Tagebuch Montag, 4. Februar 2019 – Kleinkramtag

Der Wecker klingelte um 7, ich stellte ihn frohgemut aus, döste noch ein wenig und plötzlich war es 9. Ich war am Vorabend zu faul gewesen, den Blogeintrag vorzubereiten, also tat ich das gestern ab 9.30 Uhr, frischgeduscht und etwas in Eile. Das dauerte dann aber bis kurz vor 11, bis ich endlich fertig war und einkaufen gehen konnte; auf dem Rückweg nahm ich die FAZ aus dem Briefkasten mit nach oben. Unterwegs hatte ich mich am verschneiten München erfreut.

So fing mein Tag erst gegen 12 an, was mich den ganzen Tag irritieren sollte. Ich hatte noch Orgakram zu erledigen, ein neues Konto wollte aktiviert werden, seit Samstag hatte ich endlich alle Briefumschläge mit allen Zugangsdaten und Pins und Passwörtern, und ich fragte mich, ob das schon immer so kompliziert gewesen war, ein Konto zu eröffnen. Mir fiel ein, dass ich mein letztes Konto noch brav vor Ort in einer Filiale eröffnet hatte, was heute anscheinend nicht mehr en vogue ist.

Weiterer Orgakram, Post fertiggemacht, irgendwelchen Firmen und Institutionen Zugriff auf das neue Konto gewährt, wozu ich auf diversen Firmenseiten teilweise sehr lange nach dieser Option suchen musste und ganz, ganz kurz davor war, eine Hotline anzurufen, aber diese schmachvolle Niederlage wollte ich mir nicht eingestehen, da wurden dann lieber fünf Jahre alte Aktenordner nach wilden Zugangsdaten durchsucht, die wider Erwarten funktionierten, und jetzt müssten bis auf das Finanzamt München, bei dem ich doch lieber vorher anrufe, alle wieder an ihr Geld kommen.

Gegen 15 Uhr fiel mir auf, dass ich noch nicht gefrühstückt bzw. noch nicht mal einen Kaffee getrunken hatte, also kochte ich mir stattdessen eine Kanne Tee und rührte ein Müsli an. Genau dann kam natürlich eine Job-Mail, die mich zwar freute (Job! Geld! Ein Dach über dem Kopf! Rente für Frau Gröner!), aber mein Müsli wurde dann unangemessen schnell heruntergeschlungen, damit ich gleich anfangen konnte.

Ich arbeitete für knappe drei Stunden, den Rest schob ich auf heute, damit das gestern Geschriebene sich etwas ausliegen konnte, dann guckte ich endlich mal in die Zeitung und legte ein bisschen Tofu in Sojasauce, Ingwer, Chili und Zwiebeln, den ich eine Stunde später mit Möhren, Lauch und Paprika in der Pfanne anbriet, Reis dazu, Sesam drüber, aber so richtig gut war das leider nicht. Der Tofu wurde trotz scharfem Anbraten nicht wirklich knusprig, und dann kann er noch so gut nach Sojasauce und Gewürzen schmecken – wenn die Konsistenz meh ist, ist das Essen meh. Ich pulte Reis mit Gemüse aus dem Teller, war aber nicht glücklich. Immerhin war das Essen hübsch, aber das tröstete jetzt nicht so recht.

Abends wollte ich ein wenig vor der neuen Kitchen-Impossible-Folge versacken, aber mir geht die dreistündige Pimmelfechterei doch inzwischen auf die Nerven. Ich muss nicht in jeder verdammten Folge hören, was für ein Arsch der Gegner von Mälzer ist und dass beide keine Lust auf ihren Job haben, was man anscheinend nur mit Kraftausdrücken formulieren kann. Ich schaltete auf stumm, las Zeitung, und netterweise rief die beste Freundin an, so dass ich die Sendung einfach ungesehen im Internet lassen und stattdessen zwei Stunden klönen konnte.

Abends schaute F. noch gut gelaunt vorbei, wir klönten ebenfalls, lasen noch im Bettchen und schliefen dann gemeinsam schnell ein. Oder wie F. eben meinte: „Naja, eine von uns.“

Ach ja, und das funktioniert wirklich. Meine Messer sind allerdings zu lang bzw. das Buch zu klein, deswegen musste was drunter und ich habe es hinten mit Tesa fixiert. Aber der Rilke stand halt rum, fiese Buchclubausgabe, liegt total mies in der Hand, in 25 Jahren nie reingeguckt. Jetzt hat er wenigstens eine Funktion.

Der schrille Zwangspensionär

Auch noch nie darüber nachgedacht, was Wilhelm Zwo so im Exil gemacht hat.

„Wie schon seinerzeit in Amt und Würden unterliegt der kaiserliche Zwangspensionär auch im Ruhestand zahlreichen Fehleinschätzungen. »Wilhelm unverbesserlich« ist fest davon überzeugt, dass bald seine große Stunde schlägt. So unerschütterlich ist sein Glaube, dass Gott ihn eines Tages auf den Thron seiner Väter zurückrufen wird, dass er auch weiterhin – und das bis zu seinem Tod – seine Briefe mit IR (Imperator Rex) signierte.

