Anselm Kiefer im Centre Pompidou

Seit Anfang Oktober beschäftige ich mich intensiv und fast ausschließlich mit Kiefer, vor allem mit seinem Frühwerk. Die Hausarbeit ist zu einem Drittel geschrieben, der Rest ist noch im Kopf und muss nur noch aufs Papier (haha), auf meinem Schreibtisch stapeln sich Bücher zu Kiefer, und im Zentralinstitut für Kunstgeschichte steht mein Handapparat aus Ausstellungskatalogen. Als ich im Dezember erfuhr, dass bis April eine Retrospektive von Kiefer im Centre Pompidou läuft, zierte ich mich noch ein wenig, aber als ich im ZI den Ausstellungskatalog in der Hand hatte und sah, wieviele Bilder ich dort sehen könnte, über die ich seit Monaten nachdenke, buchte ich ein Ticket. Am Samstag war es dann soweit; ich stand um vier Uhr morgens auf, um den 7.15-Flug nach Paris zu kriegen, dort ins Museum zu gehen und abends wieder zurückzufliegen. (Keine Zeit und kein Geld für mehr.)

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Ich landete um 9 in Paris; das Centre Pompidou öffnet allerdings erst um 11. Ich wusste, dass der Flughafen Charles de Gaulle ein riesiges Monster ist, und ich hatte keine Ahnung, wo die RER-Gleise waren, von denen mich ein Zug bis nach Châtelet-Les Halles bringen sollte, damit ich von dort zu Fuß zum Centre Pompidou laufen könnte. Daher hatte ich mir nur locker ein kleines Touri-Programm überlegt, falls ich tatsächlich noch Zeit hätte. Das Monster war allerdings überraschend gut ausgeschildert, ich fand sofort die Ticketautomaten, erwischte den richtigen Zug und war laut Swarm-Check-in um 10 nach 10 mitten in Paris.

Wer in Les Halles das Wort sortie nicht kennt, wird vermutlich dort unten verenden. Ich suchte nach dem Ausgang zur Rue de Rivoli, fand ihn manchmal, verlor die Richtung dann wieder und dachte schließlich, Schnickschnack, ich nehme jetzt die nächste Treppe nach oben und zücke Google Maps. Denn die 50 Minuten, bis ich theoretisch am Centre Pompidou sein müsste, wollte ich erstmal am Louvre investieren. Am, nicht im, das war zeitlich nicht drin (leider), aber ich wollte mir auch nur eine einzige Wand angucken: die Ostfassade.

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Die Kunstgeschichte ist bis heute traurig darüber, dass nicht Bernini diesen Teil des Louvres umbauen durfte, denn seine Entwürfe wären einen Hauch schwungvoller geworden als das, was da jetzt seit 1674 steht. Ich habe im Bachelor, glaube ich, drei Dozenten gehabt, die sich in drei unterschiedlichen Vorlesungen oder Seminaren über diese Fassade beschwerten, und jetzt, wo ich sie gesehen habe, kann ich das nachvollziehen. Man steht vor einem ewig langen Block, und das Auge kann sich nirgends richtig festhalten. Ein Mittelrisalit und zwei Eckrisalite gliedern die lange Kolonnadenreihe zu wenig, um wirklich Abwechslung zu erzeugen. Die Doppelsäulen betonen die Aneinanderreihung von einer Achse nach der nächsten sogar noch anstatt sie zu unterbrechen. Das Ganze wirkt sehr massiv, es fehlt die Leichtigkeit von Bernini oder auch die des französischen Schlossbaus, der durchaus gezeigt hat, wie man lange Fronten spannender gestalten kann, zum Beispiel die Gartenseite von Versailles, die kurz vor der Louvre-Umgestaltung entstand.

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Ich verbrachte trotzdem ein Viertelstündchen damit, die Fassade abzugehen – und entdeckte überrascht, dass hinter ihr irgendwann der Eiffelturm hervorlugt. Mir fehlt für Paris jeglicher Orientierungssinn, ich weiß nie, von wo man den schnuffigen Turm sieht. Aber jetzt, wo ich ihn gesehen hatte, dachte ich, machste doch noch schnell das übliche Tourifoto von der Pont Neuf.

