Tagebuch, Donnerstag, 17. März 2016 – Wien, Tag 2: Anselm Kiefer

Die Albertina lud mich zur Ausstellungseröffnung von Anselm Kiefers Holzschnitten nach Wien ein und übernahm netterweise Flug- und Hotelkosten. Man hat mich nicht um eine Gegenleistung dafür gebeten, aber jetzt kommt trotzdem eine große Lobeshymne.

Ich habe mich sehr über die Einladung zur Ausstellung gefreut, weil ich auf Kiefers Werke gespannt war, die ich alle noch nicht im Original gesehen hatte, viele davon aber natürlich bereits in Katalogen. Schon beim Betreten des ersten Raums dachte ich, jo, hat sich gelohnt. Die Holzschnitte von Kiefer sind wie der überwiegende Teil seiner Werke sehr großformatig, und die Albertina hat netterweise genug Platz, die sie den Bildern geben kann. Klassischer White Cube, aber schön luftig gehängt und gut beleuchtet.

Albertina-Direktor Klaus Albrecht Schröder führte die versammelten Pressemenschen in die Ausstellung ein. Anselm Kiefer hatte sich zu seinem 70. Geburtstag im letzten Jahr drei Ausstellungen gewünscht – einmal die seiner Bücher in der Bibliothèque nationale de France (von der ich Idiotin nichts wusste, die lief bis Februar und die hätte ich sehr gerne gesehen, weil seine Bücher selten ausgestellt werden – UND ICH WAR DOCH IN PARIS, HERRGOTT), dann die große Retrospektive im Centre Pompidou, die noch bis April läuft (immerhin die konnte ich sehen), und abschließend die Präsentation seiner Holzschnitte, ab heute in der Albertina.

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Das Reingold (1982–2013), Holzschnitt, Acryl und Schellack auf Papier, Collage auf Leinwand, 280 x 382 cm, Privatsammlung.

Nebenbei: Diese kleinformatigen Fotos machen mich irre. Mein Blog wird sich in nicht allzuferner Zukunft etwas verändern, und eines der Dinge, auf das ich mich am meisten freue, ist: große Bilder. Jetzt sind sie leider noch klein, weswegen ich es bis auf dieses eine Bild gar nicht erst versucht habe, die großformatigen Werke Kiefers einzufangen, sondern mich stattdessen auf Details konzentriert habe.

Die Holzschnitte sind in drei große Themenbereiche eingeteilt. Da ist zunächst der Rhein, einmal unter dem Aspekt der deutsch-französischen Grenze, die Kiefer selbst irgendwann überwand, indem er von Deutschland nach Frankreich zog, dann aber auch als der mythische deutsche Fluss, in dem auch Richard Wagners Rheintöchter baden. Die Kuratorin der Ausstellung Antonia Hoerschelmann wies auf das Fiktionale von Grenzen hin, wie willkürlich sie sind und was sie für Auswirkungen haben, wie wir gerade aktuell sehen. Auch mit dem Stichwort der Grenzen setzt sich Kiefer auseinander, zum Beispiel, indem er uns mit dicken, vertikalen, schwarzen Balken die Sicht auf den Rhein versperrt. Das können Bäume sein, das können aber auch Vorurteile sein, mit denen wir in uns Grenzen ziehen. (Auf der Ausstellungswebsite ist eine Abbildung von Der Rhein zu sehen.)

Ich persönlich mochte an einem Rheinbild, dass ich in ihm die Holzbohlen wiederfand, mit denen ich mich bei den sogenannten Dachbodenbildern von 1973 auseinandergesetzt habe. Je länger man sich mit Kiefers Werk beschäftigt, desto mehr sieht man Versatzstücke immer wieder, was ich sehr spannend finde. Auch wenn er sich neuen Themen zuwendet, neuen Techniken – manchmal greift er auf Dinge zurück, die er schon einmal benutzt hat, und ich mag diesen dünnen roten Faden, der sich durch sein Werk zieht.

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Der Rhein (Detail) (1982), Holzschnitt, Öl und Emulsion auf Papier, Collage auf Leinwand, 242 x 432 cm, Privatsammlung.

