiderweise neuen zuzufügen, alles in einem Aufwasch, wie praktisch.
Heute genieße ich Essen als das, was es ist: Nahrung, Freude, Lust, Entspannung. Und ich genieße meinen Körper als das, was er ist: ein Teil von mir, der mich trägt und schützt, der mich aber nicht mehr definiert. Ich bin so viel mehr als er. Aber ich freue mich sehr darüber, dass man mir und meinem Körper anscheinend inzwischen ansieht, dass wir gut miteinander klarkommen.
Letzte Woche hielt ich im Esskulturenseminar mein Referat zur Frankfurter Küche. Ich schreibe hier mal die Dinge runter, die ich spannend fand bzw. die mir bei der Recherche aufgefallen sind; alles weitere steht ja in der Wikipedia.
Als Einleitung zum Referat stellte ich die Diskussion um Arbeits- oder Wohnküchen vor. Dafür recherchierte ich erstmal, wie Küchen überhaupt so aussahen. Bis ins 16. Jahrhundert spielte sich, vor allem im bäuerlichen Bereich, fast das ganze Leben in einem Raum statt: Um die Feuerstelle herum, wenn’s einem richtig gut ging, war sie ummauert, wurde geschlafen und gearbeitet, auf ihr wurde gekocht. Sie war Wärme- und Licht-, allerdings auch Rußquelle. Oft lebte in diesem Raum auch noch Kleinvieh, wurde aufgezogen, geschlachtet und weiterverarbeitet. Erst im 19. Jahrhundert und mit dem Aufkommen des Bürgertums änderte sich am Raum Küche wirklich etwas, was auch den kleineren Familien, den neuen industriellen Errungenschaften und dem neuen Wissen über Hygiene zu verdanken war.
Es entwickelten sich die schon angesprochenen Wohn- und Arbeitsküchen. In der Arbeiterklasse herrschte die Wohnküche vor; wieder wurde in diesem warmen Raum nicht nur gekocht, sondern auch gearbeitet; der Hausherr nutzte die oft vorhandene Küchenbank für ein kleines Schläfchen, generell herrschten Holzmöbel vor, die die Küche klar als Wohnraum auswiesen. Bestickte Handtücher schmückten nicht nur, sondern schützten die noch ungekachelten Wände vor Fettspritzern. Ein Badezimmer gab es nicht; in der Küche stand meist eine Blechsitzwanne. Beim Herd lief Altes neben Neuem: Es gab weiterhin die gemauerten Feuerstellen, weiterhin gab es gekachelte Öfen mit einer Eisenplatte, auf der gekocht wurde, und im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts kam ein tragbarer Eisenherd, die sogenannte Kochmaschine, in Mode. Seit 1807 war Gas in Städten zur Beleuchtung verwendet worden, zum Kochen wurde es ab den 1880er Jahren verwendet. Für den elektrischen Strom wurde ab den 1890er Jahren geworben, er blieb aber lange Zeit teurer als andere Heiz- und Kochmittel, was auch die Akzeptanz der Frankfurter Küche beeinflussen sollte.
Fließendes Wasser gab es eher in den städtischen Bürgerhäusern; dort war neben der Küche gerne noch eine Spülküche, in der das Geschirr gewaschen wurde, weiterhin befand sich in der Wohnung eine Waschküche. Diese Bürgerhäuser besaßen meist auch schon ein Badezimmer. In anderen Häusern gab es stattdessen eine Wasserzapfstelle im Treppenhaus für mehrere Parteien.
Beim Stöbern in diversen Büchern zur Küchengeschichte fielen mir Gegenstände auf, die ich von meiner Omi kannte. Das war ein sehr seltsames Gefühl, in der Bibliothek zu sitzen und mit einem Wort wieder in der Küche in der Nähe von Hannover zu sein, in der ich als Kind immer gern gespielt hatte. Omi hatte einen Tisch mit einem ausziehbaren Holzeinsatz, weswegen der Tisch sechs statt vier Beine hatte, was mich immer irritierte. In diesen Einsatz konnte man zwei große Emailleschüsseln setzen, die ich als Kind schlicht deswegen toll fand, weil sie so groß waren und so schön in den Tisch passten. Erst durch die Lektüre zu diesem Referat ist mir klargeworden, dass in diesen Schüsseln das Geschirr oder auch kleine Wäschestücke gesäubert wurden; das Wasser dafür kam eben aus dem Treppenhaus. Ich meine mich daran zu erinnern, dass Omi diesen Ausziehtisch und die Schüssel sogar noch verwendet hat, aber ich glaube, eher für riesige Familienfeiern, wo man halt große Schüsseln brauchte, um für 40 Leute Schokoladenpudding anzurühren.
Zurück in die bürgerliche Küche vor dem 1. Weltkrieg. Sie war eine reine Arbeitsküche. Das Bürgertum hatte repräsentative Räume, in denen auch gespeist wurde; in die Küche verirrte sich die Hausfrau höchstens mal, um der Köchin oder dem Dienstmädchen zu sagen, was sie gerne hätte. (Einschub aus dem Rebekka-Habermas-Referat, in dem ich über zwei Generationen des Besitz- und Bildungsbürgertums sprach: Anfang des 19. Jahrhunderts war für die Hausfrau die Nahrungszubereitung genau das: Nahrung, die zubereitet wurde und die wurde dann gegessen, fertig. Eine Generation später legte die Tochter großen Wert darauf, ihrem Gatten mal sein Leibgericht zu servieren und sich daran zu erfreuen, dass er sich freute. Die Rolle der Hausfrau war nun mehr als „nur“ die Verwaltung von Haus und Hof (Stichwort Schüsselgewalt), sondern die liebevolle Verwaltung. Die Frau sollte nun bitteschön darauf achten, dass nicht nur alles lief, sondern dass es auch noch hübsch war und alle glücklich lächelten. Ich übertreibe, aber das hat mich schon wieder wahnsinnig gemacht. Die Mutter im Buch schreibt ihrer Tochter auch wütende Briefe, warum sie jetzt selbst stricke und häkele und nähe, anstatt das gefälligst Leute machen zu lassen, die dafür Geld kriegen, aber das Töchterlein fand das halt so nett, mit ihren Töchtern beisammenzusitzen und etwas Schönes zu produzieren, das keinerlei ökonomischen Wert hatte.
Stoßrichtung des Habermas’schen Buch ist es, die angeblich tradierten Geschlechterrollen neu zu betrachten: Viele Entscheidungen seien den Frauen nicht von den Männern aufgedrückt worden, sondern sie hätten sie selbst gefällt. Das kann sie auch sehr gut begründen, wobei ich ihr, genau wie jede*r andere*n Biograf*in unterstelle, die Quellen so zu interpretieren, wie es passt. Da ich für mein Kindheitsseminar viele andere Texte über das gleiche Thema gelesen habe, ist mir aufgefallen, dass ihr Buch – zusammen mit Trepps Sanfte Männlichkeit und selbstbewusste Weiblichkeit – irgendwie immer die Exotinnenfußnote bildet. Die Forschung scheint anzuerkennen, dass es Gegenstimmen zum gelernten „Mann geht raus und arbeitet für Geld, Frau bleibt im Heim und macht nix“ gibt, aber so richtig niedergeschlagen hat sich das in der weiteren Literatur noch nicht. Einschub Ende.)
Die bürgerliche Küche war ihrer Aufgabe entsprechend eher kleiner als die Arbeiterküche, eher weiß eingerichtet (das kam Anfang des 20. Jahrhunderts in Mode), eher schlicht als wohnlich. Es gab kurz nach dem 1. Weltkrieg Bestrebungen, Familien ganz von der Last des Kochens zu befreien. In Berlin entstanden einige sogenannte Einküchenhäuser; dort war im Erdgeschoss oder Souterrain eine große Küche, in der Bedienstete für das ganze Haus kochten und die Nahrung per Speiseaufzug in die einzelnen Wohnungen schickten. Die Wohnungen selbst hatten höchstens einen kleinen mobilen Gaskocher, falls doch mal etwas erhitzt werden musste. In der jungen Sowjetunion gab es die gleichen Bestrebungen, allerdings eine Nummer größer: Hier wurden Kommunalgebäude geplant, in denen hunderte von Familien von einer Großküche verpflegt wurden. Sie aßen allerdings alle gemeinsam in einem großen Speisesaal. Ich habe das betreffende Buch leider schon zurückgegeben, daher weiß ich nicht mehr genau, ob diese Kommune über das Planungsstadium hinauskam (ich glaube ja). Die Häuser in Berlin (hier weiß ich nicht mehr genau, wo sie waren) besaßen nur wenige Jahre eine Gemeinschaftsküche – schon um 1920 herum wurden die einzelnen Wohnungen mit Küchen nachgerüstet.
In den USA entwickelte sich in den 1880er Jahren das Home Economics Movement, das darauf hinwies, dass gerade in der Küche und ihren Arbeitsabläufen nicht mehr alles zeitgemäß und viel zu umständlich war. Nach 1910 wurden sowohl in den USA als auch in Deutschland die Handgriffe der Hausfrauen vermessen, um festzustellen, wo Arbeit einzusparen war. Das Movement und auch Teile der Frauenbewegung wollten die Frau nicht aus der Küche herausholen, ihr aber einen effizienten und ergonomischen Arbeitsplatz zur Verfügung stellen. Küchenarbeit sollte als eben das anerkannt werden: Arbeit.
Schon bei der Ergonomie haperte es: Es gab noch keine einheitlichen Standards für Möbel oder technische Geräte. Meist sahen gerade Arbeiterküchen aus so wie heutige WG-Küchen: Jeder bringt was mit und irgendwie passt das dann halt. Nur in Hotelküchen hatten sich Standards bereits durchgesetzt, denn dort wurde professionell und in größerem Ausmaß gekocht, ähnlich wie sich Effizenzbestrebungen und ergonomische Arbeitsabläufe langsam in der Industrie durchsetzten, um die Produktion zu erhöhen. (Darüber kann man natürlich auch diskutieren, wie toll das für die Arbeiter*innen war, dass sie mehr produzieren konnten.)
Margarete Schütte-Lihotzky, die Architektin der Frankfurter Küche, ließ sich vom Mitropa-Speisewagen inspirieren. Sie stellte fest, dass dort auf 8 qm (eine Küche und ein Raum zum Anrichten der Speisen) in 15 Stunden über 400 Gäste verköstigt werden konnten und fragte sich, wieso eine Familie von fünf Personen, die dreimal am Tag isst, doppelt oder dreifach so viel Platz brauchte.
Kurz zur Wohnungsbausituation. Nach dem 1. Weltkrieg zogen immer mehr Menschen in die Städte. Der Anteil der Stadtbewohner*innen stieg von 1910 bis 1930 von 21 auf 37% der Bevölkerung. 1930 lebte ein Siebtel aller Deutschen im Großraum Berlin. Dort und in Frankfurt (unter der Leitung von Ernst May) wurden als Pilotprojekte große Wohnanlagen in Vorstädten geplant, die die überfüllten Innenstädte entlasten sollten. Aus Kostengründen entschied man sich für die Plattenbauweise und relativ kleine Wohnungen. Zwischen 1920 und 1932 wurden im Deutschen Reich 2,6 Millionen Wohnungen mit fließendem Wasser, Gas und Elektrizität gebaut. In 10.000 dieser Wohnungen in Frankfurt wurde die Frankfurter Küche eingebaut. Einige wenige sind meines Wissens nach noch erhalten, aber auch sie befinden sich nicht mehr komplett im Originalzustand.
(Wenn Sie sich bitte mal das Bild in der Wikipedia angucken? Sie können meine folgenden Ausführungen dann besser nachvollziehen.)
Die Küche war eine reine Arbeitsküche und folgte damit auch der Maxime von Bruno Taut, der 1924 gefordert hatte, nur noch Arbeitsküchen in neue Wohnungen einzubauen. Die Sozialwissenschaftlerin Erna Meyer (die später die Münchner Küche entwarf) vertrat 1926 eher die Wohnküche; sie propagierte eine Kochzeile im Wohnraum, damit die Hausfrau nicht so von ihrer Familie abgeschnitten war. Schütte-Lihotzky entschied sich für eine Arbeitsküche, in der auf 6,5 qm Kochen, Abwaschen und Bügeln möglich war.
Besonders an der Küche war, neben ihrer geringen Größe, zum Beispiel das Abtropfgestell über der Spüle. Effizienzuntersuchungen hatten festgestellt, dass Frauen die schmutzigen Teller meist links von sich liegen hatten; sie mussten aufgenommen und gewaschen werden, wurden dann rechts abgelegt und später verräumt. Mit dem Abtropfgestell erspart man sich einge Handgriffe: Das Geschirr wird aufgenommen, abgewaschen und im links hängenden Gestell deponiert, wo es trocknet und auch seinen endgültigen Aufbewahrungsplatz hat.
Der Drehstuhl vor der Tischplatte ist höhenverstellbar, das Fenster extra etwas höher angebracht, damit man es entspannt öffnen kann, selbst wenn der Tisch mit Nahrung oder Gerätschaften zugestellt ist. In der Tischplatte befindet sich ein Loch, durch das Gemüsereste wie Kartoffelschalen etc. direkt in eine kleine Schublade geschoben werden konnten. Die Schublade wurde später entleert. (Sowas hätte ich gerne! Außer wenn ich Tomatensauce koche, saue ich meine Küche dann am großflächigsten ein, wenn ich Müll von der Arbeitsplatte in den Mülleimer transportiere.)
Neben dem elektischen Herd befindet sich eine Kochkiste, die, wenn ich den Foodblogs glauben darf, gerade eine kleine Renaissance feiert. In ihr garen angekochte Speisen stundenlang einfach weiter, bis sie fertig sind – ganz ohne Strom oder andere Energie. An der linken Wand der Küche befindet sich ein herunterklappbares Bügelbrett, und der Weg ins Esszimmer nebenan soll nicht mehr als drei Meter betragen. Rechts in der Schrankwand, die, auch neu, bewegliche Einlegeböden hatte, befinden sich die Haarer Schütten, die ich auch gerne hätte. Sie ersparen der Hausfrau das ewige Packungsaufreißen und -wiederverschließen; Mehl, Zucker, Hülsenfrüchte etc. werden einfach in die Schütte getan und können von dort aus auch verwendet werden – daher der Name Schütte. Man konnte den Zucker einfach rausschütten und musste nicht noch löffeln oder ähnliches. Und schick sehen sie aus! Mein Lieblingsfeature in der Küche ist allerdings die Deckenlampe, die man genau dahinschieben oder -ziehen konnte, wo man sie gerade brauchte. Okay, heute haben wir drehbare Halogenspots, aber wie clever!
Für die Frankfurter Küche wurde erstmals mit der Industrie zusammengearbeitet, die einheitliche Maße fertigte und das durch die geforderte hohe Stückzahl auch noch halbwegs erschwinglich. Trotzdem wurden die Wohnungen für Arbeiter meist zu teuer, die meisten Bewohner*innen waren kleinbürgerlich – und teilweise nicht ganz glücklich mit der neuen Küche, obwohl sie in Radiospots und Veranstaltungen erklärt wurde und es Informationsmaterial zu ihrer Benutzung gab. Hauptkritikpunkt war, und das freute vermutlich Frau Meyer, dass die Hausfrau sich von ihrer Familie zu sehr abgeschnitten fühlte in ihrem kleinen Arbeitskabinett. Es wurde außerdem bemängelt, dass eigene Möbel keinen Platz mehr hatten, das Loch im Tisch sorgte für Erstaunen, und mit der Elektrizität konnten sich auch viele nicht anfreunden. Teilweise war es eine Preisfrage, teilweise wollten sie schlicht nicht damit kochen. Einige nutzten kleine Gaskocher für ihre Mahlzeiten, andere gaben zu, gar nicht mehr warm zu essen.
Die Frankfurter Küche war auch deshalb so neu, weil sie erstmals im privaten Bereich einen kompletten Raum durchgestaltete. Heute gaukeln uns Einbauküchen und Ikea wenigstens vor, dass wir noch eine Wahl hätten, aber im Prinzip machen wir heute das gleiche: Wir gestalten einen Raum anstatt dass wir wild Möbel in ihm platzieren. Die blauen Oberflächen waren übrigens nicht nur Deko; angeblich hatten Wissenschaftler*innen herausgefunden, dass Fliegen sich nicht auf blaue Flächen setzten.
Die Nationalsozialisten propagierten wieder die gemütliche Wohnküche. Nach 1945, als wie schon in den 1920er Jahren große Wohnungsnot herrschte, entschied man sich wieder für eher kleine Küchen, die inzwischen unter dem Namen Schwedenküche aus den USA in die Bundesrepublik kamen. 1956 hatte eine Sozialwohnung durchschnittlich 57,6 qm (zwei Zimmer, Küche, Bad). Die Küche war meist zwischen 4 und 7 qm groß und mit Herd, Spüle, Speisekammer oder entflüftbarem Speiseschrank ausgerüstet. Ich meine mich zu erinnern, dass Kühlschränke erst in den 1960er Jahren in der Bundesrepublik Standard wurden, aber das weiß ich nicht mehr genau.
In den 1950er Jahren wurden in Westdeutschland erstmals glatte, durchgehende Arbeitsflächen und industriell genormte Geräte, die fugenlos verbunden waren, verbaut. Die Ausstattung und Einrichtung der Küche wurde allerdings nicht mehr vorgegeben, sondern konnte bereits individuell zusammengestellt werden. Seit 1957 gab es DIN-Normen für Elektrogeräte und Schrankteile, in dieser Zeit kamen auch Kunststoffoberflächen in Mode. Küchen wurden cleaner und aseptischer, was in den 1970ern zum Umschwung in Richtung gemütliche Landhausküche führte. 1970 war die durchschnittliche Küche 11 qm groß, nicht nur in Mietwohnungen, auch in Eigenheimen. 1993 hatten dreiviertel aller Küchen eine Größe zwischen 5 bis 15 qm. Meiner Meinung nach hat sich weder die reine Arbeits- noch die reine Wohnküche durchgesetzt.