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Die Louvre-Fassade war mein einziger geplanter Bonustrip zum Centre Pompidou; ich hatte locker im Hinterkopf, dass, wenn ich früh genug mit Kiefer fertig wäre, ich noch zur Notre Dame schlendern könnte. In der war ich zwar schon zweimal, aber Kathedralen kann man sich ja immer wieder angucken. Und nun stand ich auf der Brücke, guckte zum Eiffelturm, drehte mich um, um in Richtung Centre Pompidou zu gehen – und sah natürlich schon die Türme der Notre Dame. Das wäre jetzt ja quasi albern, erst zu Kiefer zu gehen und dann nochmal hierhier, also schlenderte ich über die nächste Brücke auf die Île de la Cité, am Justizpalast vorbei, wo sich die ersten Tourigruppen sammelten – es war sehr leer in Paris, was mich etwas wunderte, so kannte ich die Stadt überhaupt nicht –, bis ich wenige Minuten später vor der Kirche stand.

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Was mir neben der ungewohnte Leere noch auffiel: sehr viele Menschen in Tarnkleidung mit Maschinenpistolen, selten allein, meist gleich mindestens zu fünft. Vor Notre Dame mischten sie sich aufmerksam zwischen die Touris, später sah ich sie vor dem Rathaus in noch größerer Anzahl, und sogar vor dem Centre Pompidou, dort allerdings eher vereinzelt. Bevor ich in Notre Dame eintreten durfte, musste ich meinen Rucksack öffnen – ich bin mir allerdings unsicher, ob das vor den Attentaten nicht auch schon so war, genau wie im fnac Les Halles, wo ich später am Tag noch einen Comic kaufte. Vor dem Centre Pompidou gab es längere Schlangen, weil man auch hier die Taschen öffnen und durch einen Metalldetektor gehen musste.

Aber noch stand ich vor Notre Dame und guckte mir entspannt die Fassade an. Ich mag die Königsgalerie so gerne, die die Fassade horizontal teilt und die Portalzone deutlich von Fensterzone und Türmen trennt. Auch an Tympana kann ich nie vorbeigehen, ganz gleich an welcher Kirche sie sich befinden. Ich freue mich immer über die raffinierten Gestalten, vor allem, wenn sie nicht die üblichen weihevollen Jünger und Apostel sind, sondern wie hier Fratzen und Ungeheuer.

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Drinnen war es wie immer: zu laut. Ich glaube, es kommen stets mehr Schilder hinzu, die Menschen darauf hinweisen, dass das hier eine Kirche ist, also Fresse, aber das bringt nie was. Ich mag das Innere von Notre Dame eh nicht so richtig gerne, freute mich aber wie immer an den Fensterrosen, wobei mir dieses Mal die beiden im Querschiff sogar besser gefielen als die große Rose an der Hauptfassade. Und ich genoss, wie immer in gotischen Kirchen, den Chorumgang, weil ich halt so gerne hinter dem Hauptaltarraum rumlaufe. Das kennt man aus modernen Kirchen ja nicht, dass nach dem Altar noch was kommt außer einer Wand. In den gotischen Kirchen befinden sich hier aber diverse kleine Kapellen, in denen gerne Reliquien lagen, und der Chorumgang war für die ganzen Pilger da, die sich die Reliquien auf ihrer Reise anschauen wollten. Damit die Jungs (Pilgern war eine fast ausschließlich männliche Angelegenheit) nicht das ganze Mittelschiff vollstanden, schuf die Gotik halt Platz für sie und steuerte sie um den Altarraum herum, auf einer Seite rein, weitergehen, nicht stehenbleiben, auf der anderen Seite raus. Klappt heute noch genauso. Theoretisch. Praktisch steht natürlich immer jemand mit Selfiestick im Weg.

Ich blieb nicht lange in der Kirche, setzte mich nur kurz ins Mittelschiff, um mich zu freuen, dass ich in Paris sein kann und ging dann weiter ins Centre Pompidou. Zu Kiefer. (OMG!)

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Mir diese Ausstellung anzuschauen, war ein sehr ungewohntes Erlebnis. Normalerweise gehe ich fürchterlich emotional in Museen. Gerade wenn ich endlich ein Bild oder eine Skulptur sehe, die ich vorher oft in Büchern gesehen habe, stehe ich gerne mal wackelig vor dem Werk und schlucke Tränchen runter. Das ging mir bei Kiefer überhaupt nicht so, obwohl ich mir sein Œuvre durchaus auch emotional erschlossen habe. Stattdessen erwischte ich mich, quasi durchgehend zustimmend zu nicken, ja, schöne Hängung, bisschen wenig Platz, aber gut, so ist das Museum eben, können ja nicht alle so riesig sein wie die Pinakothek der Moderne, weiternicken, gucken, ja, kenne ich, aha, so sieht das also in echt aus, so hatte ich mir das auch vorgestellt, aha, aha.