Zwischenzeitlich vertrieb sich der Kaiser im Unruhestand die Zeit mit Rosenzüchten, Altertumskunde und Holzfällen. Besonders auf letzterem Feld entfaltete der Exkaiser bald eine hektische Betriebsamkeit. Fast täglich rückt der rastlose Zwangspensionär am Morgen zum Sägen aus und lässt dort seinen zigtausendsten Baum fällen. Mit der Besessenheit eines Bibers verwüstet der Kaiser die Parks und Wälder in seiner Umgebung. Angeblich aus Gründen der Fitness, doch stecken wohl eher Allmachtsfantasien und aufgestaute, ziellose Gestaltungswut dahinter. Alle müssen mit anpacken, auch die Damen. Ilsemann: »Der Kaiser hält den Baum, die Gräfin Elisabeth (Hofdame der Kaiserin) und ich sägen, und die Kaiserin legt die abgeschnittenen Stücke auf einen Haufen zusammen.« Nur sonntags und bei besonders schönem Wetter wird nicht gesägt.

Längst geht es Wilhelm nicht mehr um die Gesundheit, sondern um Rekorde. Stolz meldet er seinem Gefolge Tag für Tag das Ergebnis seines Tagewerks. Durch Ilsemanns Tagebuch ziehen sich die Meldungen über des Kaisers Hobby wie eine Heimsuchung. Bald hatte Seine Majestät seinen 13 000. Baum gesägt. Und als dem umtriebigen Waldarbeiter die Roderei zu langsam ging, schaffte er sich eine Motorsäge an. Schon im November 1920 notierte Ilsemann: »Der Park wird immer kahler, ein Baum nach dem anderen fällt.«“

(via Buddenbohm)

Das erinnerte mich an eine Stelle in der Welt von gestern von Zweig. An den Seiten bin ich zwar schon lange vorbei, aber das war die Stelle, die in Wien bei der Diskussion im Burgtheater vorgelesen wurde und nach der ich das Buch lesen wollte. Zweig sah angeblich mit an, wie der letzte österreichische Kaiser 1918 sein Land verließ. Der Mann war aber wirklich dauernd bei historischen Dingen dabei und traf quasi jeden, der in den Zwanzigern und Dreißigern künstlerisch was zu sagen hatte, so dass ich mir nicht immer sicher bin, wieviel literarische Freiheit er sich genommen hat. Liest sich aber alles toll.

„Bei meiner Ankunft vor einem Jahre hatte ich an der schweizerischen Grenzstation in Buchs eine aufregende Minute erlebt. Jetzt bei der Rückkehr stand mir eine nicht minder unvergeßliche an der österreichischen in Feldkirch bevor. Schon beim Aussteigen hatte ich eine merkwürdige Unruhe bei den Grenzbeamten und Polizisten wahrgenommen. Sie achteten nicht besonders auf uns und erledigten höchst lässig die Revision: offenbar warteten sie auf etwas Wichtigeres. Endlich kam der Glockenschlag, der das Nahen eines Zuges von der österreichischen Seite ankündigte. Die Polizisten stellten sich auf, alle Beamten eilten aus ihren Verschlägen, ihre Frauen offenbar verständigt, drängten sich auf dem Perron zusammen; insbesondere fiel mir unter den Wartenden eine alte Dame in Schwarz mit ihren beiden Töchtern auf, nach ihrer Haltung und Kleidung vermutlich eine Aristokratin. Sie war sichtlich erregt und fuhr immer wieder mit dem Taschentuch an ihre Augen.