In der DDR machte man sich nach 1949 Gedanken zum sozialistischen Design, das ähnlich schwer zu definieren war wie die sozialistische Kunst (Formalismusstreit). Man endete ungefähr da, wo auch Westdeutschland war: bei kleinen Küchen mit skandinavisch anmutendem Design. Der Grundgedanke war auch hier: günstige, funktionale Möbel in erschwinglichen und schnell zu bauenden Wohnungen.
Mit der Planung von mehrgeschossigen Wohnbauten wurde Gerhard Kosel beauftragt, der 1954 aus der Sowjetunion in die DDR zurückkehrte. Er war 1932 mit Bruno Taut (wir erinnern uns: Arbeitsküche 1924) in die UdSSR übergesiedelt und hatte unter Ernst May (wir erinnern uns: Frankfurt) am Aufbau eines Kombinats mitgewirkt. Ich gehe stark davon aus, dass seine Kollegen, Lehrmeister und Vorgesetzten seine architektonische Auffassung von Küchen- und Wohnraumgestaltung entscheidend mitgeprägt haben. Außerdem quietsche ich immer glücklich, wenn ich solche Querverbindungen finde, weil man dann einen schönen roten Faden fürs Referat hat. „Auf den Herren komme ich nochmal zurück.“ Zack, Aufmerksamkeit.
Kosel entwickelte zwischen 1960 und 1962 den Plattenbau P2, der bis 1989 verbaut wurde. Das Besondere an ihm war die innenliegende, fensterlose (und kleine) Küche, die nur durch einen Vitrinenschrank mit Durchreiche belichtet wurde, der die Küche vom Wohnraum abtrennte. Ab 1972 gab es zusätzlich den Bautyp WBS 70, dessen Küchen größtenteils außenliegend waren.
Die Frage, die ich zum Beginn des Referats stellte, war: Hat die Frankfurter Küche die Küchenentwicklung in der Bundesrepublik und der DDR nach 1945 beeinflusst? Das würde ich mit einem dicken Ja beantworten. Die Frankfurter Küche hat kleine Küchen zu einem Normalzustand gemacht (das kann man positiv oder negativ sehen), wir setzen heute ergonomische, flexible Möbel in der richtigen Höhe voraus und verlassen uns auf eine standardisierte Fertigung, damit der neue Herd auch ja in die Lücke passt, die der alte hinterlassen hat.
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Literatur (Auswahl):
Andritzky, Michael (Hrsg.): Oikos – von der Feuerstelle zur Mikrowelle. Haushalt und Wohnen im Wandel, Gießen 1992.
Däuper, Anne: „Zwischen Kochtopf und Fassade“, in: ach. Ansichten zur Architektur 23/24 (2006), S. 7/8.
Heßler, Martina: „The Frankfurt Kitchen: The Model of Modernity and the ‚Madness‘ of Traditional Users, 1926 to 1933“, in: Oldenziel, Ruth/ Zachmann, Karin (Hrsg.): Cold War Kitchen. Americanization, Technology, and European Users, Cambridge, Mass. 2009, S. 163–184.
Mai, Gunther: Europa 1918–1939. Mentalitäten, Lebensweisen, Politik zwischen den Weltkriegen, Stuttgart 2001.
Miklautz, Elfie/Lachmayer, Herbert/Eisendle, Reinhard (Hrsg.): Die Küche. Zur Geschichte eines architektonischen, sozialen und imaginativen Raums, Wien/Köln/Weimar 1999.
Noever, Peter (Hrsg.): Margarete Schütte-Lihotzky. Soziale Architektur. Zeitzeugin eines Jahrhunderts, Wien 1996.
Palutzki, Joachim: „Der standardisierte Wohnungsbau. Zur Entwicklung der Wohnungsbauprogramme der 1960er und 1970er Jahre in der DDR“, in: Lichtnau, Bernfried (Hrsg.): Architektur und Städtebau im südlichen Ostseeraum zwischen 1936 und 1980, Berlin 2002, S. 409–433.
Pfützner, Katharina: „‚But a home is not a laboratory‘. The Anxieties of Designing for the Socialist Home in the German Democratic Republic 1950–1965“, in: Schuldenfrei, Robin (Hrsg.): Atomic Dwelling. Anxiety, Domesticity, and Postwar Architecture, London 2012, S. 149–168.
Silbermann, Alphons: Die Küche im Wohnerlebnis der Deutschen. Eine soziologische Studie, Opladen 1995.
Surmann, Antonia: Gute Küchen, wenig Arbeit. Deutsches Küchendesign im westeuropäischen Kontext 1909–1989, Berlin 2010.
Das Surmann-Buch ist der Kracher! Das ist eine kunsthistorische Dissertation, laut Einleitung die erste, die sich mit Küchendesign in Westeuropa von 1909 bis 1989 beschäftigt. Die Bilder sind eine einzige Schatztruhe. Alleine damit könnte man einen entspannten Diaabend mit Mettigel und Früchtebowle bestreiten.
Eine Leserin wird sehr über den Noever stöhnen, aber ich fand den recht informativ.
Vor dem Biografieseminar zwei Stunden in der Stabi verbracht, danach ins ZI geradelt und getippt.
Ich arbeite gerade an einem nicht-universitären Projekt, für das ich Gebäude beschreibe und ich erwische mich dabei, wie sich ein paar Adjektive in meine Texte schleichen, die ich in meinen Uni-Arbeiten immer brav streiche. Andererseits ist es eben kein Text für die Uni, er hat durchaus wissenschaftliche Ansprüche, richtet sich aber eher an interessierte Laien. Von daher fühle ich mich ganz wohl mit einem leicht veränderten Stil, aber es ist noch ungewohnt, ihn zu sehen.
Ich habe schon so viele kunsthistorische Texte gelesen, bei denen ich dachte: „Hase, jetzt entferne doch bitte mal das Stöckchen aus dem Popöchen und schreib einfach, was du siehst/entdeckst/meinst.“ Ich habe hingegen noch nie bei einem kunsthistorischen Text gedacht: „Nein, das ist mir jetzt wirklich zu viel Begeisterung für das Objekt, damit komme ich nicht klar.“ Auch das ist durchaus ein Argument für meine Adjektive und nicht gegen sie. Aber wie gesagt: Ich lese mich jetzt eher wie die Anke, die überschwänglich mit den Ärmchen wedelt, während sie den Freundinnen, die nicht weglaufen können, die Schönheit von Architektur nahebringt als die Anke, die ihre Uni-Dozent*innen diszipliniert davon überzeugen möchte, gefälligst eine sehr gute Note unter das Paper zu schreiben.
Mir gefällt die neue Anke. Es fühlt sich sehr gut an, eine andere professionelle Stimme in mir zu finden als die, die ich aus der Werbung kannte. Herzlich willkommen, nimm dir nen Keks. Oder fünf. Und ein paar Bauklötze.
Ich ruinierte unser schon traditionelles Morgenkuscheln, indem ich zum iPhone griff, das neben dem Bett lag und auf Twitter las, dass sich Großbritannien dazu entschieden hatte, kein Teil der EU mehr sein zu wollen. Anstatt noch 20 Minuten aneinander rumzulungern, bevor wir aufstehen mussten, hatten wir beide unsere Handys vor der Nase, lasen uns Tweets vor und schüttelten verbal die Köpfe.
Ich habe ein eher emotionales Verhältnis zur EU, und ich ahne, dass dieses Gefühl mehr mit Schengen zu tun hat als mit der Gründungsurkunde, die, soweit ich weiß, einen Wirtschaftsraum definierte. Da geht’s schon los: Ich weiß nicht mal genau, wann und warum die EU gegründet wurde. Ich wuchs aber damit auf, dass wir eine schöne blaue Flagge mit goldenen Sternen drauf hatten, eine noch schönere Hymne und dass ab und zu Europawahlen stattfanden, bei denen ich immer das wählte, was ich auch bei Bundestagswahlen wählte. Full Disclosure: Die einzige Wahl, an der ich hätte teilnehmen dürfen und bei der ich dieses Recht verfallen ließ, war eine Europawahl. Ich wohnte in Hannover, das müsste also irgendwann in den 1990ern gewesen sein. Ich hatte nicht das Gefühl, dass meine Stimme irgendwas in meinem direkten Umfeld ändern würde – im Gegensatz zu anderen Wahlen, die sich auf Deutschland, seine Länder oder Kommunen bezogen –, also ging ich nicht wählen.
Ich frage mich, ob es vielen der Menschen, die vorgestern gegen die EU stimmten, ähnlich ging. Dass sie schon länger das Gefühl hatten, ihre Stimme zähle ja eh nicht. Dass sie vielleicht einfach aus Protest das wählten, was anscheinend aus Protest zu wählen war. Vielleicht ist das meine Filterblase, aber ich hatte gestern mehrere Hinweise darauf in der Timeline, dass sich erst jetzt, nach dem Endergebnis, einige fragen, was ein Brexit überhaupt bedeutet. Mir ist das auch nicht so richtig klar, denn ehrlich gesagt habe ich nie damit gerechnet, dass Großbritannien dafür stimmen könnte.
Aber wie gesagt, ich fühle mich eher emotional als rational als Europäerin. Das ist mir erstmals in den USA aufgefallen, als ich Europa vermisste und nicht unbedingt Deutschland, keine Ahnung warum. Für mich ist unser Kontinent neben meinem Heimatland noch viele weitere Heimatländer, obwohl ich nicht in ihnen geboren bin. Es bedeutet mir sehr viel, theoretisch morgen in 28 Ländern leben und arbeiten zu können. (Ja, das musste ich nachgucken, wieviele Länder die EU überhaupt hat.) Selbst wenn ich bis an mein Lebensende in Deutschland bleiben werde, fühlt es sich großartig an zu wissen, dass ich das nicht muss. Dass meine Fähigkeiten auch in anderen Ländern zählen, dass ich von vornherein einen Vertrauensvorschuss genieße, den andere nicht haben, weil sie schlicht nicht das Glück – und mehr ist das nicht – hatten, in einem EU-Land zur Welt gekommen zu sein. Auch deswegen ist mir Nationalismus fremd und er wird mir immer fremder, je mehr Menschen AfD wählen und je lauter die Rassismen werden, die jetzt gerade zur Europameisterschaft wieder ihre hässlichen Häupter recken.
Ich fühle mich deutsch, weil Deutsch meine Muttersprache ist, weil ich dieses Land und seine Mechanismen am besten von allen Ländern verstehe, weil ich mich erwische, manchmal sehr klischeehaft deutsch zu sein (pünktlich, ordentlich, Oktoberfest) und weil es sich hier in meinen Augen richtig gut leben lässt.
Ich fühle mich aber gleichzeitig sehr bewusst und sehr glücklich als Europäerin, wenn ich mal eben am Flughafen meinen Perso vorzeige und einfach so in ein Flugzeug steigen kann, das mich nach Paris zu einer Ausstellung bringt. Oder nach London zu einem Restaurant. Oder nach Rom zu einer Kirche. Oder oder oder. Ich denke darüber gar nicht mehr nach, dass das geht, sondern ich gehe davon aus, dass das geht. Ich fühle mich mit den Menschen in Frankreich, England und Italien ähnlich verbunden wie mit meinen bayerischen Nachbarn und Nachbarinnen, weil wir alle die gleiche blaue Flagge und die gleiche schöne Hymne haben. Und ich kann nicht verstehen, dass irgendjemand dieses Glück nicht mehr haben möchte.
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Ich zitiere mich mal selbst, denn mein Eintrag aus einem Parisurlaub von Kai und mir geht mir seit gestern im Kopf rum. Dieser Eintrag über meinen Versailles-Besuch, letzter Absatz:
„Aber meine Laune [nach einem fiesen Regenguss] war trotzdem noch okay, was vor allem einem Vorfall auf der Hinfahrt zu verdanken ist. Als le Kerl und ich gerade die RER in St. Michel/Notre Dame besteigen wollten, tippte mich ein älterer Herr auf die Schulter: „Train to Versailles? The castle?“ Ich bejahte, und der Herr und seine Gattin stiegen mit uns ein und setzten sich auch neben uns. Die Dame zog ihren Paris-Reiseführer aus der Tasche, und ich musste schmunzeln, denn es war genau mein Exemplar – nur in einer anderen Sprache. Das sagte ich und zeigte ihr meinen, worauf sie fragte, woher wir kämen. „Germany – Allemagne.“ „Ah, Deutschland! Wir sind von Ungarn.“ Wir nickten freundlich, und der Mann beugte sich lächelnd zu uns: „Wir von Ungarn – Sie von Deutschland – treffen hier in Frankreich. Das ist Europa!“
Mit Hamilton und Lin-Manuel Miranda kann ich auch nicht so viel anfangen, was vermutlich daran liegt, dass ich mit Hip Hop nicht viel anfangen kann. Aber sobald die weiteren Gäste Audra McDonald, Jesse Tyler Ferguson und Jane Krakowski auf dem Rücksitz saßen und vor allem, als die ersten beiden Akkorde von Seasons of Love erklangen, saß ich awwwwend vor dem Rechner. Nach Can’t Take My Eyes Off You sangen die fünf, die offensichtlich richtig Spaß hatten, noch One Day More aus Les Misérables, und da konnte ich mich nicht mehr wehren, fiepste zum Rechner mit, öffnete danach Spotify und hörte den kompletten Soundtrack durch. Bei On My Own hörte ich dann auch auf zu fiepsen und sang laut mit – was ich schon länger nicht mehr gemacht habe.
Ich habe vor ungefähr anderthalb Jahren mit dem Gesangsunterricht aufgehört. Der war eh zerstückelt, weil ich nicht mehr dauernd in Hamburg war, weswegen ich meiner Lehrerin des Öfteren unbegleitet in meiner Münchner Küche am Telefon was vorgesungen habe und nur in den Semesterferien neben ihr am Klavier stehen konnte. Ich habe da schon gemerkt, dass ich immer wackeliger werde – heißt: immer näher am Wasser bin –, je mehr ich mir stimmlich zutraue und je lauter ich singe. Um laut zu singen, muss ich nämlich alles an Beherrschung fallenlassen, was mich sonst zusammenhält und dafür sorgt, dass ich ein braves, produktives Mitglied der Gesellschaft bin. Wenn ich so richtig stimmlich die Sau rauslassen will, muss ich loslassen. Und das bedeutet bei mir leider: Es kommt eine Menge hoch, das ich seit Jahren mit mir rumschleppe, aber irgendwo in mich reingestopft habe und festhalte, damit es nicht weh tut. Wenn ich aber nun schutzlos am Klavier stehe und fiese Musicalballaden schmettere, kriecht alles an die Oberfläche, was da runten rumlungert, und dann dauert es bis zur nächsten Songzeile, die irgendwas mit Liebe, Schutz, Vertrauen oder persönlichem Wachstum zu tun hat und ich fange an zu heulen.
Je länger ich in München war und je mehr sich zeigte, dass ich wohl noch etwas länger hier bleibe, was auch hieß, dass sich meine Beziehung ändern wird, desto schwerer fiel es mir, durch einen einzigen Song zu kommen. What I did for love? Ha! („Nothing’s Gonna Harm You“) Not While I’m Around? Pffft. Never Give All the Heart? Isklar. Über Beautiful müssen wir gar nicht reden oder Moon River („There’s such a lot of world to see“) und auch nicht über On My Own („I love him / But every day I’m learning / All my life / I’ve only been pretending / Without me / His world will go on turning“). Ich wollte immer weniger ins Telefon singen und heulend in meiner Küche stehen, und im fünften BA-Semester kam dazu auch noch der vollgepackteste Stundenplan des ganzen Studiums, weswegen ich irgendwann um eine Pause bat. Sie hält bis heute an.
Ich will meiner Gesangslehrerin seit Monaten eine Mail schreiben, um mich bei ihr zu bedanken, dass ich bei ihr wachsen durfte, lernen, lachen und ja, auch weinen. Ich hatte nie das Gefühl, fehl am Platz zu sein, ich hatte immer das Gefühl, dass jede Träne sein musste und durfte. Ich habe in einer 45-Minuten-Stunde vermutlich des Öfteren nur 30 Minuten gesungen, aber das war immer richtig so. Vielleicht schicke ich ihr stattdessen den Link zu diesem Blogeintrag, denn gestern habe ich mich nach erstem zaghaften Fiepsen in Pose gestellt und On My Own laut mitgesungen, scheiß auf ein paar wackelige Töne, scheiß auf die dünnen Wände zu den Nachbarn, die garantiert zuhause waren. Das war schön.
Okay, danach habe ich meinen Liebling What I Did For Love angestimmt und bin bis zur dritten Zeile gekommen, aber gut. In mir wohnt ja auch noch ganz viel, über das ich weinen muss. Dann mach ich das. Und singe ein bisschen dazu.
Was schön war, Sonntag, 29. Mai 2016 – Fremde Menschen
Am Dienstag erreichte mich eine Mail von Stepanini, die mich zu einem Essen am Sonntag einlud. Ich hatte von ihren Supper Clubs mit ihrer Mitköchin schon gehört, mich aber nie angemeldet, weil ich eine Schisserin bei zu vielen fremden Menschen bin. Dieses Essen sollte aber anders ein. Die Gastgeberin hatte selbst eingeladen: „lauter tolle Frauen allen Alters, die wir so kennen, halb-kennen, spannend finden.“ Und weil ich auch nach über drei Jahren in München nur Menschen kenne, die ich über den ehemaligen Mitbewohner kennengelernt habe sowie die Kaltmamsell und weil es mir seit Tagen scheiße geht, dachte ich mir, so, Schnecki, du verlässt jetzt mal deine Komfortzone, denn es kann nur besser werden und deswegen sagst da jetzt zu.
Am Sonntagnachmittag verfluchte ich mich natürlich selbst, denn ich hätte so schön weiter schlecht gelaunt und/oder traurig in Schlumpfklamotten in meiner eigenen Suppe rumliegen können, aber nein, ich zog mein Lieblingsshirt aus dem Schrank, nahm meine Lieblingsohrringe aus dem Gläschen über dem Waschbecken, zog mir geringelte Socken und bequeme Sneakers an (keine Jungs anwesend = keine hohen Absätze) und setzte mich in die U-Bahn. Die Idee, lieber doch nicht mit dem Fahrrad zu fahren, um möglichst unverschwitzt anzukommen, wusste ich am Ende des Abends sehr zu schätzen, als es in Strömen regnete.