Ich weiß nicht, ob es an meiner wirklich gründlichen Vorbereitung lag, daran, dass ich eben seit Monaten über Kiefers Werk brüte und so ziemlich alle Bilder kannte, die an den Wänden hingen und sie mich deswegen auf den ersten Blick nicht mehr überraschen konnten, oder ob schlicht meine gebündelte Konzentration überwog, weil ich wusste, ich bin nur heute hier, in zwei Stunden kann ich eh nix mehr sehen, also streng dich an. Das fühlte sich eher nach Arbeit an als nach einem entspannten Museumsbesuch, aber: Es war großartig. So fühlt man sich also als Kunsthistorikerin. Aha, aha.

Die Ausstellung war halbwegs chronologisch geordnet, aber gleichzeitig – sehr schlau – nach Themen. Im Pressedossier des Centre Pompidou, das ich peinlicherweise nicht mehr auf der Website wiederfinde, ist ein praktischer Plan abgebildet, in dem die Räume beschrieben sind. Den ersten Raum, Rhétorique de guerre, nahm ich mit, weil das mit Kiefers älteste Werke waren, die also in die Zeit fallen, mit der ich mich in der Hausarbeit beschäftige. Hier besah ich mir eher seine Maltechnik als die Motive – die kannte ich ja auch alle – und die Farben, weil man bei denen in keinem Katalog sicher sein kann, ob sie auch wirklich denen auf der Leinwand entsprechen. Hier fand ich auch Maikäfer flieg (1974), das den Titel des Katalogs ziert und bei dem mich die dicken Farbschichten faszinierten, die durchbrochen waren von völliger Abwesenheit von Farbe. Das hängt übrigens sonst im Hamburger Bahnhof in Berlin, einfach mal vorbeischauen.

Durch den Raum mit Papierarbeiten ging ich recht schnell; ich war wegen der Gemälde hier. Eins meiner liebsten fand ich dann auch schon im dritten Raum, in dem Landschaftsbilder hingen, darunter Siegfried vergißt Brünhilde (1975), das sonst in Duisburg im MKM hängt. Gerade bei diesem Bild bin ich froh, dass ich es endlich im Original gesehen habe, denn in den meisten Abbildungen kam es mir sehr rosig vor – jetzt weiß ich, dass diese Version (es gibt mehrere, siehe meine gestrige Nölerei bei Twitter) eher grünlich schimmert, fast unwirklich und wie ein Unterwassersee aussieht anstatt wie ein oberirdischer Acker im Tageslicht.

Im vierten Raum, Mythes germaniques, hing Varus (1976), über das ich schon im Referat gesprochen hatte und das ich sehr gerne mag. Das hatte ich mir immer größer vorgestellt als es ist; 200 x 270 cm ist nicht gerade winzig, aber im Vergleich zu den Werken aus dem nächsten Raum – Une histoire allemande – dann doch fast kleinformatig. Eben dieser Raum war der, für den ich nach Paris geflogen bin. Hier hingen Parsifal III (1973) und Notung (1973) und ich blieb sehr lange bei ihnen. (Wobei ich glaube, dass das Bild eher Parsifal I ist; die Nummerierung geht in allen Katalogen lustig durcheinander. Das Bild mit dem Speer ist der Mittelteil des Triptychons Parsifal III, I, IV, daher tippe ich auf die I.)

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Endlich konnte ich mich mit der Größe der Bilder konfrontieren anstatt sie auf höchstens 30 Zentimeter Breite in einem Buch abgedruckt zu sehen, ich konnte die gemalte Maserung des hölzernen Dachbodens mit den Augen verfolgen und gucken, was der gemalte Raum mit mir macht. Auch hier bemerkte ich das Fehlen jeglicher Emotionalität, es blieb bei der faszinierten und begeisterten Konzentration und einem sehr positiven Schub für die Hausarbeit. Außerdem fand hier ein Ereignis statt, das eine meiner Theorien ganz wunderbar bestätigte, das ich aber trotzdem nicht in die Arbeit schreiben werden kann, weil es ganz und gar unwissenschaftlich ist.