Das zweite Thema war Brünnhilde (oder wie Kiefer sie immer schreibt: Brünhilde) und ihr Pferd Grane. In Wagners Götterdämmerung entzündet die Walküre Brünnhilde den Weltenbrand und sorgt dafür, dass der ganze verdammte Rotz untergeht, der sie um ihre Liebe gebracht hat. Meiner Meinung nach wird im Nibelungenlied der Tod Brünnhildes überhaupt nicht erwähnt, daher bin ich etwas über einen Wandtext gestolpert, der die ganze Story mit dem Feuertod in eben dieses Epos packt. Aber vielleicht irre ich mich auch gewaltig; dann hoffe ich, dass es meiner Dozentin nicht auffällt.

Jedenfalls bin ich bei meinen Recherchen (wir erinnern uns: Ich versuchte, alle Werke aufzuzählen, in denen Kiefer sich auf Wagners Opern bezieht) auch auf einige Schnitte zu Brünhilde und/oder Grane gestoßen. Leider nicht alle, wie ich nölig vermerken muss. Auch Die Rheintöchter (1982–2013), Woglinde (1982–2013) und das oben abgebildete Reingold (ja, auch hier schreibt Kiefer wieder, wie er lustig ist) hatte ich nicht gefunden. Das mag daran liegen, dass es bisher nur zwei lausige Essays gibt, die sich mit Kiefers Holzschnitten befassen (hier das erste, das zweite ist auch von Hyman) – das steht jedenfalls im Katalog der Albertina, den wir Pressemenschen umsonst in die Hand gedrückt bekamen, worüber ich mich nochmals gefreut habe. Diese Essays habe ich nicht gesehen, und das ärgert mich jetzt wieder tagelang. Immerhin ruiniert es nicht das Argument, auf dem ich meine Hausarbeit aufgebaut habe, aber trotzdem. Da kommt gerade arg die Strebernase durch, die sich fragt, wieso sie diesen Text nicht gelesen hat.

Der Ärger kommt jetzt aber erst beim Schreiben und Verlinken. In der Ausstellung war ich noch gut gelaunt, vor allem, weil mal wieder der Effekt eintrat, der immer eintritt, wenn man ein Werk zum ersten Mal groß an der Wand sieht, das man bisher nur klein als Abbildung kannte: Man kapiert, was der Künstler wollte. Für diesen Blogeintrag blättere ich die ganze Zeit im Katalog und denke, die Bilder sehen genau so aus wie alle anderen Abbildungen von Grane auch, die ich bisher kannte, aber jetzt, wo ich es an der Wand gesehen habe, kommen mir alle Abbildungen falsch vor. Beim Rhein oder der Weltweisheit (darauf komme ich noch) hat mich das nicht so gestört, aber bei Grane fehlt mir auf einmal das Lebendige, das der Schnitt hatte, als er direkt vor mir war. Was eigentlich Quatsch ist, denn Grane wird fast immer als Skelett dargestellt. (Auch hier verweise ich auf die Abbildung auf der Ausstellungswebsite.)

Ich stehe also vor einem über zwei Meter hohen Holzschnitt, der ein skelettiertes Pferd zeigt – und trotzdem fühlt es sich so an, als spürte ich den Atem des Tiers. Ja, das ist Blödsinn, weiß ich auch, und ich ahne, dass ich diese Assoziation nur habe, weil ich die Götterdämmerung halt so mag und ich mein Fahrrad Grane getauft habe. Ich bin anscheinend ein Fan dieses Pferdes (hier rächt sich jedes Pferdebuch meiner Jugend), und deswegen kann ich dieses Vieh nicht als tot hinnehmen. Das ist jetzt die subjektivste und unwissenschaftlichste Auseinandersetzung mit Kiefers Werk ever, aber hey. Dafür sind Blogs da. In meiner Hausarbeit konnte ich jedenfalls nicht über mein Fahrrad schreiben.

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Brünhilde – Grane (Detail) (1977/78), Holzschnitt und Öl auf Papier, Collage, 242,5 x 193 cm, The Sonnabend Collection and Antonio Homem.