Ich war natürlich fürchterlich nervös, aber das legte sich nach wenigen Sekunden, als die Gastgeberin sich offensichtlich sehr freute, mich zu sehen (was auf Gegenseitigkeit beruhte – ich mag Stepaninis Instagramstream genauso gerne wie ihr Blog und war sehr neugierig auf die Wohnung, deren Details ich ja schon kannte. Internet, ey). Ich begrüßte die schon anwesenden Damen, man plauderte, mir wurde Prosecco mit Erdbeermus und Rosmarinzweiglein in die Hand gedrückt, und dann stand eine Dame neben mir, die als Foodbloggerin vorgestellt wurde. „Ich heiße Julia.“ Ich so innerlich: Ich kenne nur eine Julia mit Foodblog, nämlich Chestnut & Sage, bei dem ich die Bilder so schön kinfolkig finde, was mir immer viel zu anstrengend ist, was ich aber stets bewundere, weil es so diszipliniert aussieht. „Und dein Blog?“ „Chestnut & Sage.“ Ich so: Internet, ey, und zack, hatte ich eine Sitznachbarin, mit der ich stundenlang plaudern konnte.
Neben uns saß eine Steuerberaterin, auf meiner anderen Seite eine Fotografin, noch eine Ecke weiter eine Buchbloggerin, deren Brotberuf ich nicht mitbekommen habe, aber der ist ja auch egal, wenn man sich stattdessen über Bücher und London unterhalten kann; mir gegenüber gab sich eine Dame als Kunsthistorikerin zu erkennen, woraufhin ich anfing, peinlich rumzufiepsen und mich zum Affen zu machen, was sie gut abbog, indem sie erzählte, dass sie als Redenschreiberin arbeitete und nebenbei Gemüse auf einer kleinen Parzelle zog. Ihre Nachbarin war übrigens auch Kunsthistorikerin, arbeitet auch als eine und zog auch Gemüse, woraufhin erstmal Handyfotos mit besonders schönen Salatköpfen rumgezeigt wurden, wovon ich eventuell am Mittwoch einen in den Händen halten werde, denn die Redenschreiberin und ich haben uns mal flugs zum Lunch verabredet.
Ich plauderte nach links und rechts und gegenüber, genoss das Essen, die sehr entspannte Stimmung zwischen zwölf Frauen, die sich meist noch nicht kannten, gönnte mir nach dem Espresso die erste Zigarette des Jahres auf dem Balkon und musste Stepanini irgendwann ein bisschen weinselig sagen, dass mir dieser Abend so unglaublich gut tat. Ich hadere gerade mit so vielem, mit viel zu vielem, und einfach mal an einer wunderschönen Tafel zu sitzen, herrliches Essen und guten Wein vorgesetzt zu bekommen, schlaue und freundliche Menschen kennenzulernen und den Kopf mal auszumachen, außer für neue Kontakte – das war genau das Richtige. Damit hatte ich nicht gerechnet und es war ein großes Geschenk.
Und schmackhaft war’s auch, und mit Julia kann man ganz hervorragend über die Kochblogszene lästern.
Ich habe vor wenigen Tagen einen Tweet geteilt, auf dem Trauerarbeit bzw. Heilung als nicht-linear bezeichnet wurde. Als ich nach dem Bild googelte, fand ich ein anderes, das es gefühlt noch besser ausdrückt. (Quelle unklar, taucht irrwitzig oft bei Pinterest auf.)
Ich befinde mich seit fast zwei Jahren in einem Trennungsprozess; zunächst von einer Stadt, dann von einem Beruf, dann von einem Lebensgefährten und zum Schluss von der gemeinsamen Wohnung. Das ist eine Menge, und das vergesse ich gerne. Ich spreche oft davon, Dinge jetzt abzuhaken oder ich warte darauf, dass Dinge abgehakt sind, denn sie liegen ja jetzt hinter mir, dann sollen sie gefälligst auch nicht mehr weh tun. Das schlaue Lektorgirl meinte neulich (und ich behaupte, ich habe ihr Augenrollen durchs Telefon gesehen), dass ich diese Metapher mal lassen sollte. Und je länger dieser Prozess dauert, desto mehr sehe ich das ein. (Knurrend.)
Es kostet mich gerade wieder viel Kraft, durch meinen Tag zu kommen. Mal abgesehen davon, dass mein Schreibtisch überquillt, liegen unvermutet Stolpersteine wie eine miese Note im Weg, die mich kurzfristig völlig aus dem Konzept gebracht hat. Ich habe für das Geschichtsreferat gelesen wie bescheuert, aber mir hätte schon am Tag des Referats klar sein müssen, dass irgendwas im Argen liegt, denn wenige Stunden vor der Präsentation habe ich noch Folien in Powerpoint ausgetauscht. Wenn ich mit einem Referat glücklich bin und weiß, was ich tue und wovon ich spreche, ist die Präse meistens tagelang vorher fertig. Hier fielen mir am Tag selbst noch Ungenauigkeiten auf, die sich vermutlich auch auf meinen Vortrag ausgewirkt haben, nach dem ich sowieso sehr unsicher war, ob meine Kommiliton*innen irgendwas mitnehmen konnten. (Laut meiner Sitznachbarin ja.)
Jetzt könnte ich das ganze natürlich professionell abhaken und sagen, ja mein Gott, das ist eine Note, guck dir einfach alle deine anderen Noten an, die sind besser, trink nen Tee, kauf Schokolade, fahr ne Runde Rad. Aber da sind wir wieder beim Abhaken. Ich bin die weltschlechteste Abhakerin aller Zeiten. Ich nehme mir alles zu sehr zu Herzen, weswegen ich auch am liebsten alleine zu Hause bin, denn da kann mir nichts passieren, da kann mir nichts weh tun. Tut es neuerdings natürlich trotzdem, denn mein komplettes Zuhause erinnert mich daran, dass ich ein anderes verloren habe, und mein Alleinsein erinnert mich daran, dass ich mal zu zweit war. Also flüchte ich an den Schreibtisch, denn wo soll ich sonst hin, in öffentlichen Bibliotheken heult sich’s deutlich unentspannter. Konzentrieren konnte ich mich aber auch nicht richtig, denn momentan denke ich alle fünf Sekunden: Ich will nach Hause.
„Nach Hause“ bedeutet nicht wieder auf die gemeinsame Couch vor den Fernseher in Hamburg. Damit war ja offensichtlich irgendwas nicht in Ordnung, sonst hätte ich das alles nicht hinter mir gelassen.
Zuhause bedeutet stattdessen die Sicherheit einer langjährigen Beziehung. Zuhause bedeutet, einen Job zu haben, den man beherrscht und der ausreichend was aufs Konto bringt. Zuhause bedeutet, Freundinnen in der Nähe zu haben, die einen in Notzeiten ans Händchen nehmen und viel Rotwein bestellen. Zuhause ist ein langer ruhiger Fluss und nicht das komische Knäuel, in dem ich mich gerade befinde. Ich ahne, dass ich Dinge durcheinander bringe, dass ich Dinge als Zuhause bezeichne, die vielleicht gar nicht so viel Gewicht haben müssten. Keine Ahnung. Ich stecke in einem Knäuel, ich kann gerade nicht so weit gucken.
Ich wünschte mir, dieses Prozesshafte würde irgendwann mal aufhören, dieser Schwebezustand. Immer wenn ich denke, so, München, das isses, Studium läuft, Job wird schon irgendwie kommen, selbst mit einer so doofen Jahreszeit wie Sommer hab ich mich hier angefreundet, immer dann kommt das Knäuel um die Ecke, ich verheddere mich in Kleinkram und will nach Hause und irgendwas abhaken. Und weil alles so prozesshaft und im Werden und Vergehen ist, habe ich nicht mal ein anständiges Ende für diesen Blogeintrag. Der fasert jetzt einfach so aus.
Ein sehr durchwachsener Tag, an dem ich sehr dünnhäutig war und mich sehr schutzlos gefühlt habe.
Seit einigen Wochen stoße ich online und offline immer wieder auf ein Thema, von dem ich dachte, es wäre keins mehr für mich: der Körper, genauer gesagt, der Nicht-Norm-Körper, der dicke Körper, der vielleicht mal ein dünner wird (vermutlich nicht, aber man weiß ja nie). Ich dachte, ich hätte diesen Komplex durchgedacht und durchgefühlt und ich wäre durch meine Biografie davor gefeit, alles noch mal neu zu denken, aber wie ich gestern merkte: Nee, bin ich nicht.
Ein Mensch in meiner nächsten Umgebung hat einiges an Gewicht verloren – nicht durch Diät, sondern durch eine schmerzhafte Krankheit, aber auch dann pieksen mich Sätze wie „Ich passe wieder in Größe XY“ an den falschen Stellen. Eine Frau in meiner Instagram-Timeline nimmt ebenfalls ab, und ich dachte, ich könnte mich darüber freuen, weil es ihr anscheinend gut damit geht und weiterhin ihre leckeren Essensbilder anschmachten, aber dann tauchte der Hashtag „weightlossjourney“ unter einem Post auf, und es piekste wieder. Gestern las ich in einem Blog, das eigentlich ein sicherer Hafen ist, einen Kommentar, der ein Abnehmblog verlinkte, das seit Monaten recht lautstark in meiner Peripherie rumsummt und wegen dem ich schon mehreren Menschen auf Twitter entfolgt bin und ihre Blogs nur noch vorsichtig lese, weil auch da plötzlich das Thema viel zu viel Raum einnimmt.
Ich habe gar nicht gemerkt, wie sehr es mich belastet, von abnehmenden Menschen zu lesen oder von ihnen umgeben zu sein, bis ich mich gestern dabei erwischt habe, heulend auf der Weight-Watchers-Seite rumzuklicken. Da wo ich vor zehn Jahren schon mal war und wo es mir nicht wirklich gut ging.
Gestern erwischte mich aus heiterem Himmel (gefühlt) und mit voller Wucht die Erkenntnis, dass in meinem Leben gerade kaum ein Steinchen mehr da sitzt, wo es mal gesessen hat. Und so schön München ist und so erfüllend mein Studium – in wackeligen Momenten, die sich gestern anscheinend alle zusammenrotteten und bei mir anklopften, bricht alles zusammen und ich denke, das einzige Gebiet, über das ich Kontrolle habe, ist mein Körper. Was natürlich Blödsinn ist und das weiß ich auch, aber gestern musste ich mir das dutzende Male sagen.
Denn über meinen Körper habe ich genauso wenig Kontrolle wie über alles andere. Ich kann wochenlang die Bibliothek leerlesen und ein Dozent kann trotzdem nur eine 1,3 unter meine Arbeit schreiben und keine 1,0. Ich kann der tollste Mensch der Welt sein und ein Mann findet mich trotzdem nicht so super wie ich ihn. Ich kann irrwitzig viele Qualitäten mitbringen, aber es muss nicht unbedingt ein Job oder ein Praktikum dabei rauskommen. Ich bin von so vielen Dingen abhängig, die nicht in meinem Kontrollbereich liegen, und ich muss es aushalten, dass es so ist. Und mein Körper ist das letzte, was ich im Griff habe, und es hat sehr viel Kraft gekostet, mir das einzugestehen und dem ganzen Diätrotz nach 25 Jahren Auf Nimmerwiedersehen zu sagen, weil er mich weder dünn noch glücklich gemacht hat, sondern genau das Gegenteil.
Ich habe es seitdem allerdings im Griff, gut zu mir zu sein. Ich kann auf mich achten, auf mich und meine Gefühle aufpassen, mich um mich kümmern. Ich weiß, dass ich immer noch auf Krücken laufe; in meinem Schrank müssen fünf Tafeln Schokolade liegen, sonst werde ich nervös. Ich esse sie nicht mehr wie früher an einem üblichen Binge-Eating-Tag in einem Zug weg (die Kids heute nennen das ganze liebevoll Cheat Day und glauben, es wäre eine Superidee – ihr Irren), sondern Stück für Stück, aber sie müssen da sein. Ich muss einen vollen Kühlschrank haben, damit mein Kopf mir glaubt, dass der Bauch immer und alles essen darf. Ich habe ihm jahrelang erzählt, ja klar, kriegst du was, und er hat mir vertraut, und was hat er gekriegt? Kalorienreduzierten Scheiß und auch immer nur fast so viel, wie er gerne gehabt hätte, aber sei jetzt bitte dankbar und fühl dich wohl und leicht und liebenswürdig. Kein Wunder, dass der mir nichts mehr glaubt.
Ich dachte, ich hätte meine Essstörung – denn nichts anderes ist dieses zwanghafte Verhältnis zum Essen, auch wenn ich mir nicht den Finger in den Hals stecke oder von 400 Kalorien am Tag leben möchte – im Griff oder zumindest soweit unter Kontrolle, dass mir Instagramposts oder Blogkommentare nichts mehr ausmachen. Vielleicht ist das auch so, aber vielleicht ist das nur so, wenn der Rest meines Lebens in Reih und Glied und rechtwinklig ausgerichtet und alphabetisch sortiert ist, wie ich das mag, weil es mir Sicherheit gibt. Im Moment ist mein Leben aber eine einzige wackelige Angelegenheit. Und gestern kippte etwas in mir um, von dem ich dachte, ich hätte es halten können. Ich fühlte mich sehr hilflos in dieser Stadt, in dieser Wohnung und in diesem Studium, ich vermisste die Sicherheit, den Plan, das Geld, den Ex, die Freundinnen, und ich konnte dieser bröckelnden Lawine nur ausweichen, indem ich wieder darüber nachdachte, Kalorien zu zählen.
Es hat wirklich die blöde WW-Seite gebraucht, um aufzuwachen und mitzukriegen, was sich seit Wochen in meinem Inneren abspielt, ohne dass ich es wirklich zur Kenntnis genommen habe. Das latente Unwohlsein, das ich bei diesem Thema immer habe, hatte sich zu einem Problem aufgebaut, und ich wusste nicht mehr, wie ich damit umgehen sollte.
Ich weiß es immer noch nicht. Momentan fällt mir nichts ein, als manche Menschen zeitweise zu entfolgen, so leid es mir tut, vielleicht mal wieder ein paar Blogs zu meiden, vielleicht überhaupt mal das Internet mit seinen vielen Menschen ein winziges bisschen runterzufahren. Stattdessen hilft vielleicht das, was auch gestern nach stundenlangem Elend geholfen hat: am Schreibtisch ein Buch nach dem anderen stumpf durchzuarbeiten anstatt wie sonst von einem zum anderen zu springen, hier kurz etwas nachgoogeln, da einen Aufsatz online lesen, ach, und wenn ich eh schon hier bin, kurz auf Twitter und Instagram gucken. Genau das habe ich gestern nicht gemacht, sondern eben krampfhaft gelesen, exzerpiert, Texte geordnet, umgeschrieben, nächstes Buch, weitermachen. Zwischendurch vier riesige Schüsseln Cornflakes mit Erdbeeren und Weintrauben und Birnen und fürs Seelenheil eine Tafel Schokolade und einen Milchkaffee. Abends dann die neue Folge Masterchef Australia, in der so gut gekocht wird wie sonst in keiner Masterchef-Ausgabe, und ich habe gemerkt, wie sehr ich das genieße, gutem Essen zuzusehen und im Kopf zu überlegen, wie ich das nachbauen könnte, was ich da sehe. Ich habe mich gefreut, nach stundenlangem Ringen mit mir und meinen Dämonen wieder Glück zu empfinden, als das Thema Essen vor mir rumflimmerte.
Vielleicht bin ich doch schon weiter als ich gestern dachte. Ich muss mir das Glück aber anscheinend weiterhin erkämpfen – und vor allem: darauf aufpassen.
Die Strecke, die ich in München mit Abstand am häufigsten fahre, ist natürlich die von Zuhause in die Uni oder die diversen Bibliotheken. Direkt danach kommt der Weg zum und vom ehemaligen Mitbewohner. Gestern fuhr ich diese Strecke zum ersten Mal mit dem Hamburgfahrrad – was mir erst auffiel, weil gewisse Streckenabschnitte auf einmal leichter zu fahren waren als mit dem alten Schlachtross.
Neuerdings fahre ich in Richtung Innenstadt eine etwas andere Strecke; nicht mehr den fürchterlich engen und von Fußgängern und parkenden Autos verstopften Radweg an der Augustenstraße lang, von der ich in die Brienner Straße einbiege, um majestätisch auf die Propyläen am Königsplatz zuzurollen. Stattdessen hebe ich mir den Königsplatz als Schmankerl für den Rückweg auf. Ich fahre jetzt lieber die Acisstraße runter, bei der ich an den beiden NS-Bauten Führerbau und NSDAP-Verwaltungszentrum vorbeikomme, von denen einer meist mein Ziel ist (ich wiederhole mich: In letzterem befindet sich heute unter anderem das Zentralinstitut für Kunstgeschichte). Die beiden Gebäude sind seit Kurzem von jeglichem Grünzeug befreit, das heißt, man kann den Baukörper wieder uneingeschränkt angucken, was ich zugegebenermaßen recht gerne mache. Die beiden Sockel der sogenannten Ehrentempel sind allerdings noch unterschiedlich bewachsen, und das gefällt mir ebenfalls: Während der eine freigelegt wurde und nun ein Ensemble mit dem NS-Dokumentationszentrum bildet, dürfen auf dem anderen weiterhin Büsche, Bäume und Gras wachsen, wie sie es seit 70 Jahren tun. Das nimmt dem ganzen Komplex viel von seiner strengen Symmetrie, lässt aber noch erkennen, wie sie mal gemeint war.
Gestern war nicht das ZI mein Ziel, sondern ein Biergarten um die Ecke vom ehemaligen Mitbewohner, in dem wir gemeinsam aßen und tranken und über Kunst, YouTube und Panzer redeten (was man halt so macht). Danach radelte ich nach Hause und freute mich die ganze Strecke auf meinen großen Liebling. Ich fuhr den üblichen Umweg über Sonnen- und Max-Joseph-Straße, weil ich gerne am Wittelsbacher Brunnen und der Neuen Maxburg vorbeifahre, gerade abends, wenn der Brunnen beleuchtet ist. Dann umrundete ich den Karolinenplatz und fuhr auf den Königsplatz zu.