Mein Zugang zu Notung und dem Wagner-Bezug im Bild ist nicht der übliche „Wagner ist Hitlers Lieblingskomponist und damit sind die Bilder ein grobschlächtiger Hinweis auf den NS-Staat“. Stattdessen glaube ich, dass Wagner für etwas anderes steht – er ist für mich ein Hinweis auf die enge Bindung, die Hitler zur Familie Wagner in Bayreuth pflegte. Die Bilder mit Wagner-Bezug zeigen für mich intimere Szenen als andere Kiefer-Bilder, wo er weite Landschaften abbildet, Stammbäume mit deutscher Geschichte, NS-Architektur usw. – der große Bogen zum Nationalsozialismus. In den Wagner-Bildern geht er für mich vom großen Ganzen und dem übermächtigen Staat weg in die kleine Keimzelle der Familie, die durch ihr Mitwirken eben auch für das Funktionieren des NS-Staats gesorgt hat und die jetzt, nach 1945, eisern dazu schweigt, um das Wirtschaftswunder durchzuziehen. Das ist für mich eine andere Ebene als die der großen Politik. Mir kam das Schwert im Bild auch nie wie eine Waffe vor, sondern wie ein Kinderspielzeug. Und als ich Samstag vor dem Bild stand, rannte plötzlich ein kleiner Junge direkt auf das Bild zu und hatte die Hände schon nach dem Spielzeugschwert ausgestreckt, als sein Vater ihn noch kurz vor dem Absperrseil schnappen und festhalten konnte. Aha, aha.

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Eigentlich war damit schon alles erfahren, was ich haben wollte, als ich den Parisflug gebucht hatte. Aber ein Raum wartete noch auf mich, der mich dann doch ein bisschen emotional werden ließ.

Im Raum La valeur des ruines hingen mehrere Werke aus der Bilderserie Kiefers, in der er NS-Architektur gemalt hatte, Speer, Troost, die ganze Bande. Auf ein Bild – Dem unbekannten Maler (1983) – hatte er einzelne Strohhalme geklebt, was ich nie so recht verstanden hatte. Aber jetzt, als ich vor dem Bild stand, war auf einmal alles klar: Die Halme fielen nach und nach vom Bild ab, an einigen Stellen war nur noch die Leinwand zu sehen – so wie die abgebildete Architektur in unseren Städten nicht mehr zu sehen ist, weil sie nach 1945 nach und nach vernichtet oder verbaut wurde, aus den Augen, aus dem Sinn.

In diesem Raum hingen noch zwei weitere großformatige Bilder, für die sich die Fahrt alleine gelohnt hätte: Margarete und Sulamith, beide von 1981. In ihnen verarbeitet Kiefer Paul Celans Todesfuge: Margaretes goldenes Haar wird von Stroh dargestellt, Sulamiths aschenes bekommen wir nicht mehr zu sehen; stattdessen stehen wir vor dem Bild eines Gebäudes, das einer Soldatenhalle von Wilhelm Kreis von 1939 nachempfunden ist, das aber an einen Ofen erinnert (kann man im Link unter Sulamith sehen). Die Bilder hingen direkt nebeneinander, und vor ihnen standen gefühlt weitaus mehr Menschen als vor allen anderen Werken. Vielleicht weil sie, im Gegensatz zu vielen anderen Bildern Kiefers, so simpel und eindrücklich funktionieren.

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In dem Moment, in dem ich vor diesen Bildern stand, twitterte ich: „Verstehe zum ersten Mal die Wucht der Materialität von Kiefer“ und „Arschfrühes Aufstehen, teurer Flug – alles egal, alles richtig gemacht.“ Und mit genau diesem Gefühl bin ich dann auch durch den Rest der Ausstellung gegangen, die mir für meine Hausarbeit nichts mehr brachte, weil die Bilder und Skulpturen zu neu und anderen Themen zugeordnet waren, aber sie gaben mir einen hervorragenden Gesamteindruck mit. Ich kann jede Kritik verstehen, die Kiefer seit 40 Jahren zu hören kriegt – esoterischer Quatsch –, ich weiß nun aber ganz genau, warum mich diese Bilder so faszinieren. Sie haben mich schon als kleines Foto in dutzenden von Büchern begeistert und sie tun es erst recht, wenn ich vor ihnen stehe. Ihre Größe, ihre Haptik, ihre nachvollziehbaren, lesbaren Spuren, überhaupt Spuren, nicht einfach nur Farbe auf Leinwand, sondern ein Landkarte meines eigenen Landes und seiner Vergangenheit, das Empfinden, hier Wahrheiten zu sehen und kein vages Kunstwollen sowie das Gefühl, schon viel gewusst zu haben, es aber es jetzt erst richtig verstehen zu können – all das nehme ich mit. Merci, Monsieur. Merci, Paris.