Der letzte Themenbereich umkreist das Werk Wege der Weltweisheit: die Hermannsschlacht (zwei Werke, 1980 und 1993). Hier ging es mir ähnlich wie bei Grane: In den Katalogen konnte ich die Werke intellektuell nachvollziehen – viele Köpfe, die Verehrung von Persönlichkeiten, ja, okay. Aber erst, als ich es vor mir sah, ergaben die schwarzen Kreise und Linien einen Sinn. Wo ich sie im Katalog immer nur als dekoratives Beiwerk empfunden hatte, waren sie hier auf einmal Verbindungslinien, konzentrische Kreise, die Personen verbanden, ihre Werke, ihre Aussagen, auf einmal hing alles zusammen, wie eben, Achtung, Banalität: alles zusammenhängt. Niemand ist eine Insel. Die Weltweisheit gehört nicht zu meinen Lieblingen, aber auch hier habe ich mich gefreut, sie im Original zu sehen.

Aber das ist ja eh der Kernpunkt jedes musealen Sehens. Man sieht auf einmal Farbschichten, Lücken in der Leinwand, verschiedene Materialien. Auch so eine simple Erkenntnis, die ihren Namen gar nicht verdient, aber genau wie im Centre Pompidou konnte mich der schichtweise Auftrag auf dem Bilduntergrund faszinieren. Mein Liebling: Sonnenblumenkerne. Ein total unterschätztes Material. (Nebenbei: Hört bitte auf, mir das Interview mit Sylvester Stallone und den Strohhalmen zu schicken, ich kenne es wirklich schon. Trotzdem lieb, dass ihr an mich denkt. Bussi!)

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Cette obscure clarté qui tombe des étoiles (Detail) (1997–2015), Holzschnitt, Sonnenblumenkerne und Kohle auf Papier, auf Leinwand kaschiert, 375 x 396 cm, Privatsammlung.

Ich fand es, genau wie im Centre Pompidou, spannend, mich mit den Bildern eines Malers auseinanderzusetzen, dessen Werke ich mir emotional erschlossen habe, bevor ich sie intellektuell verstand. Um jetzt mal das Fangirl zu machen: Ich mag Kiefers Werke. Jetzt wo ich mich intensiv mit ihnen beschäftigt habe, mag ich sie noch mehr, aber das Grundgefühl ist bei ihm immer Sympathie und nicht Bewunderung. Deswegen fand ich es wieder interessant, dass ich auch hier nicht breit grinsend und seligglücklich durch die Räume schlenderte und freudig vor mich hinpiepste, wie ich das sonst gern tue, wenn ich tolle Bilder sehe. Stattdessen ging ich aufmerksam, interessiert, fasziniert durch das Museum und hatte wie in Paris das Gefühl eines großen Geschenks. (Hier sogar im wahrsten Sinne des Wortes.) Es war mehr Arbeit als Vergnügen, aber es war gleichzeitig die Bestätigung für meine Arbeit, für meine Vorarbeit, für mein Interesse und ja, auch für den Spaß, den ich an Kiefers großen, düsteren Mythenbildern habe. (Wagnerfan halt.)

Ich bin mir aber sicher, dass man an dieser Ausstellung genauso Freude empfinden kann, wenn man nicht gerade monatelang über Kiefer gelesen hat (BIS AUF EIN VERDAMMTES ESSAY). Die thematische Hängung fand ich sehr schlau, den vielen Platz, den die Bilder haben, erwähnte ich bereits. Für mich persönlich hat der Besuch mein Werkverständnis vertieft und abgerundet. Ich kann mir aber auch vorstellen, dass die Holzschnitte ein schöner Reinkommer in das Werk Kiefers sind, gerade durch ihre eng gefasste Thematik. Ich empfand sie als gradliniger als viele andere seiner Werke, gerade die neueren (nach 2000), mit denen ich selbst ein bisschen kämpfe. Insofern: klare Anguckempfehlung. Und wenn ihr schon mal im Haus seid, nehmt die russische Avantgarde gleich mit. Die war nämlich auch toll, aber die beschreibe ich (vielleicht) ein anderes Mal.

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Wege der Weltweisheit: die Hermannsschlacht (Detail) (1980), Holzschnitt auf Papier (Collage), Emulsion, Acryl, Schellack und Karton, 291,5 x 501 cm, Sanders Collection, Amsterdam.