Ich verlangsamte wie immer mein Tempo, sobald mein Fahrrad den asphaltierten Radweg verlässt, der am Königsplatz in staubigen Schotter übergeht, rollte über den Platz, guckte entspannt nach rechts und links, wo auf den Stufen der Glyptothek und der Antikensammlung noch traubenweise Menschen saßen, radelte rechts an den Propyläen vorbei und begann den letzten Streckenabschnitt nach Hause.
Ich mag es, dass ich dabei einige hundert Meter weiße Radreifen habe, weil der helle Staub des Königsplatzes noch ein bisschen bei mir bleibt.
Hausarbeit „Gibt es einen Peking-Effekt?“ über das Nationalstadion in Peking
Über die Note 1,3 hatte ich zunächst gequengelt (ja, auf hohem Niveau, ja, ich weiß), aber als ich heute die gedruckte Fassung mit den Anmerkungen des Dozenten aus unserer Bibliothek holte, verstand ich die Note und kann sie jetzt beruhigt und unquengelig abnicken.
Meine Arbeit stellt die Frage, ob es einen Peking-Effekt gibt – also ob ikonische Sportbauten einen ähnlich positiven Effekt auf eine Stadt haben wie ikonische Museumsbauten à la Guggenheim Bilbao. Der Dozent merkte dazu sehr treffend an: Peking ist nicht Bilbao; es geht hier nicht darum, eine wirtschaftliche schwache Stadt wieder auf die Füße zu kriegen, sondern einer ökonomischen Boom-Stadt ein hübscheres Antlitz zu verpassen. Damit ist eigentlich meine ganze Argumentation total sinnlos, und deswegen quengele ich auch nicht mehr. Da habe ich mich von meiner eigenen Wortschöpfung des Peking-Effekts vermutlich zu sehr einlullen lassen. Manchmal vergesse ich, dass ich keine Werberin mehr bin.
Der zweite Kritikpunkt war die Baubeschreibung, die dem Dozenten etwas zu kurz geraten war; er hätte sich unter anderem eine längere Auseinandersetzung mit dem Kontrast der runden Außenhülle zum eher kantigen Inneren gewünscht. Das war mir fast klar, dass die Baubeschreibung eventuell als zu kurz empfunden wird; ich musste mir während des Schreibens öfter selber sagen, dass ich hier was Kunsthistorisches abgebe und keine Arbeit in Stadtsoziologie. Hätte ich mir vielleicht noch öfter sagen müssen.
Das hat aber anscheinend alles nicht so irrsinnig geschadet, denn das Fazit, das ich mir einrahmen werde, lautete: „[…] ist der Rest der Arbeit von vorbildlicher Professionalität im Hinblick auf folgerichtig-sinnvolle Konzeption, intensive Recherche, klare Entwicklung der Gedanken und eine präzise und dabei flüssige, auch fehlerlose Sprache.“ BÄM! Ich mag das, wenn meine Sprache gewürdigt wird. An der bastele ich schließlich genauso lange rum wie an den Thesen, die ich mit ihr formuliere.
Das hier verlinkte pdf der Arbeit ist nicht die kurze Fassung mit 50.000 Zeichen, die ich abgegeben habe (warum ich sie dusseligerweise gekürzt habe, steht hier), sondern die lange mit knapp 65.000. Die kriegt ihr, damit ich die ganzen schönen Zeilen nicht umsonst geschrieben habe. Dass aber auch in der kurzen Fassung meine Gedankengänge anscheinend ausreichend klar ersichtlich waren, belegt mal wieder die gute alte Texterinnenregel, die jede Juniorette hoffentlich von ihrer CDeuse beigebracht bekommt: Schreib den Text so wie du ihn haben willst, schreib, bis alles drin ist, was du sagen willst, schreib, bis der Text perfekt ist – und dann kürz ihn um ein Drittel.
Dass meine Lieblingspastateller jetzt in München sind und ich gestern zum wiederholten Male von ihnen gegessen habe.
Als ich im September die ersten Kisten packte, nahm ich nur Dinge mit, von denen ich mir sicher war, dass sie in meine kleine Münchner Wohnung passten. Als ich die vor dreieinhalb Jahren bezog, kaufte ich eine klassische Ferienwohnungsgrundausstattung, obwohl es ja keine Ferienwohnung war. Aber alle Ferienwohnungen, in denen ich bis jetzt war, sahen genauso aus: alles von Ikea. So ungefähr sah meine Studibutze auch aus, inklusive des Geschirrs: vier tiefe, vier flache große und vier flache kleine Teller. Nicht dass ich viel Besuch gehabt hätte, aber wer kocht, weiß: Teller und Besteck kann man nie genug haben.
So verzichtete ich im September darauf, meine vier geliebten Pastateller einzupacken, aus denen Kai und ich immer gerne gegessen hatten, denn ich hatte hier ja vier tiefe Teller und Kai hatte keine eigenen – jedenfalls keine, die so groß und so tief und überhaupt so toll waren.
Im Laufe des letzten halben Jahres merkte ich aber, dass ich neben anderen Dingen wie mein Nudelholz, ein paar CDs und DVDs, ein paar Glücksbringer und Lieblingsvasen ausgerechnet diese Pastateller vermisste. Ich dachte darüber nach, alles, was hier in München noch Platz hat – und ein bisschen Platz hatte ich nach 60 Kisten überraschenderweise doch noch –, in weitere drei Umzugskisten zu packen und die per Beifracht oder Paketdienst nach München zu schicken. Einiges Weiteres wollte ich in den drei Tagen in Hamburg noch bei eBay verticken, aber je näher der letzte Umzugstermin rückte, desto weniger wollte ich mit all dem zu tun haben.
Als ich dann in der Hamburger Wohnung stand und überlegte, was packst du für München, was stellst du bei eBay ein, wurde mir endgültig klar: gar nix machst du. Du packst alles so schnell wie möglich ein, was zu den Eltern auf den Dachboden kommt, der Rest kommt in Kisten, auf denen „Sperrmüll“ steht, dann verabschiedest du dich anständig und dann fährst du nach Hause.
Genau so habe ich es gemacht – bis auf ein paar kleine Details. In meinen Koffer passten nämlich das Nudelholz, mein Sky-Receiver, ein paar Glücksbringer und Sentimentalitäten, zwei meiner Lieblingsschälchen, die auf einigen der alten Blog-Kochfotos drauf sind – und zwei von vier Pastatellern.
Ich mag den Gedanken, dass ich meine Lieblingsteller jetzt hier habe, sie aber gleichzeitig bei Kai sind. Ich bin noch ein bisschen da, auch wenn ich weg bin.
März 2015, wenige Tage vor unserer Trennung. Ich habe das Bild auf Instagram mit der Unterschrift „Home“ veröffentlicht, vielleicht um mir selbst zu suggerieren, dass wir das noch hinkriegen.
Haben wir nicht.
Seit September 2015 steht München als Wohnort in meinem Personalausweis, aber ich hatte immer noch die Schlüssel zur Hamburger Wohnung, denn beim Umzug ist nicht all mein Zeug mitgekommen; sich von 120 auf 44 Quadratmeter zu verkleinern, bedeutet auch, Dinge zurückzulassen.
Am Mittwoch packte ich die letzten 20 Kisten und stellte mein Akkordeon, mein Golfbag, die Boxen meiner Stereoanlage, die ich zur Konfirmation bekommen hatte, und eine Stehlampe daneben. Freitag morgen holten die Umzugsjungs alles ab, bauten den Schrank auseinander und trugen seine Einzelteile, genau wie Tisch und Stühle, in den LKW. Das steht jetzt schon alles bei meinen Eltern in der Nähe von Hannover, und ich bin auch schon wieder in München.
Donnerstag habe ich mich tränenreich und offiziell vom Kerl verabschiedet, mich abends heulend mit den besten Freundinnen in der Lieblingsweinbar betrunken und Freitag morgen, nachdem die Jungs da waren, weinend die Schlüssel in die Briefkasten geworfen. Die letzten Tränen kamen im Flugzeug nach dem Start, als das blöde Hamburger Wetter mir einen letzten Blick auf den Hafen verwehrte.
Der lange Abschied ist durch.
Mach’s gut, Hamburg. Mach’s gut, Kai. Ich habe euch im Herzen.
Nach dem sehr vollgepackten Donnerstag (Teil 1, Teil 2) ließ ich es Freitag etwas ruhiger angehen. Einziger Programmpunkt, den ich dafür aber auch stundenlang auskostete: die Hofburg.
Wo der Eingang bzw. die Kasse war, wusste ich ungefähr, seit ich am Vortag die Augustinerkirche gefunden hatte, die zum Gesamtkomplex gehört. Mein Orientierungssinn ist quasi nicht vorhanden, und trotz Googlemaps auf dem iPhone verlaufe ich mich immer, selbst wenn es nur geradeaus geht. Den Eingang fand ich dann aber nicht nur, indem ich nach der Kirche einfach weiterging, sondern auch, weil mir der widerliche Pferdegestank der Hofreitschule schon 150 Meter vorher den Atem raubte. Mit dem Jackenärmel vor der Nase ging ich zur Kasse und kaufte eine Eintrittskarte, die mir Eintritt in die Silberkammer, das Sisi-Museum und die Kaiserappartements gewährte.
Die Silberkammer. Hashtag #HACH. Ich weiß nicht, warum, aber ich kann mir stundenlang Geschirr und Besteck angucken. Die Kammer bzw. die gefühlt 30 Räume mit hervorragend angeordneten und ausgeleuchteten Glasvitrinen begann mit einer Sammlung von Kupfergeschirr. Mich beeindruckten vor allem die vielen Formen, die für Bisquit, Kuchen oder Gelee verwendet wurden – ich weiß nicht, wie man da jemals irgendwas heile beim Stürzen rausbekommen hat, aber die Hofzuckerbäcker konnten das vermutlich deutlich besser als Klumpfuß und -finger Gröner. Auf Schautafeln wurden Küche, Weinkeller und alle Menschen erklärt, die für das Servieren zuständig waren, was ich mir leider nicht alles gemerkt habe. Aber der Job einer Hofsilberputzgehilfin war vermutlich recht anstrengend bei den Massen an Besteck, Tellern, Schüsseln und Platten, die ich in den Vitrinen bewundern durfte. Von meinem absoluten Lieblingsgeschirr, den Blumentellern, hat die offizielle Seite leider nur ein Teil abgebildet, aber die hätte ich als Replik sofort alle gekauft.
Irgendwann hat man einen völligen Overkill von diesen Bergen an Hausrat und ist versucht, den Kopf abfällig über die Kaisers zu schütteln, aber da hatten die Ausstellungsmacher*innen einen cleveren Trick auf Lager. Irgendwo inmitten einer Vitrine stand nämlich das heutige Geschirr, das bei österreichischen Staatsempfängen eingedeckt wird. Dort habe ich anhand eines Beispiels aus weißem Leinen gelernt, dass es eine Serviettenfaltung namens „kaiserliche Faltung“ gibt, die heute nicht mehr verwendet wird. Ein Stündchen später stand ich in einem Salon, in dem Kaiser Franz Joseph („Franz!“) und Kaiserin Elisabeth („Sissi!“) ab und zu miteinander speisten. Dort war ein Frühstückstisch eindeckt, und ich habe natürlich sofort geguckt, ob es die kaiserliche Faltung war. Ich möchte behaupten: ja.
In der Silberkammer steht aber nicht nur Tisch-, sondern auch Hygienegeschirr, das heißt, Waschschüsseln und ähnliches, wie zum Beispiel Nachttöpfe. Der heißt bei Damen übrigens Bourdalou (warum auch immer). Elisabeth hatte dafür gesorgt, dass in ihrem Wohnbereich Badewanne und Toilette eingebaut wurden, und eine konnte man nachher in den Kaiserappartements auch sehen. Da steht man dann ein bisschen hilflos und denkt sich, jo, hier hat also die Sisi gekackt. Hätte ich jetzt auch nicht unbedingt wissen müssen.
Am Schluss der Silberkammer stand noch ein Dessertservice einer englischen Firma, das der kaiserliche Hof von Königin Victoria geschenkt bekam. Jedenfalls die Hälfte, die andere steht im Buckingham Palace (auch hier wieder der Hinweis: Wenn ich mir das richtig gemerkt habe. Ich war zu faul zum Aufschreiben, ich wollte nur gucken.) Darüber musste ich doch sehr grinsen. Sowohl an der Vitrine als auch auf der Website ist erwähnt, dass dieses Service „bruchanfällig“ ist. Da steht also seit über 100 Jahren Geschirr rum, das niemand jemals benutzt hat, weil es dafür anscheinend gar nicht gemacht wurde. Die Kaisers. Unsereins hätte sowas ja längst in die Tonne gekloppt.
Nach gut einer Stunde Geschirrgucken („Was, schon vorbei?“) wollte ich in die Kaiserappartments. Das Sisi-Museum wollte ich gar nicht sehen, aber wie ich jetzt feststellte: Darum kommt man nicht herum, denn der Weg zu den Appartments führt eben durch das Museum. Wobei ich das Wort „Museum“ fast ein bisschen hoch gegriffen finde.
Das Ding ist relativ frei von wirklichen Erkenntnissen, sondern dient einzig und alleine dazu, im Souvenirladen Glitzerstifte und Postkarten zu verkaufen. Die meisten Ausstellungsstücke sind Nachbildungen, und was mich völlig verstört hat, waren die Gedichte Elisabeths, die an die Wände geschrieben waren (mit englischer Übersetzung). Ich wusste aus der schönen Hamann-Biografie, dass Sisi Gedichte schrieb, um mit dem Leben am Hof klarzukommen und ihrer Depression und (vermutlichen) Magersucht Herrin zu werden. Daher wusste ich allerdings auch, wie fürchterlich schlecht diese Gedichte sind. Sie nun übergroß an so gut wie jeder Wand wiederzufinden, hätte meiner Meinung nach nicht sein müssen, auch wenn sie natürlich recht plakativ den Seelenzustand Elisabeths widerspiegeln.
Worüber ich mich allerdings sehr gefreut habe, war Elisabeths ganzfigures Porträt von Franz Xaver Winterhalter, das vermutlich jede*r kennt. Es hing tollerweise neben dem dazugehörigen Porträt von Franz Joseph, das ich noch nicht kannte. In diesem Raum standen außerdem zwei große Glasvitrinen, in denen zwei Kleider von Sisi als Nachbildung standen. Dort konnte man ihre legendär schlanke Taille bewundern – und jetzt, wo ich das Bild direkt daneben hatte, fiel mir zum ersten Mal auf, wie wohlgenährt sie gemalt im Vergleich zu den Kleidern wirkte. Das wunderte mich etwas, weil Sisi großen Wert auf ihre Außenwirkung legte und sich, gerade in den letzten Lebensjahren, nicht mehr fotografieren oder malen ließ. Dass sie, die nachweislich tagelang nur von Fleischbrühe lebte und ihre Hofdamen zu stundenlangen Gewaltmärschen zwang, um die eben aufgenommenen Kalorien gleich wieder auszuschwitzen, sich offensichtlich dicker malen ließ als ihre Kleidung vermuten lässt, hat mich erstaunt.
Damit ließ ich das Museum dann auch hinter mir, länger als zehn Minuten wollte ich dort nicht sein. (Viel länger kann man dort auch nicht sein.) Nach einem kleinen Shop-Hindernis kamen endlich die Kaiserappartements, und über die freute ich mich dann ausgiebig.
Ich hatte mich seelisch auf das Versailles-Gefühl eingestellt: mit 300 Leuten in einem Raum sein, kaum etwas sehen können, kaum stehenbleiben können, vielfältiges und vielsprachiges Stimmengewirr. Was ich stattdessen bekam: Räume, in denen ich größtenteils ganz alleine war und die ich in meinem Tempo und ungestört durchschlendern konnte. Ich hatte mich im Vorfeld sehr auf die Kiefer-Ausstellung in der Albertina gefreut, einfach um mal in den Genuss zu kommen, eine quasi leere Ausstellung anschauen zu können, aber die Hofburg übertraf dieses Gefühl überraschenderweise sogar noch.
Zunächst war ich über das Konferenzzimmer erstaunt, damit hatte ich gar nicht gerechnet im Wohntrakt. Im Arbeitszimmer Franz Josephs musste ich dann doch an die Marischka-Filme denken, bei denen Sissi einen ewig langen Weg zu Franzerls Schreibtisch zurücklegen muss, um ihm von ihrer Schwangerschaft zu erzählen. Diesen Weg gab es nicht, totale Überraschung. Man kriegt die Bilder aber trotzdem nicht aus dem Kopf. (Okay, ich nicht. Ich mag die Filme aber auch unangemessen gern.) Gerührt war ich über die beiden soganannten intimen Porträts von Sisi, ebenfalls von Winterhalter gemalt, die sie mit unbedeckten Schultern und offenem Haar zeigen; eins stand anscheinend wirklich immer an Franz Josephs Schreibtisch, und da steht es noch heute.
Die Turngeräte, zum Beispiel Ringe in einem Türrahmen, deprimierten mich dann wieder, wie mich auch schon in der Silberkammer die französische Entenpresse deprimiert hatte. Die diente eigentlich dazu, aus Entenkarkassen noch das letzte Restchen Fleischsaft zu quetschen, aber meist wurden sie verwendet, um aus Kalbfleisch Brühe zu machen, damit die Kaiserin ihr tägliches Tässchen Nahrung bekam.
Ich genoss den kleinen Gang durch die schönen Räume sehr, erfreute mich an Tapeten, Möbeln und Kronleuchtern, ignorierte danach auch den zweiten Souvenirladen und ging eine Treppe hinunter, um wieder im Hof zu stehen. Einmal um die Ecke zurück in den großen Innenhof, die nächste Eintrittskarte gekauft, Jacke und Rucksack abgegeben (das musste ich in der Hofburg nicht) und schon stand ich in der Schatzkammer. Dort musste ich mich erstmal an die sehr geringe Beleuchtung gewöhnen, denn hier kann man uralte und dementsprechend fragile Gewänder betrachten, die für herrschaftliche oder geistige Zeremonien genutzt wurden (diese Tunika aus dem 12. Jahrhundert hätte ich gerne als Sommerkleidchen). Ich wollte allerding viel dringender Klunker gucken, denn noch viel lieber als Gemälde und Häuser und Geschirr gucke ich Juwelen an. Kann man mir auch prima schenken. Sind hier wirklich in guten Händen.
Mein erstes „Ooooh“ war dann auch standesgemäß vor der Krone des Kaisertums Österreich mit Zepter und Reichsapfel. (Nebenbei: Danke an die fabelhafte Bilddatenbank für bergeweise Wiener Museen!) Weiteres Staunobjekt: dieses unschätzbare Gefäß aus einem Smaragd. Ja, genau. Mein Liebling: eine goldene Rose, bei der ich mir durchaus vorstellen kann, als gestresste, hungrige Kaiserin auf die zartgliedrigen Blätter zu schauen, um wieder gute Laune zu bekommen. In der geistlichen Schatzkammer lagen neben den üblichen Kreuzen und Reliquiaren noch zwei Bilder aus Mexiko, bei denen ein Jesus aus Vogelfedern nachgebildet wurde. Das schillerte und schimmerte ganz wunderbar vor sich hin. Und in den letzten Räumen der weltlichen Kammer kam dann endlich das, weswegen ich den ganzen Komplex angucken wollte: die Krone des Heiligen Römischen Reiches. Keine Ahnung warum, aber die wollte ich sehen, und nachdem ich das getan hatte, fühlte sich die Zeit in Wien komplett an.
Abends hervorragendes Schnitzel in ausgesucht charmanter Gesellschaft. Das ruiniert jetzt total den hochkulturellen Inhalt dieses Blogeintrags, aber das war Wien für mich: Kunst und paniertes Essen. Ich mochte beides sehr, und ich komme garantiert wieder.
Immer noch Tagebuch, Donnerstag, 17. März 2016 – Wien, Tag 2: Vier Kirchen und eine Ausstellung
Nach dem Besuch bei Anselm Kiefer schlenderte ich im oberen Stockwerk der Albertina durch die russische Avantgarde. Über die wusste ich einen winzigen Hauch Bescheid, weil ich mich etwas intensiver mit der Ausstellung 0,10 sowie Rodtschenko beschäftigt hatte, aber trotzdem hat mich die Vielfalt der ausgestellten Werke sehr beeindruckt. Das war ein gelungener Querschnitt, der deutlich gezeigt hat, wie unterschiedlich in einem recht begrenzten (Zeit-)Raum gemalt wurde. Ich habe mich gefreut, ein paar Gemälde von Tatlin zu sehen, von dem ich bisher nur skulpturale Werke kannte wie sein Konterrelief. Außerdem waren einige Werke von Malewitsch zu sehen, zum Beispiel sein Rotes Quadrat von 1915, mit dem er sich von jeder Gegenständlichkeit löste und dem/ der Betrachter*in die Chance gab, sich nur mit einer Farbe auseinanderzusetzen. (Also im Prinzip das, was Rothko und Newman 40 Jahre später noch mal gemacht haben. Sehr vereinfach ausgedrückt, aber immer wenn ich an die beiden Jungs denke, denke ich sofort an Malewitsch.) Neu für mich entdeckt habe ich Boris Grigorjew und Natalia Gontscharowa.
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Den Kopf voller Kunst, den Rucksack voll mit zwei schweren Katalogen trabte ich 500 Meter weit in Richtung Hofburg. Dort steht die romanische Augustinerkirche, in der ich mir ein Grabmal anschauen wollte. Dort erlebte ich den Tourigruppenklassiker, in diesem Fall mit einer italienischen Schulklasse. Man kommt in einem Pulk rein, bleibt im Pulk stehen, zückt im Pulk die Smartphones oder Tablets, fotografiert sinnlos einmal das Mittelschiff runter, geht dann zögernd dem Führer hinterher, der bereits in der Mitte der Kirche steht und was erzählen will, fotografiert da das, worüber erzählt wird, und dann geht man im Pulk wieder raus.
Ich fand das gar nicht schlecht, denn so hatte ich nach zehn Minuten Pulkunruhe die Kirche fast ganz für mich alleine. Das Gebäude selbst war mir ziemlich wurst – ich wollte ein Grabmal anschauen, nämlich einen klassizistischen Pyramidalbau (echt jetzt), der als Kenotaph für die Herzogin Marie Christine, einer Tochter von Maria Theresia, von Antonio Canova 1805 in der Augustinerkirche errichtet worden war. Ich mochte die leise trauernde Figurengruppe sehr gerne und empfand die dunkle Öffnung, in der jedes irdische Leben verschwindet, trotz ihrer geringen Raumtiefe als beeindruckend bedrohlich.
Genauso spannend empfand ich den Kontrast der Figuren zu denen der Pestsäule, die in der Nähe meines Hotels steht, zu dem ich jetzt die Kataloge schleppte. Das erste Foto ist für eine genauere Ansicht nicht ganz so gut geeignet, aber hier mochte ich den Kontrast zwischen Licht und Schatten sowie das strahlende Gold vor blauem Himmel so gerne.
Aber in der Nahaufnahme erkennt man sehr gut, wie dramatisch hier mit Gesten und Gesichtsausdruck gearbeitet wird im Gegensatz zur leisen Einkehr des Kenotaphen. Gut, wir sind auch noch im Barock, da macht man halt noch Faxen. Im Klassizismus reißen wir uns alle wieder zusammen. (Immer schön an Winckelmann denken: „edle Einfalt, stille Größe“.)
Wie gesagt, eigentlich wollte ich ins Hotel, aber da die Peterskirche direkt vor der Hoteltür liegt, dachte ich, gehste da halt auch noch schnell rein. Den Namen eines Baumeisters, Johann Lucas von Hildebrandt, hatte ich gerade ewig in der Barockvorlesung gehört und so freute ich mich, mal eins seiner Bauwerke in echt anstatt auf einer Powerpointfolie zu sehen.
Blöd war natürlich nur, dass wir gerade in der Passionszeit sind und deswegen alle Kreuze verhängt sind. Deswegen sieht man am Altar auch nur das olle violette Tuch, wo ich doch so gerne Jesusse besichtige. Dann gucke ich mir halt Details an. Wände, die fast kaskadenartig nach vorne springen zum Beispiel. Oder runde Säulen mit eckigen Kapitellen, die keck in den Raum reingedreht werden anstatt brav an der Wand zu stehen. Und natürlich meine geliebten Pilaster. Eventuell ist das sogar ein Knickpilaster, aber ich glaube, der heißt nur so, wenn er innen an einer Ecke ist anstatt außen. Also wenn er 90 Grad beschreibt, nicht 270. (Ergibt das Sinn?)
Jetzt aber ab ins Hotel. Kataloge in den Schrank packen, ein kleines Schläfchen halten, frisch machen – und dann spontan ein, zwei Bonner Twitterdamen auf eine Melange treffen. Ich muss mich inzwischen arg zusammenreißen, nicht in diesen angenehmen Singsang zu verfallen, den hier jeder spricht – gefühlt vor allem Kellner*innen. In Bayern kann ich der Verlockung total widerstehen, weil ich weiß, dass ich beknackt klinge, wenn ich versuche, bairisch zu sprechen. Aber wienerisch klingt so, als könnte ich es ansatzweise imitieren. Ich lasse das lieber, möchte aber trotzdem eine Petition starten, die Worte Sackerl und Packerl in den bundesdeutschen Sprachgebrauch aufzunehmen. (Tüte. Pffft.)
Mit warmen Kaffeebauch ging ich zur Karlskirche. Die hatte ich auch auf einer Unifolie gesehen, und ich gucke mir ja alles an, was man mir auf Unifolien zeigt. Von draußen sieht die Kirche wie ein einziger Verkehrsunfall aus: Wir haben eine griechisch anmutende Tempelvorhalle, seitliche Glockentürme mit Durchgängen, die an römische Triumphbögen erinnern, eine schöne barocke Kuppel mit Laterne und dazu diese beknackten Säulen, die einen an die römische Trajanssäule denken lassen. Ich wusste nicht, warum unser Dozent uns diese Kirche ans Herz gelegt hat. Das verstand ich aber sofort, als ich reinging.
Ich habe noch nie ein derartiges Licht gesehen. Man ahnt es schon in der Gesamtansicht – das Bild wollte ich ins Blog stellen, damit sich alle mit mir über den beknackten Panoramalift aufregen können, der den Eindruck des Innenraums ziemlich ruiniert. Ja, man kann damit bis unter die Decke fahren, um sich die Fresken anzugucken, aber dafür sind die gar nicht da. Die soll man von unten angucken, deswegen sind sie da oben. Baut die Scheiße ab, sie nervt. *krückstockfuchtel* Weil der blöde Lift da steht, kostet diese Kirche übrigens Eintritt. Ist aber okay, weil: das Licht.
Man sieht hier ganz wunderbar das clevere barocke Theatrum Sacrum: die Zentrierung des Blicks auf den Altar. Man kann gar nicht anders, als dorthin zu schauen, denn der Chorraum ist enger als der Kirchensaal, und der Blick wird nochmals verengt durch die Säulen, die sich immer weiter in die Mitte schieben. Und: Wenn man in Richtung Altarraum geht, wird das Licht intensiver. Das Tageslicht strömt nur noch durch wenige Rundfenster und wird im goldenen Altaraufsatz zentriert; es fällt durch das mit Sonnenstrahlen umkränzte Dreieck mit den hebräischen Buchstaben JHWH und verteilt sich im gesamten Altarraum, von wo es in den Innenraum weiterleuchtet.
Barock war für mich immer ein winziges bisschen überkandidelt. Ich mochte die naive Romanik, die gewaltige Gotik, ich mochte den rauen Stein und das bisschen Putz, was die Gotteshäuser zusammenhielt. Barock war mir immer zu pastellig, zu puttig, zu hübsch. Und dann stand ich in der Karlskirche und dachte, scheiß auf pastellig – das ist das schönste Licht, was du je gesehen hast. Das ist, Achtung, Pathos: göttliches Licht. Hier hat der Mensch es hinbekommen, das göttliche Leuchten in Architektur zu packen. Und seitdem halte ich die Klappe und meckere nicht mehr über Putten und Engelchen und Flitterzeug, sondern denke, wenn das der Preis für dieses Licht ist, dann passt das.
Nach der Karlskirche sollte eigentlich die Krönung kommen: der Stephansdom. Ich ging also mit goldenem Herzen in die riesige Kathedrale – und wollte sofort wieder raus. Ich stand in einem dunklen, grauen Raum, ja, hohe Decken, toll, ja, Gotik, super, aber: Ich hatte doch gerade das göttliche Licht gesehen. Ich wollte nicht wieder zurück ins Mittelalter. Ich wollte das Licht wiederhaben, das Leben, das Gold. Und da verstand ich zum ersten Mal, warum der Barock so revolutionär war – weil er die Überwältigung der gotischen Architektur durch etwas Heiteres, Freieres, Luftiges ersetzte.
Ich blieb drei Minuten in der Kathedrale, fühlte mich von den Steinmassen erdrückt und ging einfach wieder. Aber alleine für diese Erkenntnis – so geht Barock, Baby – hat sich die Wienreise sowas von gelohnt.
Tagebuch, Donnerstag, 17. März 2016 – Wien, Tag 2: Anselm Kiefer
Die Albertina lud mich zur Ausstellungseröffnung von Anselm Kiefers Holzschnitten nach Wien ein und übernahm netterweise Flug- und Hotelkosten. Man hat mich nicht um eine Gegenleistung dafür gebeten, aber jetzt kommt trotzdem eine große Lobeshymne.
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Ich habe mich sehr über die Einladung zur Ausstellung gefreut, weil ich auf Kiefers Werke gespannt war, die ich alle noch nicht im Original gesehen hatte, viele davon aber natürlich bereits in Katalogen. Schon beim Betreten des ersten Raums dachte ich, jo, hat sich gelohnt. Die Holzschnitte von Kiefer sind wie der überwiegende Teil seiner Werke sehr großformatig, und die Albertina hat netterweise genug Platz, die sie den Bildern geben kann. Klassischer White Cube, aber schön luftig gehängt und gut beleuchtet.
Albertina-Direktor Klaus Albrecht Schröder führte die versammelten Pressemenschen in die Ausstellung ein. Anselm Kiefer hatte sich zu seinem 70. Geburtstag im letzten Jahr drei Ausstellungen gewünscht – einmal die seiner Bücher in der Bibliothèque nationale de France (von der ich Idiotin nichts wusste, die lief bis Februar und die hätte ich sehr gerne gesehen, weil seine Bücher selten ausgestellt werden – UND ICH WAR DOCH IN PARIS, HERRGOTT), dann die große Retrospektive im Centre Pompidou, die noch bis April läuft (immerhin die konnte ich sehen), und abschließend die Präsentation seiner Holzschnitte, ab heute in der Albertina.
Das Reingold (1982–2013), Holzschnitt, Acryl und Schellack auf Papier, Collage auf Leinwand, 280 x 382 cm, Privatsammlung.
Nebenbei: Diese kleinformatigen Fotos machen mich irre. Mein Blog wird sich in nicht allzuferner Zukunft etwas verändern, und eines der Dinge, auf das ich mich am meisten freue, ist: große Bilder. Jetzt sind sie leider noch klein, weswegen ich es bis auf dieses eine Bild gar nicht erst versucht habe, die großformatigen Werke Kiefers einzufangen, sondern mich stattdessen auf Details konzentriert habe.
Die Holzschnitte sind in drei große Themenbereiche eingeteilt. Da ist zunächst der Rhein, einmal unter dem Aspekt der deutsch-französischen Grenze, die Kiefer selbst irgendwann überwand, indem er von Deutschland nach Frankreich zog, dann aber auch als der mythische deutsche Fluss, in dem auch Richard Wagners Rheintöchter baden. Die Kuratorin der Ausstellung Antonia Hoerschelmann wies auf das Fiktionale von Grenzen hin, wie willkürlich sie sind und was sie für Auswirkungen haben, wie wir gerade aktuell sehen. Auch mit dem Stichwort der Grenzen setzt sich Kiefer auseinander, zum Beispiel, indem er uns mit dicken, vertikalen, schwarzen Balken die Sicht auf den Rhein versperrt. Das können Bäume sein, das können aber auch Vorurteile sein, mit denen wir in uns Grenzen ziehen. (Auf der Ausstellungswebsite ist eine Abbildung von Der Rhein zu sehen.)
Ich persönlich mochte an einem Rheinbild, dass ich in ihm die Holzbohlen wiederfand, mit denen ich mich bei den sogenannten Dachbodenbildern von 1973 auseinandergesetzt habe. Je länger man sich mit Kiefers Werk beschäftigt, desto mehr sieht man Versatzstücke immer wieder, was ich sehr spannend finde. Auch wenn er sich neuen Themen zuwendet, neuen Techniken – manchmal greift er auf Dinge zurück, die er schon einmal benutzt hat, und ich mag diesen dünnen roten Faden, der sich durch sein Werk zieht.
Der Rhein (Detail) (1982), Holzschnitt, Öl und Emulsion auf Papier, Collage auf Leinwand, 242 x 432 cm, Privatsammlung.
Das zweite Thema war Brünnhilde (oder wie Kiefer sie immer schreibt: Brünhilde) und ihr Pferd Grane. In Wagners Götterdämmerung entzündet die Walküre Brünnhilde den Weltenbrand und sorgt dafür, dass der ganze verdammte Rotz untergeht, der sie um ihre Liebe gebracht hat. Meiner Meinung nach wird im Nibelungenlied der Tod Brünnhildes überhaupt nicht erwähnt, daher bin ich etwas über einen Wandtext gestolpert, der die ganze Story mit dem Feuertod in eben dieses Epos packt. Aber vielleicht irre ich mich auch gewaltig; dann hoffe ich, dass es meiner Dozentin nicht auffällt.
Jedenfalls bin ich bei meinen Recherchen (wir erinnern uns: Ich versuchte, alle Werke aufzuzählen, in denen Kiefer sich auf Wagners Opern bezieht) auch auf einige Schnitte zu Brünhilde und/oder Grane gestoßen. Leider nicht alle, wie ich nölig vermerken muss. Auch Die Rheintöchter (1982–2013), Woglinde (1982–2013) und das oben abgebildete Reingold (ja, auch hier schreibt Kiefer wieder, wie er lustig ist) hatte ich nicht gefunden. Das mag daran liegen, dass es bisher nur zwei lausige Essays gibt, die sich mit Kiefers Holzschnitten befassen (hier das erste, das zweite ist auch von Hyman) – das steht jedenfalls im Katalog der Albertina, den wir Pressemenschen umsonst in die Hand gedrückt bekamen, worüber ich mich nochmals gefreut habe. Diese Essays habe ich nicht gesehen, und das ärgert mich jetzt wieder tagelang. Immerhin ruiniert es nicht das Argument, auf dem ich meine Hausarbeit aufgebaut habe, aber trotzdem. Da kommt gerade arg die Strebernase durch, die sich fragt, wieso sie diesen Text nicht gelesen hat.
Der Ärger kommt jetzt aber erst beim Schreiben und Verlinken. In der Ausstellung war ich noch gut gelaunt, vor allem, weil mal wieder der Effekt eintrat, der immer eintritt, wenn man ein Werk zum ersten Mal groß an der Wand sieht, das man bisher nur klein als Abbildung kannte: Man kapiert, was der Künstler wollte. Für diesen Blogeintrag blättere ich die ganze Zeit im Katalog und denke, die Bilder sehen genau so aus wie alle anderen Abbildungen von Grane auch, die ich bisher kannte, aber jetzt, wo ich es an der Wand gesehen habe, kommen mir alle Abbildungen falsch vor. Beim Rhein oder der Weltweisheit (darauf komme ich noch) hat mich das nicht so gestört, aber bei Grane fehlt mir auf einmal das Lebendige, das der Schnitt hatte, als er direkt vor mir war. Was eigentlich Quatsch ist, denn Grane wird fast immer als Skelett dargestellt. (Auch hier verweise ich auf die Abbildung auf der Ausstellungswebsite.)
Ich stehe also vor einem über zwei Meter hohen Holzschnitt, der ein skelettiertes Pferd zeigt – und trotzdem fühlt es sich so an, als spürte ich den Atem des Tiers. Ja, das ist Blödsinn, weiß ich auch, und ich ahne, dass ich diese Assoziation nur habe, weil ich die Götterdämmerung halt so mag und ich mein Fahrrad Grane getauft habe. Ich bin anscheinend ein Fan dieses Pferdes (hier rächt sich jedes Pferdebuch meiner Jugend), und deswegen kann ich dieses Vieh nicht als tot hinnehmen. Das ist jetzt die subjektivste und unwissenschaftlichste Auseinandersetzung mit Kiefers Werk ever, aber hey. Dafür sind Blogs da. In meiner Hausarbeit konnte ich jedenfalls nicht über mein Fahrrad schreiben.
Brünhilde – Grane (Detail) (1977/78), Holzschnitt und Öl auf Papier, Collage, 242,5 x 193 cm, The Sonnabend Collection and Antonio Homem.
Der letzte Themenbereich umkreist das Werk Wege der Weltweisheit: die Hermannsschlacht (zwei Werke, 1980 und 1993). Hier ging es mir ähnlich wie bei Grane: In den Katalogen konnte ich die Werke intellektuell nachvollziehen – viele Köpfe, die Verehrung von Persönlichkeiten, ja, okay. Aber erst, als ich es vor mir sah, ergaben die schwarzen Kreise und Linien einen Sinn. Wo ich sie im Katalog immer nur als dekoratives Beiwerk empfunden hatte, waren sie hier auf einmal Verbindungslinien, konzentrische Kreise, die Personen verbanden, ihre Werke, ihre Aussagen, auf einmal hing alles zusammen, wie eben, Achtung, Banalität: alles zusammenhängt. Niemand ist eine Insel. Die Weltweisheit gehört nicht zu meinen Lieblingen, aber auch hier habe ich mich gefreut, sie im Original zu sehen.
Aber das ist ja eh der Kernpunkt jedes musealen Sehens. Man sieht auf einmal Farbschichten, Lücken in der Leinwand, verschiedene Materialien. Auch so eine simple Erkenntnis, die ihren Namen gar nicht verdient, aber genau wie im Centre Pompidou konnte mich der schichtweise Auftrag auf dem Bilduntergrund faszinieren. Mein Liebling: Sonnenblumenkerne. Ein total unterschätztes Material. (Nebenbei: Hört bitte auf, mir das Interview mit Sylvester Stallone und den Strohhalmen zu schicken, ich kenne es wirklich schon. Trotzdem lieb, dass ihr an mich denkt. Bussi!)
Cette obscure clarté qui tombe des étoiles (Detail) (1997–2015), Holzschnitt, Sonnenblumenkerne und Kohle auf Papier, auf Leinwand kaschiert, 375 x 396 cm, Privatsammlung.
Ich fand es, genau wie im Centre Pompidou, spannend, mich mit den Bildern eines Malers auseinanderzusetzen, dessen Werke ich mir emotional erschlossen habe, bevor ich sie intellektuell verstand. Um jetzt mal das Fangirl zu machen: Ich mag Kiefers Werke. Jetzt wo ich mich intensiv mit ihnen beschäftigt habe, mag ich sie noch mehr, aber das Grundgefühl ist bei ihm immer Sympathie und nicht Bewunderung. Deswegen fand ich es wieder interessant, dass ich auch hier nicht breit grinsend und seligglücklich durch die Räume schlenderte und freudig vor mich hinpiepste, wie ich das sonst gern tue, wenn ich tolle Bilder sehe. Stattdessen ging ich aufmerksam, interessiert, fasziniert durch das Museum und hatte wie in Paris das Gefühl eines großen Geschenks. (Hier sogar im wahrsten Sinne des Wortes.) Es war mehr Arbeit als Vergnügen, aber es war gleichzeitig die Bestätigung für meine Arbeit, für meine Vorarbeit, für mein Interesse und ja, auch für den Spaß, den ich an Kiefers großen, düsteren Mythenbildern habe. (Wagnerfan halt.)
Ich bin mir aber sicher, dass man an dieser Ausstellung genauso Freude empfinden kann, wenn man nicht gerade monatelang über Kiefer gelesen hat (BIS AUF EIN VERDAMMTES ESSAY). Die thematische Hängung fand ich sehr schlau, den vielen Platz, den die Bilder haben, erwähnte ich bereits. Für mich persönlich hat der Besuch mein Werkverständnis vertieft und abgerundet. Ich kann mir aber auch vorstellen, dass die Holzschnitte ein schöner Reinkommer in das Werk Kiefers sind, gerade durch ihre eng gefasste Thematik. Ich empfand sie als gradliniger als viele andere seiner Werke, gerade die neueren (nach 2000), mit denen ich selbst ein bisschen kämpfe. Insofern: klare Anguckempfehlung. Und wenn ihr schon mal im Haus seid, nehmt die russische Avantgarde gleich mit. Die war nämlich auch toll, aber die beschreibe ich (vielleicht) ein anderes Mal.
Wege der Weltweisheit: die Hermannsschlacht (Detail) (1980), Holzschnitt auf Papier (Collage), Emulsion, Acryl, Schellack und Karton, 291,5 x 501 cm, Sanders Collection, Amsterdam.
Tagebuch, Mittwoch, 16. März 2016 – Wien, Tag 1 (okay, 0,5)
Die Albertina lud mich zur Ausstellungseröffnung von Anselm Kiefers Holzschnitten nach Wien ein und übernimmt netterweise Flug- und Hotelkosten. Man hat mich nicht um eine Gegenleistung dafür gebeten, aber ich ahne euphorische Blogeinträge und dutzende ebensolcher Tweets. Wir werden sehen. #ooohvienna #AlbertinaKiefer
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Ich so bräsig nach dem Start in München auf dem iPad lesend, kurz mal einen Blick nach draußen werfend, kennste ja alles, fliegst ja dauernd die gleiche Strecke – bis mir auffiel: nee, diese nicht. Nach Wien bist du noch nie geflogen und unter dir sind gerade die Alpen. DIE ALPEN!
Als Norddeutsche kenne ich das nur so: Man guckt bis zum Horizont und dann kommt irgendwann das Meer. (Meer ist immer super.) In Bayern musste ich mich daran gewöhnen, dass plötzlich so Klötze in der Landschaft stehen und sie machen mich bis heute irgendwie nervös. Aber von oben sind sie genau das, was man über sie sagt: majestätisch. Ich legte das iPad in den Schoß, sagte irgendwann die üblichen An-Bord-Sätze „Ich hätte gerne einen Tee, bitte … nein, ohne alles … danke“ und guckte geschätzt 30 Minuten aus dem Fenster. Irgendwann kam dann Schönbrunn – das stand eigentlich nicht auf meiner Anguckliste, weil ich nicht so viel Zeit habe, aber jetzt kann ich sagen: hab ich auch gesehen, ha! – und schon landeten wir.
Der Flughafen Wien sieht vom Rollfeld aus wie eine Festung aus Game of Thrones, ist innen aber brav beschriftet und schön übersichtlich. Ich fand es lustig, im Ausland zu sein und alles zu verstehen – oder zumindest fast alles. Ein paar Vokabeln sind anders, aber im Prinzip grinste ich die ganze Zeit, weil ich dachte, ich kann alles lesen, ich versteh alles, das ist super. Next Level: Schweiz.
Der CAT brachte mich in 16 Minuten in die Mitte Wiens, von dort aus fuhr ich zwei Stationen zum Stephansplatz, kletterte nach oben und streifte mit wenigen Blicken dieses kleine Kirchlein, das dort steht. So hübsch ich die gesäuberten Sandsteinfassaden finde – der schwarze Brocken in Köln macht doch irgendwie mehr her. Aber ich komme noch mal wieder – der Plan ist: heute nachmittag – und gucke ihn mir genauer an.
Ich rollte mein Köfferchen 300 Meter weiter und stand von meinem Hotel. Im zweiten Stock angekommen, öffnete ich die Gardinen – und guckte direkt auf eine weitere Kirche, die ungefähr acht Meter Luftlinie von meinem Balkon weg steht. Besser kann man für eine Kunsthistorikerin echt kein Zimmer buchen.
(Die Aufnahmen sind von heute morgen, gestern war es diesig.)
Kurz frischgemacht, Zeug verstaut und dann wieder los: Erstmal den Fußweg zur Albertina abgehen, damit ich heute bloß nicht zu spät komme. Ein braves Foto gemacht und weiter. Dass ich neuerdings nicht nur mein iPhone habe, sondern auch eine anständige Kamera, ist mir erst aufgefallen, als ich wieder im Hotel war. Ich übe das noch mit dem Touri-Sein. Daher kommen jetzt leider nur noch Telefonfotos.
Von der Albertina ging ich direkt zur Konkurrenz, dem Kunsthistorischen Museum. Egal ob in Wien oder Paris oder in so gut wie jeder anderen europäischen Stadt, die mit Häusern aus der Jahrhundertwende und davor vollsteht – ich denke immer: So könnte das auch bei uns aussehen. Könnte. Dann bin ich kurz traurig, dann denke ich an die spannenden Stadtgestalten, die wir dafür in der Bundesrepublik haben, dann bin ich wieder traurig und dann muss ich an was anderes denken. Gestern waren es die ganzen schlecht gelaunten italienischen Schulklassen, die mich gut abgelenkt haben, aus denen sich quasi der komplette 1. Bezirk zusammensetzt.
Für das KHM hatte ich leider nicht irrsinnig viel Zeit, denn ich war abends verabredet. Also sprintete ich nur durch die Gemäldegalerie, aber dort hingen natürlich genug Bilder, die mich anhalten ließen. So habe ich Pieter Bruegel den Älteren ganz neu zu schätzen gelernt. Klar kannte ich den Turmbau zu Babel und die Bauernhochzeit, aber ich habe beide Bilder gestern zum ersten Mal richtig gesehen. Beim Turmbau fiel mir auf, dass der Baustil romanisch ist, was ich lustig fand, denn im 16. Jahrhundert stand genug Gotik in der Gegend, die Romanik war lange vorbei und out, und man baute schicke Renaissancepaläste. Ich gehe davon aus, dass Bruegel bewusst einen älteren Stil wählte, um die biblische Szene zu zeigen, aber dass er sich so brav an romanische Details hält, ist mir noch nie aufgefallen. Auch die Vielfalt der einzelen Bildteile war mir neu, und alleine für dieses Bild würde ich gerne noch mal wiederkommen. Und für die Bauernhochzeit, die ich in Abbildungen immer als naiv und irgendwie niedlich, aber mehr auch nicht, empfunden habe. Wenn man vor dem nicht ganz kleinen Bild steht, wirkt es auf einmal sehr modern; das blaue Hemd des Suppenträgers sieht frisch gewaschen aus, die Schürze ist mit einem fast filigranen Band gebunden, das aber gleichzeitig fest wirkt. Was mich besonders gerührt hat: der glückliche Gesichtsausdruck der Braut, die still und zufrieden breit lächelnd vor ihrem grünen Stoffvorhang sitzt. Wunderschön und alles andere als naiv. Auch toll: der Bethlehemitische Kindermord, den Bruegel (der Jüngere) ins Flämische verlegt hat, was die Szene noch irrealer wirken lässt. Das hat ein bisschen gedauert, bis ich kapiert habe, worum es geht, denn den Kindermord kenne ich nur in hellen, antiken Kulissen und in bunt-italienisch. Ich gucke immer erst aufs Bild und dann auf die Beschriftung, was im KHM prima funktioniert, denn da stehen die Texte auf einer Bande vor den Bildern und nicht direkt daneben. Oder sie stehen auf einem großen ausliegenden Blatt, das man leihweise in die Hand nimmt, wenn man die vollgehängten Räume abschreitet.
Im Anthonis-van-Dyck-Saal ließ ich meinen Blick nur kurz schweifen, blieb bei einem Prinzenporträt hängen und dann bei einem Bild, bei dem ich dachte, hm, das ist doch kein van Dyck? War’s auch nicht, war ein Vermeer. Das war das Stichwort für den asiatisch aussehenden Touristen mit der Kamera, der quasi in meinem Tempo durch die Säle ging, aber nicht wie ich schnell guckte, sondern schnell knipste. Alles. Ich glaube, er hat sich kein einziges Bild richtig angeschaut, höchstens um die Kamera scharf zu stellen. Alter – wenn du nur Abbildungen der Werke sehen willst, kannst du auch Google anwerfen. Ich verstehe es einfach nicht.
Bei den deutschen Malern konnte mich Hans Holbein der Jüngere zum ersten Mal richtig begeistern, und ich blieb lange vor der jungen Venezianerin von Dürer stehen, weil sie mich immer an meine Mama erinnert. Bei den Italienern reichte ein Blick in den üppig bunten Saal, um den Raffael zu erspähen, und vor einem besonders dramatischen Caravaggio testete ich die hervorragendenden Sofas (SOFAS!) an, die überall in den Räumen standen. Können bitte alle Museen Sofas aufstellen und nicht mehr diese blöden lehnenlosen Inseln?
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Abend traf ich mich mit einem charmanten Herrn, der mir viel über Architektur erzählte (Koalagehege!) und einen schönen Zweigelt ausgab, weil ich ja Geburtstag hatte. Weil der Herr noch einen beruflichen Termin hatte, war ich sogar pünktlich zum Anpfiff des CL-Spiels zwischen Bayern und Juve im Hotel. Und weil die Bayern auch nett zu mir sein wollten, gewannen sie das Spiel. So kann der Kurzurlaub weitergehen.
Tagebuch, Montag, 8. Februar 2016 – Falling into place
In den letzten Wochen hat sich bei mir innerlich einiges gefestigt, was 2015 in der Schwebe war: meine Beziehungen, mein Wohnort, meine Studiensituation. Gefühlt habe ich das vergangene Jahr damit verbracht, meinen Status quo wiederzufinden, von dem ich nicht genau wusste, wo er eigentlich sein soll. Aber so allmählich fallen alle Einzelteile dort hin, wo sie sich richtig anfühlen, und ich hoffe, das bleibt so.
Studiensituation
Das erwähnte ich in meinem traditionellen Semesterabschlusseintrag bereits: Die Entscheidung für den Master war richtig, der diffuse Wunsch nach einer anschließenden Promotion ist keiner mehr, sondern ein festes Vorhaben. Ich habe mir einen kleinen Plan gebastelt, wie meine nächsten Wochen und Monate aussehen könnten und versuche jetzt, ihn umzusetzen. Die Kiefer-Arbeit war ein grandioser Motivationsschub, der zu keinem besseren Zeitpunkt hätte kommen können.
Wohnort
Anfang April werde ich noch ein paar Kisten in Hamburg packen, um meine restliche Habe zu meinen Eltern fahren zu lassen. Dann gebe ich dem Kerl die Schlüssel, die ich noch habe, und mache dort ein letztes Mal die Tür hinter mir zu. Mein Abschied vom Lebensgefährten, der Stadt, in der ich 15 Jahre gewohnt habe und dem Leben, das dort stattfand, hat ein Jahr gedauert, aber jetzt fühlt es sich bereits wie Vergangenheit an. Es sind nur noch die wenigen Kartons, die zum endgültigen Good-bye fehlen, und ich habe keine Angst mehr davor, sondern bin im Gegenteil froh darüber, wenn das Thema durch ist.
Vor einigen Tagen trat ich aus meiner Münchner Wohnung auf die Straße, merkte, wie warm es plötzlich geworden war – und musste unwillkürlich vorfreudig lächeln. Sommer war für mich jahrzehntelang eine sehr überflüssige Jahreszeit, aber seit zwei Jahren habe ich mich mit ihr arrangiert. Frühling und Sommer in München sind wunderschön; die angeblich nördlichste Stadt Italiens fühlt sich dann wirklich so an. Ich freue mich schon auf das Radeln in der lauwarmen Luft, wenn ich nachts von Freunden komme, ich freue mich auf F.s Balkon, auf dem Wein besser schmeckt als irgendwo anders, den Balkon des ehemaligen Mitbewohners, von dem ich so gerne in den Altbau gegenüber gucke, ich freue mich auf die lange Dämmerung und das Licht unter den Kastanien im Biergarten. Ich freue mich darüber, eine Stadt gefunden zu haben, in der ich freiwillig draußen sein will. Also „draußen“ innerhalb meiner Maßstäbe – ich werde nie jemand werden, die gerne 15 Stunden in der Sonne rumlungert, aber ich habe festgestellt, dass ich in den letzten beiden Jahren, seit ich wieder Fahrrad fahre, gerade im Sommer öfter einen Umweg fahre, einfach weil es so schön ist, durchs sommerliche München zu radeln.
Auch meine Wohnung fühlt sich inzwischen richtig an. Ich habe monatelang hin- und hergeräumt, Dinge ausprobiert und viel weggeschmissen, aber jetzt ist es keine Verlegenheitslösung mehr, nach der es sich direkt nach dem Umzug angefühlt hat, sondern mein Zuhause. Die Lieblingsmesser liegen griffbereit, das schöne Geschirr steht neuerdings offen im Regal und nicht mehr im Umzugskarton in der Abstellkammer, ich habe Tischwäsche, Blumenvasen und Kerzenhalter. Ich wohne hier, und jetzt sieht man das auch.
Beziehungen
F. und ich hatten uns Ende letzten Jahres getrennt, weil ich nicht mit uns klargekommen bin. Ich war im Kopf noch mit dem Kerl, dem Umzug und dem Studium beschäftigt und da war alles andere schlicht zu viel für mich. Die Zeit der Trennung war richtig und wichtig und sie hat dafür gesorgt, dass wir uns wieder näherkommen konnten, dieses Mal unter anderen Vorzeichen.
Wenn man über ein Jahrzehnt in einer Beziehung lebt, hinterfragt man ihre Mechanismen irgendwann gar nicht mehr. Ich jedenfalls nicht. Ich hatte mich irgendwann in irgendwas eingerichtet und das war halt so. Die letzten Veränderungsversuche endeten damit, dass der Kerl sich und ich mich weiterentwickelte, aber nicht wir gemeinsam, und schlussendlich führten sie zur Trennung.
Als ich mit F. zusammenkam, nutzte ich die gleichen Mechanismen, die ich aus meiner alten Beziehung kannte, ohne darüber nachzudenken, dass ich einen anderen Mann vor mir habe, der ganz eventuell einen anderen Umgang erwartet und anbietet. Im Prinzip war das der Trennungsgrund: Ich habe versucht, eine neue Beziehung so aussehen zu lassen wie die alte, was natürlich Quatsch ist, weil die alte ja nicht mehr funktioniert hat. Das ist mir aber erst während der Trennung klar geworden und F. auch. Seitdem tänzelten wir ein bisschen umeinander rum, waren erst wieder gute Freunde, dann welche mit Benefits und jetzt gerade haben wir einen zweiten Versuch als Paar gestartet. Wir wissen beide noch nicht genau, wie das laufen wird, aber wir wissen jetzt, dass wir am Zusammensein rumdengeln können, Dinge ausprobieren können, nicht alles nach Plan machen müssen. (Bitte stellen Sie sich hier vor, wie ich in eine Papiertüte atme.)
Kurz gesagt: Im Moment sind alle meine Spielfiguren da, wo ich sie haben will. Game on, baby.
Eigentlich ist das hier nicht mein siebtes, sondern mein erstes Semester. Auf meinen MA-Studiausweis steht die 1, nicht die 7. Aber gut.
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Ich habe gelernt, dass MA-Kurse ein anderes Diskussionsniveau haben als BA-Kurse. Das mag in meinen beiden Seminaren Zufall gewesen sein, aber ich hatte schon das Gefühl – gerade im Ost-West-Dialoge-Seminar –, dass man sich hier eher traute, was zu sagen. Man hat eben schon sechs Semester hinter sich, irgendwas bleibt da bei jeder hängen und dann sagt man das halt. Viele meiner Kommilitoninnen argumentierten auf hohem Niveau, weswegen es mich teilweise wahnsinnig gemacht hat, dass einige Referate wie von Klippschülerinnen klangen – oder so hochgestochen ausformuliert, um dann zuhörerinnenunfreundlich vorgelesen zu werden, dass ich genauso wenig davon habe wie von der ersten Variante. Das wunderte mich, dass man im MA immer noch miese Referate zu hören bekommt – wobei ich im BA in KuGi auch nur wenige Dozent*innen gehabt habe, die einem sagen, wie es besser gehen könnte. Wenn ich mal ein wenig an der heiligen LMU rumquengeln darf: Das wäre für die Pflichtpropädeutika in den ersten beiden Semestern eine schnafte Sache, wenn man da mal beigebracht bekäme, worauf es bei einem Referat ankommt und wie die Folien aussehen sollten (ich habe das in meinem Nebenfach Geschichte gelernt). Schwarze Schrift auf dunkelgrauem Untergrund und Bilder, die ein Viertel des Platzes einnehmen und damit Dreiviertel verschwenden, braucht in einem visuellen Fach wie Kunstgeschichte niemand.
Aber was weiß ich, vielleicht sind meine Referate genauso doof und es sagt mir nur niemand.
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Ich habe gelernt, dass ich zu den besten zehn Prozent meines Prüfungstermins im BA gehört habe. Selbst wenn meine Referate doof sind – meine Hausarbeiten und meine BA-Arbeit waren es anscheinend nicht.
Da es bei uns keine Notenspiegel von Hausarbeiten gibt und ich mich nicht mit Kommilitoninnen austausche, was sie denn so haben, wusste ich nie, wo ich stehe. Eine Geschichtsdozentin sagte mir mal: „Sie scheinen ein Talent für die wissenschaftliche Arbeit zu haben“, woraufhin ich verlegen rumstammelte, „Ach Gottchen, freut mich, wusste ich nicht, ich hab ja keinen Vergleich“, und sie meinte: „Aber ich.“ Das vergaß ich aber schnell wieder und die Misserfolge bei den Bewerbungen um Hiwi-Stellen taten ihr Übriges, weswegen mich das offizielle Schreiben mit den zehn Prozent sehr beflügelt hat und mich immer noch freut.
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Ich habe gelernt, dass ich es wirklich richtig und abgrundtief hasse, mit jemandem zusammen ein Referat vorbereiten zu müssen. Ich will meinen Kram alleine machen, weil es mein Kram ist.
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Ich habe gelernt, wie wundervoll es ist, wenn man mal Zeit für die Wissenschaft hat. Das klang immer albern, wenn man im Bachelor sagte, man hat 15 Wochenstunden und viel zu tun, aber man hatte echt viel zu tun, weil man die Stunden natürlich vor- und nachbereiten sowie Referate und Hausarbeiten schreiben und für Klausuren lernen musste. Im Master hatte ich in diesem Semester gerade mal acht Wochenstunden, woraus dann sogar nur sechs wurden, weil ich eine Vorlesung aus Mangel an Begeisterung knickte. Den Rest der Zeit konnte ich genüsslich in Bibliotheken verbringen und so richtig tief in ein Thema eintauchen, wofür ich im BA nicht ganz so viel Zeit hatte.
Dass auch diese Tiefe noch tiefer geht, merkte ich bei der Anselm-Kiefer-Hausarbeit, wo ich feststellte, dass ich aus meinem Thema locker eine MA-Arbeit hätte schnitzen können; da ging es eher darum, mein ganzes Wissen in eine bestimmte Zeichenzahl zu quetschen anstatt alles rauszuhauen, was ich erkannt hatte. Das war auch neu: das Wissen, eine wirkliche Forschungsleistung erbracht zu haben, mit der jemand außer mir und meiner Dozentin was anfangen könnte. Daher ahne ich, dass ihr meine wunderschöne Hausarbeit nicht zu lesen bekommt, weil ich mir das Thema für die Abschlussarbeit aufsparen möchte. Ich ahne allerdings auch, dass ich in zwei Semestern für etwas ganz anderes genauso glühe. Wie immer halt.
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Ich habe gelernt, dass ich allmählich Routine darin entwickele, mit meiner Zeit klarzukommen. Bei Referaten denke ich zwar seit sieben Semestern in der ersten Rumlesewoche: Ich finde keinen roten Faden, da wird nie was draus. In der zweiten: Jetzt haste zu viel Stoff, da wird nie was draus. Aber in der dritten Woche ordnen sich meine Gedanken und ich kann langsam die Präsentation basteln. Ich kann mich inzwischen darauf verlassen, dass nach meiner üblichen Anfangshysterie irgendwann eine Glühbirne über meinem Kopf leuchtet.
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Ich habe erneut gelernt, was ich schon im sechsten Semester gelernt habe: Die Bibliothek ist mein Happy Place. Egal in was für unruhigen Gewässern sich mein Hirn oder mein Herz sonst so befinden – sobald ich in der Bibliothek vor den Büchern sitze, ist alles gut. Ich habe allerdings auch gelernt, dass kein Mann gegen diesen Ort anstinken kann; meine Arbeit ist seit Ende des fünften Semesters wichtiger als die Jungs. Für zukünftige Bewerber vielleicht nicht ganz uninteressant zu wissen. (Für mich auch.)
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Ich habe gelernt, dass Architektur immer spannend ist, ganz gleich aus welcher Epoche, und ich alles, was einem Gebäude ähnlich sieht, sehr gerne anschaue. Ich habe blöderweise selten eine wissenschaftliche Frage an ein Gebäude, während ich bei bildender Kunst viel eher meine Stirn runzele und innerlich anfange, Überlegungen anzustellen. Bei Architektur freue ich mich stets unwissenschaftlich darüber, dass sie da ist und ich sie angucken kann. Das reicht vermutlich nicht für eine Karriere als Architekturhistorikerin, was ich sehr schade finde.
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Ich habe gelernt, wie anders sich Ausstellungen anfühlen, wenn man richtig gut vorbereitet in sie reingeht.
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Ich habe gelernt, Vertrauen in meine eigene Arbeit zu haben. Ich kann inzwischen kunsthistorische Urteile fällen, ich kann auf viel Wissen zurückgreifen, auch wenn es sich in allen Epochen noch halbgar anfühlt, ich kann eigene wissenschaftliche Schlüsse ziehen und sie sauber verargumentieren. Das fühlt sich ziemlich großartig an.
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Ich habe gelernt, dass meine Entscheidung weiterzustudieren, absolut richtig war. Das Gefühl, mit dem ich zur Uni gehe, ist ein anderes als im Bachelor, als ich hibbelig und neugierig in die Seminare und Vorlesungen rannte, weil alles neu und aufregend und anders war. Neu ist es nicht mehr, aufregend ist es immer noch, aber momentan gehe ich zen-artig in die Uni. Ich weiß, warum ich hier bin, ich weiß, was ich noch lernen will, ich weiß, wo die Reise hingeht. Das hat mich einen gut bezahlten Job und eine langjährige Beziehung gekostet, aber jetzt gerade fühlt sich das trotzdem genau richtig an. Ich bin da, wo ich sein soll. Der Master ist für mich nur noch ein Zwischenschritt zur Promotion, die ich gar nicht mehr hinterfrage und die ich schon irgendwie finanziert bekomme.
Vielleicht sollte ich mit dem Kauf der Belohnungs-Absolvente, die ich mir eigentlich für den BA-Abschluss versprochen hatte, noch ein paar Jahre warten.
Seit Anfang Oktober beschäftige ich mich intensiv und fast ausschließlich mit Kiefer, vor allem mit seinem Frühwerk. Die Hausarbeit ist zu einem Drittel geschrieben, der Rest ist noch im Kopf und muss nur noch aufs Papier (haha), auf meinem Schreibtisch stapeln sich Bücher zu Kiefer, und im Zentralinstitut für Kunstgeschichte steht mein Handapparat aus Ausstellungskatalogen. Als ich im Dezember erfuhr, dass bis April eine Retrospektive von Kiefer im Centre Pompidou läuft, zierte ich mich noch ein wenig, aber als ich im ZI den Ausstellungskatalog in der Hand hatte und sah, wieviele Bilder ich dort sehen könnte, über die ich seit Monaten nachdenke, buchte ich ein Ticket. Am Samstag war es dann soweit; ich stand um vier Uhr morgens auf, um den 7.15-Flug nach Paris zu kriegen, dort ins Museum zu gehen und abends wieder zurückzufliegen. (Keine Zeit und kein Geld für mehr.)
Ich landete um 9 in Paris; das Centre Pompidou öffnet allerdings erst um 11. Ich wusste, dass der Flughafen Charles de Gaulle ein riesiges Monster ist, und ich hatte keine Ahnung, wo die RER-Gleise waren, von denen mich ein Zug bis nach Châtelet-Les Halles bringen sollte, damit ich von dort zu Fuß zum Centre Pompidou laufen könnte. Daher hatte ich mir nur locker ein kleines Touri-Programm überlegt, falls ich tatsächlich noch Zeit hätte. Das Monster war allerdings überraschend gut ausgeschildert, ich fand sofort die Ticketautomaten, erwischte den richtigen Zug und war laut Swarm-Check-in um 10 nach 10 mitten in Paris.
Wer in Les Halles das Wort sortie nicht kennt, wird vermutlich dort unten verenden. Ich suchte nach dem Ausgang zur Rue de Rivoli, fand ihn manchmal, verlor die Richtung dann wieder und dachte schließlich, Schnickschnack, ich nehme jetzt die nächste Treppe nach oben und zücke Google Maps. Denn die 50 Minuten, bis ich theoretisch am Centre Pompidou sein müsste, wollte ich erstmal am Louvre investieren. Am, nicht im, das war zeitlich nicht drin (leider), aber ich wollte mir auch nur eine einzige Wand angucken: die Ostfassade.
Die Kunstgeschichte ist bis heute traurig darüber, dass nicht Bernini diesen Teil des Louvres umbauen durfte, denn seine Entwürfe wären einen Hauch schwungvoller geworden als das, was da jetzt seit 1674 steht. Ich habe im Bachelor, glaube ich, drei Dozenten gehabt, die sich in drei unterschiedlichen Vorlesungen oder Seminaren über diese Fassade beschwerten, und jetzt, wo ich sie gesehen habe, kann ich das nachvollziehen. Man steht vor einem ewig langen Block, und das Auge kann sich nirgends richtig festhalten. Ein Mittelrisalit und zwei Eckrisalite gliedern die lange Kolonnadenreihe zu wenig, um wirklich Abwechslung zu erzeugen. Die Doppelsäulen betonen die Aneinanderreihung von einer Achse nach der nächsten sogar noch anstatt sie zu unterbrechen. Das Ganze wirkt sehr massiv, es fehlt die Leichtigkeit von Bernini oder auch die des französischen Schlossbaus, der durchaus gezeigt hat, wie man lange Fronten spannender gestalten kann, zum Beispiel die Gartenseite von Versailles, die kurz vor der Louvre-Umgestaltung entstand.
Ich verbrachte trotzdem ein Viertelstündchen damit, die Fassade abzugehen – und entdeckte überrascht, dass hinter ihr irgendwann der Eiffelturm hervorlugt. Mir fehlt für Paris jeglicher Orientierungssinn, ich weiß nie, von wo man den schnuffigen Turm sieht. Aber jetzt, wo ich ihn gesehen hatte, dachte ich, machste doch noch schnell das übliche Tourifoto von der Pont Neuf.
Die Louvre-Fassade war mein einziger geplanter Bonustrip zum Centre Pompidou; ich hatte locker im Hinterkopf, dass, wenn ich früh genug mit Kiefer fertig wäre, ich noch zur Notre Dame schlendern könnte. In der war ich zwar schon zweimal, aber Kathedralen kann man sich ja immer wieder angucken. Und nun stand ich auf der Brücke, guckte zum Eiffelturm, drehte mich um, um in Richtung Centre Pompidou zu gehen – und sah natürlich schon die Türme der Notre Dame. Das wäre jetzt ja quasi albern, erst zu Kiefer zu gehen und dann nochmal hierhier, also schlenderte ich über die nächste Brücke auf die Île de la Cité, am Justizpalast vorbei, wo sich die ersten Tourigruppen sammelten – es war sehr leer in Paris, was mich etwas wunderte, so kannte ich die Stadt überhaupt nicht –, bis ich wenige Minuten später vor der Kirche stand.
Was mir neben der ungewohnte Leere noch auffiel: sehr viele Menschen in Tarnkleidung mit Maschinenpistolen, selten allein, meist gleich mindestens zu fünft. Vor Notre Dame mischten sie sich aufmerksam zwischen die Touris, später sah ich sie vor dem Rathaus in noch größerer Anzahl, und sogar vor dem Centre Pompidou, dort allerdings eher vereinzelt. Bevor ich in Notre Dame eintreten durfte, musste ich meinen Rucksack öffnen – ich bin mir allerdings unsicher, ob das vor den Attentaten nicht auch schon so war, genau wie im fnac Les Halles, wo ich später am Tag noch einen Comic kaufte. Vor dem Centre Pompidou gab es längere Schlangen, weil man auch hier die Taschen öffnen und durch einen Metalldetektor gehen musste.
Aber noch stand ich vor Notre Dame und guckte mir entspannt die Fassade an. Ich mag die Königsgalerie so gerne, die die Fassade horizontal teilt und die Portalzone deutlich von Fensterzone und Türmen trennt. Auch an Tympana kann ich nie vorbeigehen, ganz gleich an welcher Kirche sie sich befinden. Ich freue mich immer über die raffinierten Gestalten, vor allem, wenn sie nicht die üblichen weihevollen Jünger und Apostel sind, sondern wie hier Fratzen und Ungeheuer.
Drinnen war es wie immer: zu laut. Ich glaube, es kommen stets mehr Schilder hinzu, die Menschen darauf hinweisen, dass das hier eine Kirche ist, also Fresse, aber das bringt nie was. Ich mag das Innere von Notre Dame eh nicht so richtig gerne, freute mich aber wie immer an den Fensterrosen, wobei mir dieses Mal die beiden im Querschiff sogar besser gefielen als die große Rose an der Hauptfassade. Und ich genoss, wie immer in gotischen Kirchen, den Chorumgang, weil ich halt so gerne hinter dem Hauptaltarraum rumlaufe. Das kennt man aus modernen Kirchen ja nicht, dass nach dem Altar noch was kommt außer einer Wand. In den gotischen Kirchen befinden sich hier aber diverse kleine Kapellen, in denen gerne Reliquien lagen, und der Chorumgang war für die ganzen Pilger da, die sich die Reliquien auf ihrer Reise anschauen wollten. Damit die Jungs (Pilgern war eine fast ausschließlich männliche Angelegenheit) nicht das ganze Mittelschiff vollstanden, schuf die Gotik halt Platz für sie und steuerte sie um den Altarraum herum, auf einer Seite rein, weitergehen, nicht stehenbleiben, auf der anderen Seite raus. Klappt heute noch genauso. Theoretisch. Praktisch steht natürlich immer jemand mit Selfiestick im Weg.
Ich blieb nicht lange in der Kirche, setzte mich nur kurz ins Mittelschiff, um mich zu freuen, dass ich in Paris sein kann und ging dann weiter ins Centre Pompidou. Zu Kiefer. (OMG!)
Mir diese Ausstellung anzuschauen, war ein sehr ungewohntes Erlebnis. Normalerweise gehe ich fürchterlich emotional in Museen. Gerade wenn ich endlich ein Bild oder eine Skulptur sehe, die ich vorher oft in Büchern gesehen habe, stehe ich gerne mal wackelig vor dem Werk und schlucke Tränchen runter. Das ging mir bei Kiefer überhaupt nicht so, obwohl ich mir sein Œuvre durchaus auch emotional erschlossen habe. Stattdessen erwischte ich mich, quasi durchgehend zustimmend zu nicken, ja, schöne Hängung, bisschen wenig Platz, aber gut, so ist das Museum eben, können ja nicht alle so riesig sein wie die Pinakothek der Moderne, weiternicken, gucken, ja, kenne ich, aha, so sieht das also in echt aus, so hatte ich mir das auch vorgestellt, aha, aha.
Ich weiß nicht, ob es an meiner wirklich gründlichen Vorbereitung lag, daran, dass ich eben seit Monaten über Kiefers Werk brüte und so ziemlich alle Bilder kannte, die an den Wänden hingen und sie mich deswegen auf den ersten Blick nicht mehr überraschen konnten, oder ob schlicht meine gebündelte Konzentration überwog, weil ich wusste, ich bin nur heute hier, in zwei Stunden kann ich eh nix mehr sehen, also streng dich an. Das fühlte sich eher nach Arbeit an als nach einem entspannten Museumsbesuch, aber: Es war großartig. So fühlt man sich also als Kunsthistorikerin. Aha, aha.
Die Ausstellung war halbwegs chronologisch geordnet, aber gleichzeitig – sehr schlau – nach Themen. Im Pressedossier des Centre Pompidou, das ich peinlicherweise nicht mehr auf der Website wiederfinde, ist ein praktischer Plan abgebildet, in dem die Räume beschrieben sind. Den ersten Raum, Rhétorique de guerre, nahm ich mit, weil das mit Kiefers älteste Werke waren, die also in die Zeit fallen, mit der ich mich in der Hausarbeit beschäftige. Hier besah ich mir eher seine Maltechnik als die Motive – die kannte ich ja auch alle – und die Farben, weil man bei denen in keinem Katalog sicher sein kann, ob sie auch wirklich denen auf der Leinwand entsprechen. Hier fand ich auch Maikäfer flieg (1974), das den Titel des Katalogs ziert und bei dem mich die dicken Farbschichten faszinierten, die durchbrochen waren von völliger Abwesenheit von Farbe. Das hängt übrigens sonst im Hamburger Bahnhof in Berlin, einfach mal vorbeischauen.
Durch den Raum mit Papierarbeiten ging ich recht schnell; ich war wegen der Gemälde hier. Eins meiner liebsten fand ich dann auch schon im dritten Raum, in dem Landschaftsbilder hingen, darunter Siegfried vergißt Brünhilde (1975), das sonst in Duisburg im MKM hängt. Gerade bei diesem Bild bin ich froh, dass ich es endlich im Original gesehen habe, denn in den meisten Abbildungen kam es mir sehr rosig vor – jetzt weiß ich, dass diese Version (es gibt mehrere, siehe meine gestrigeNölerei bei Twitter) eher grünlich schimmert, fast unwirklich und wie ein Unterwassersee aussieht anstatt wie ein oberirdischer Acker im Tageslicht.
Im vierten Raum, Mythes germaniques, hing Varus (1976), über das ich schon im Referat gesprochen hatte und das ich sehr gerne mag. Das hatte ich mir immer größer vorgestellt als es ist; 200 x 270 cm ist nicht gerade winzig, aber im Vergleich zu den Werken aus dem nächsten Raum – Une histoire allemande – dann doch fast kleinformatig. Eben dieser Raum war der, für den ich nach Paris geflogen bin. Hier hingen Parsifal III (1973) und Notung (1973) und ich blieb sehr lange bei ihnen. (Wobei ich glaube, dass das Bild eher Parsifal I ist; die Nummerierung geht in allen Katalogen lustig durcheinander. Das Bild mit dem Speer ist der Mittelteil des Triptychons Parsifal III, I, IV, daher tippe ich auf die I.)
Endlich konnte ich mich mit der Größe der Bilder konfrontieren anstatt sie auf höchstens 30 Zentimeter Breite in einem Buch abgedruckt zu sehen, ich konnte die gemalte Maserung des hölzernen Dachbodens mit den Augen verfolgen und gucken, was der gemalte Raum mit mir macht. Auch hier bemerkte ich das Fehlen jeglicher Emotionalität, es blieb bei der faszinierten und begeisterten Konzentration und einem sehr positiven Schub für die Hausarbeit. Außerdem fand hier ein Ereignis statt, das eine meiner Theorien ganz wunderbar bestätigte, das ich aber trotzdem nicht in die Arbeit schreiben werden kann, weil es ganz und gar unwissenschaftlich ist.
Mein Zugang zu Notung und dem Wagner-Bezug im Bild ist nicht der übliche „Wagner ist Hitlers Lieblingskomponist und damit sind die Bilder ein grobschlächtiger Hinweis auf den NS-Staat“. Stattdessen glaube ich, dass Wagner für etwas anderes steht – er ist für mich ein Hinweis auf die enge Bindung, die Hitler zur Familie Wagner in Bayreuth pflegte. Die Bilder mit Wagner-Bezug zeigen für mich intimere Szenen als andere Kiefer-Bilder, wo er weite Landschaften abbildet, Stammbäume mit deutscher Geschichte, NS-Architektur usw. – der große Bogen zum Nationalsozialismus. In den Wagner-Bildern geht er für mich vom großen Ganzen und dem übermächtigen Staat weg in die kleine Keimzelle der Familie, die durch ihr Mitwirken eben auch für das Funktionieren des NS-Staats gesorgt hat und die jetzt, nach 1945, eisern dazu schweigt, um das Wirtschaftswunder durchzuziehen. Das ist für mich eine andere Ebene als die der großen Politik. Mir kam das Schwert im Bild auch nie wie eine Waffe vor, sondern wie ein Kinderspielzeug. Und als ich Samstag vor dem Bild stand, rannte plötzlich ein kleiner Junge direkt auf das Bild zu und hatte die Hände schon nach dem Spielzeugschwert ausgestreckt, als sein Vater ihn noch kurz vor dem Absperrseil schnappen und festhalten konnte. Aha, aha.
Eigentlich war damit schon alles erfahren, was ich haben wollte, als ich den Parisflug gebucht hatte. Aber ein Raum wartete noch auf mich, der mich dann doch ein bisschen emotional werden ließ.
Im Raum La valeur des ruines hingen mehrere Werke aus der Bilderserie Kiefers, in der er NS-Architektur gemalt hatte, Speer, Troost, die ganze Bande. Auf ein Bild – Dem unbekannten Maler (1983) – hatte er einzelne Strohhalme geklebt, was ich nie so recht verstanden hatte. Aber jetzt, als ich vor dem Bild stand, war auf einmal alles klar: Die Halme fielen nach und nach vom Bild ab, an einigen Stellen war nur noch die Leinwand zu sehen – so wie die abgebildete Architektur in unseren Städten nicht mehr zu sehen ist, weil sie nach 1945 nach und nach vernichtet oder verbaut wurde, aus den Augen, aus dem Sinn.
In diesem Raum hingen noch zwei weitere großformatige Bilder, für die sich die Fahrt alleine gelohnt hätte: Margarete und Sulamith, beide von 1981. In ihnen verarbeitet Kiefer Paul Celans Todesfuge: Margaretes goldenes Haar wird von Stroh dargestellt, Sulamiths aschenes bekommen wir nicht mehr zu sehen; stattdessen stehen wir vor dem Bild eines Gebäudes, das einer Soldatenhalle von Wilhelm Kreis von 1939 nachempfunden ist, das aber an einen Ofen erinnert (kann man im Link unter Sulamith sehen). Die Bilder hingen direkt nebeneinander, und vor ihnen standen gefühlt weitaus mehr Menschen als vor allen anderen Werken. Vielleicht weil sie, im Gegensatz zu vielen anderen Bildern Kiefers, so simpel und eindrücklich funktionieren.
In dem Moment, in dem ich vor diesen Bildern stand, twitterte ich: „Verstehe zum ersten Mal die Wucht der Materialität von Kiefer“ und „Arschfrühes Aufstehen, teurer Flug – alles egal, alles richtig gemacht.“ Und mit genau diesem Gefühl bin ich dann auch durch den Rest der Ausstellung gegangen, die mir für meine Hausarbeit nichts mehr brachte, weil die Bilder und Skulpturen zu neu und anderen Themen zugeordnet waren, aber sie gaben mir einen hervorragenden Gesamteindruck mit. Ich kann jede Kritik verstehen, die Kiefer seit 40 Jahren zu hören kriegt – esoterischer Quatsch –, ich weiß nun aber ganz genau, warum mich diese Bilder so faszinieren. Sie haben mich schon als kleines Foto in dutzenden von Büchern begeistert und sie tun es erst recht, wenn ich vor ihnen stehe. Ihre Größe, ihre Haptik, ihre nachvollziehbaren, lesbaren Spuren, überhaupt Spuren, nicht einfach nur Farbe auf Leinwand, sondern ein Landkarte meines eigenen Landes und seiner Vergangenheit, das Empfinden, hier Wahrheiten zu sehen und kein vages Kunstwollen sowie das Gefühl, schon viel gewusst zu haben, es aber es jetzt erst richtig verstehen zu können – all das nehme ich mit. Merci, Monsieur. Merci, Paris.
Den Montag verbrachte ich in der Stabi, wo ich eine Dissertation von 2007 zu Anselm Kiefer und seinen Bildern zu Paul Celans Todesfuge las. Obwohl der Schwerpunkt auf Bildern lag, mit denen ich mich nicht beschäftige, fand ich in dem netterweise üppig bebilderten Buch wichtige Hinweise auf Werke, mit denen ich mich beschäftige, unter anderem so kunsthistorische Wichtigkeiten wie Maße oder Besitzverhältnisse von einzelnen Bildern. Die brauche ich für mein Abbildungsverzeichnis, das bei meiner derzeitigen Argumentation vermutlich länger wird als der eigentliche Text.
Ich befasse mich mit den Bildern, in denen Kiefer Bezug auf das Opernwerk von Richard Wagner nimmt. Bei der Arbeit zum Referat sind mir so sieben, acht Bilder über den Weg gelaufen, von denen ausgehend ich eine vage Theorie formulierte. Die verfestigt sich netterweise immer mehr, je mehr Bilder ich mit Wagner-Bezug finde, aber: Ich finde eben immer mehr Bilder mit Wagner-Bezug. Im Zentralinstitut für Kunstgeschichte, wo ich Dienstag und Mittwoch glückselig rumblätterte, stehen so ziemlich alle Ausstellungskataloge der letzten 40 Jahre von Kiefer und in denen fand ich natürlich noch mehr. Ich habe noch nicht alle durchgeschaut, aber momentan habe ich – Moment, ich öffne kurz das Dokument mit dem schönen Titel „Bilderliste“ – 17 Werke mit eindeutigem Wagner-Bezug (Referenzen auf seine Opern durch Namen, Gegenstände oder Libretto-Zitate im Bild), sieben Werke mit nicht ganz eindeutigem Bezug (ein Bild namens Meistersinger kann sich auch auf die deutsche Zunft derselben beziehen und rekurriert nicht zwingend auf die Oper) sowie zwei Werke, in denen Wagners Name im Bild auftaucht, aber keine Inhalte seiner Opern.
Appell an alle Künstler*innen: nur noch ein Werk pro Jahr! Denkt doch mal an uns Kunsthistoriker*innen, die das alles auswerten müssen.
Seit meiner Bachelorarbeit habe ich mir einen Satz meines Prüfers gemerkt: „Beschäftigen Sie sich mit einem Werk, nicht mit der gesamten Kunstgeschichte.“ Deswegen bin ich jetzt gerade dabei, im Kopf die Bilder zu clustern, um mich auf einige wenige zu konzentrieren, anhand derer ich meine Theorie auformuliere; die anderen müssen als kurz angerissener Bildbeleg genügen, sonst bin ich ruckzuck auf Masterarbeitslänge. Ich fasse die Bilder teilweise chronologisch, teilweise thematisch zusammen, denn … ach, ich zitiere mal kurz aus meiner gerade entstehenden Hausarbeit (Formulierungen sind also noch längst nicht final):
„Gudrun Inboden gelang 1986 in ihrem Aufsatz Exodus aus der historischen Zeit das Kunststück, über Siegfried vergißt Brünhilde (1975) zu sprechen, ohne die Nibelungen oder Wagner zu erwähnen. Sie sah das Werk als eines von Kiefers Landschaftsbildern an, was die Komplexität von Kiefers Œuvre verdeutlicht: Seine Bilder können problemlos mehreren Werkgruppen oder Themen zugeordnet werden.“
In diesem etwas sehr verallgemeinernden Blogeintrag sind zwei Versionen des Bildes zu sehen. Es gibt noch eine dritte Ausführung in Buchform. Und so wie ich Kiefer allmählich kenne, gibt’s irgendwo noch irgendwas mit diesem Namen, das ich noch nicht gefunden habe.
Was ich eben schon anriss: meine Hausarbeit. An der schreibe ich seit Dienstag endlich, nachdem ich mich vorher mal wieder wochenlang ans Stoffsammeln und Bilderangucken geklammert habe. Sobald die erste Zeile steht, gibt’s kein Zurück mehr, und deswegen zögere ich das, warum auch immer, ewig hinaus. Aber jetzt läuft’s, die Einleitung steht, und ich bin gerade mit dem Forschungsstand beschäftigt, in dem ich anderer Leute Ansichten über Richard Wagner zerpflücke, weil ich dauernd über fiese Verallgemeinerungen stolpere. Ein Kurator zog den Vergleich zwischen Wagners langen, mit 80-köpfigem Orchester besetzten Opern und Kiefers großformatigen Bildern, wogegen ich gerade Wagners Wesendonck-Lieder für eine Stimme und Klavier sowie Kiefers DIN-A4-Aquarelle ins Feld führe. Außerdem quengele ich an Kuratorformulierungen rum, die ich teilweise als völlig unverständlich ansehe. Ich zitere mich wieder selbst (nochmal der Hinweis: work in progress); ich klinge ein bisschen zickig in meinem Urteil, das werde ich noch abmildern, aber erstmal musste ich rummotzen.
„Im Ausstellungskatalog zu einer von Kiefers Ausstellungen von 1984, die von Düsseldorf aus nach Frankreich und danach erstmals nach Israel ging, schrieb Jürgen Harten über die vier Bilder des Parsifal-Zyklus, in dem wir hölzerne Innenräume mit Gegenständen und Zitaten aus der Wagner-Oper sehen: „Gleichwohl illustriert Kiefer keine Wagnerschen Szenen; es ist eher umgekehrt: er injiziert diesen Holzräumen gleichsam Wagnersche Blutproben, an denen der genius loci sich entzündet.“ Und weiter: „Das Wagnerzitat ist sicherlich mehr als ein Vorwand, aber weniger als ein Motiv.“ Diese Aussage kann nicht überzeugen: Es klingt, als wären die Gegenstände und Libretto-Zitate reine Dekoration, aber sie bilden vor dem Hintergrund des hölzernen Raumes die gesamte Bildkomposition. Wenn das kein Motiv ist, wäre es interessant zu wissen, was für Herrn Harten eins wäre.“
„Wagnersche Blutproben“? Alter!
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Im Zentralinstitut für Kunstgeschichte steht (natürlich) schon der Katalog zur Kiefer-Ausstellung, die seit 16. Dezember im Centre Pompidou läuft. Den blätterte ich am Mittwoch durch und musste daher am Donnerstag dringend einkaufen.
F. hatte mir zu Weihnachten ein Essen im Theresa geschenkt, in das ich sonst nicht gegangen wäre, weil es mir gerade schlicht zu teuer ist. Ich hatte ein bisschen Angst vor unserem Termin am Mittwoch abend (F. auch, wie er mir im Nachhinein sagte), denn wir hatten uns kurz vor Weihnachten getrennt.
Ich war seit Wochen überfordert davon, über eine alte Beziehung zu trauern und gleichzeitig in einer neuen zu funktionieren, die sich ganz anders anfühlt als die alte, an der ich, wie gesagt, irgendwie noch hing, warum auch immer. Ich war ständig angespannt, genervt, überreizt und dazu noch tieftraurig. Die einzigen Momente, in denen ich die alte Anke wiederfand, waren die, die ich allein in der Uni und der Bibliothek verbrachte, und deswegen sagte ich kurz vor Weihnachten alles ab, den Fehlfarbenpodcast, die geplanten gemeinsamen Theaterbesuche, das im Raum stehende gemeinsame Silvester, alles. Ich wollte nur alleine sein und mich selbst wiederfinden. Ein Telefonat mit dem Kerl brachte mir dann unerwarteterweise den endgültigen Abschied, und seitdem ging es mir schlagartig besser. Ich war alleine, konnte mich endlich nur auf mich konzentrieren und das war genau richtig so.
Deswegen wusste ich nicht, wie es uns gehen würde beim Essen, ob wir uns nur traurig und schweigend angucken, möglichst schnell das teure Fleisch verspeisen und uns dann endgültig Auf Wiedersehen sagen würden. Ich hatte mich innerlich mit einer Fiftyfifty-Chance arrangiert, dass das unser letzter gemeinsamer Abend sein könnte und wollte dann immerhin einen schönen Abschied haben. Also versuchte ich, so positiv wie möglich zu sein und das klappte sehr gut. Wir konnten endlich mal wieder entspannt über Kunst, Kultur und Wein reden und mussten nicht mehr mühsam und kräftezehrend an unserer Beziehung rumsezieren. Dazu war das Essen auch noch fantastisch – man sollte sich ja zurückhalten mit Formulierungen wie „das beste Irgendwas ever“, aber meine Güte, war das das beste Steak ever!
Der Abend war genauso wunderschön wie unsere ersten Abende gewesen waren und dementsprechend ging er dann in eine wunderschöne Nacht und einen wunderschönen Morgen über. Ich weiß noch nicht (und F. weiß es auch nicht), ob wir wieder zusammenfinden, aber es hat sich alles sehr richtig angefühlt. Ich möchte trotzdem erstmal weiter alleine vor mich hinpuscheln – deswegen habe ich auch Silvester bewusst alleine verbracht –, bis ich wieder das Gefühl habe, die Anke zu sein, die ich in den letzten Jahren geworden bin und die ich sehr vermisse. Das bin ich noch nicht, aber seit einigen Tagen sehe ich mich so langsam wieder. Noch ein bisschen unscharf, aber immerhin: Ich scheine noch da zu sein.