Langsam, ich möchte fast sagen, majestätisch rollte der Zug heran, ein Zug besonderer Art, nicht die abgenutzten, vom Regen verwaschenen gewöhnlichen Passagierwaggons, sondern schwarze, breite Wagen, ein Salonzug. Die Lokomotive hielt an. Eine fühlbare Bewegung ging durch die Reihen der Wartenden, ich wußte noch immer nicht warum. Da erkannte ich hinter der Spiegelscheibe des Waggons hoch aufgerichtet Kaiser Karl, den letzten Kaiser von Österreich und seine schwarzgekleidete Gemahlin, Kaiserin Zita. Ich schrak zusammen: der letzte Kaiser von Österreich, der Erbe der habsburgischen Dynastie, die siebenhundert Jahre das Land regiert, verließ sein Reich! Obwohl er die formelle Abdankung verweigert, hatte die Republik ihm die Abreise unter allen Ehren gestattet oder sie vielmehr von ihm erzwungen. Nun stand der hohe ernste Mann am Fenster und sah zum letztenmal die Berge, die Häuser, die Menschen seines Landes. Es war ein historischer Augenblick, den ich erlebte – und doppelt erschütternd für einen, der in der Tradition des Kaiserreichs aufgewachsen war, der als erstes Lied in der Schule das Kaiserlied gesungen, der später im militärischen Dienst diesem Manne, der da in Zivilkleidung ernst und sinnend blickte, ›Gehorsam zu Land, zu Wasser und in der Luft‹ geschworen. Ich hatte unzählige Male den alten Kaiser gesehen in der heute längst legendär gewordenen Pracht der großen Festlichkeiten, ich hatte ihn gesehen, wie er von der großen Treppe in Schönbrunn, umringt von seiner Familie und den blitzenden Uniformen der Generäle, die Huldigung der achtzigtausend Wiener Schulkinder entgegennahm, die, auf dem weiten grünen Wiesenplan aufgestellt, mit ihren dünnen Stimmen in rührendem Massenchor Haydns ›Gott erhalte‹ sangen. Ich hatte ihn gesehen beim Hofball, bei den Théâtre Paré-Vorstellungen in schimmernder Uniform und wieder im grünen Steirerhut in Ischl zur Jagd fahrend, ich hatte ihn gesehen, gebeugten Hauptes fromm in der Fronleichnamsprozession zur Stefanskirche schreitend – und an jenem nebligen, nassen Wintertag den Katafalk, da man mitten im Kriege den greisen Mann in der Kapuzinergruft zur letzten Ruhe bettete. ›Der Kaiser‹, dieses Wort war für uns der Inbegriff aller Macht, allen Reichtums gewesen, das Symbol von Österreichs Dauer, und man hatte von Kind an gelernt, diese zwei Silben mit Ehrfurcht auszusprechen. Und nun sah ich seinen Erben, den letzten Kaiser von Österreich, als Vertriebenen das Land verlassen. Die ruhmreiche Reihe der Habsburger, die von Jahrhundert zu Jahrhundert sich Reichsapfel und Krone von Hand zu Hand gereicht, sie war zu Ende in dieser Minute. Alle um uns spürten Geschichte, Weltgeschichte in dem tragischen Anblick. Die Gendarmen, die Polizisten, die Soldaten schienen verlegen und sahen leicht beschämt zur Seite, weil sie nicht wußten, ob sie die alte Ehrenbezeigung noch leisten dürften, die Frauen wagten nicht recht aufzublicken, niemand sprach, und so hörte man plötzlich das leise Schluchzen der alten Frau in Trauer, die von wer weiß wie weit gekommen war, noch einmal ›ihren‹ Kaiser zu sehen. Schließlich gab der Zugführer das Signal. Jeder schrak unwillkürlich auf, die unwiderrufliche Sekunde begann. Die Lokomotive zog mit einem starken Ruck an, als müßte auch sie sich Gewalt antun, langsam entfernte sich der Zug. Die Beamten sahen ihm respektvoll nach. Dann kehrten sie mit jener gewissen Verlegenheit, wie man sie bei Leichenbegräbnissen beobachtet, in ihre Amtslokale zurück. In diesem Augenblick war die fast tausendjährige Monarchie erst wirklich zu Ende. Ich wußte, es war ein anderes Österreich, eine andere Welt, in die ich zurückkehrte.“

Tagebuch Samstag/Sonntag, 2./3. Februar 2019 – Gute Zeit

Den Samstag verbrachte ich größtenteils lesend auf der Couch. Morgens hatte ich meine Einkäufe erledigt, dann die erste Kanne Tee des Tages gekocht, irgendwann gab’s die Bundesliga-Konferenz, dann die zweite Kanne Tee, und dann begann ich mit der Netflix-Serie Russian Doll. Vielleicht lag’s daran, dass ich von Samstag auf Sonntag so richtig mies schlief, mit Alpträumen und schmerzhaftem Aufwachen, Angst vor der Dunkelheit (erstmal eine Stunde lesen), dann wieder eingeschlafen und irgendwann gegen 10 arg gerädert aufgewacht.

Gelesen: unter anderem in der FAZ eine Reportage über Christen in den Vereinigten Arabischen Emiraten, die gerade Besuch vom Papst bekommen haben. Leider nur als FAZplus online. Mich kurz wie meine Mama gefühlt, die mir interessante Zeitungsartikel aufhebt und mich telefonisch fragt, ob ich sie haben will, was ich meist entspannt verneinen kann, als ich selbst diesen Artikel für F. aufhob, der gerade vor Ort war. Und ein paar Menschen seiner nicht-deutschen Abstammungshälfte kommen auch im Text vor.

Gefreut über: diesen Instagram-Post der Tate, die sich von einem ihrer Mitarbeiter verabschiedet, der nach 36 Jahren in den Ruhestand ging. Die vermutlich deutlich jüngeren Social-Media-Menschen haben ihn vor seinem Lieblingsbild abgelichtet und ihm ein paar Fragen gestellt, was ich einfach für sehr gelungen hielt.

Gesehen: „Als der Tee in den Norden kam“ beim NDR, danke an @TomInMuc für den Hinweis. Ich wusste nicht, dass der Hersteller meines Lieblingstees der erste Ostfriesenteeproduzent war, und ich wusste auch nicht, dass mein Getränk aus 19 Teesorten besteht. Die Reportage hatte nach wenigen Sekunden gewonnen, als ich genau das gleiche Szenario sah, das ich vor einigen Monaten beim Dallmayr hatte bewundern dürfen: eine anständige Teeverkostung. Tassen und Kännchen sahen genauso aus, und auch hier in München wird mit einer Handwaage abgemessen.

Während des Films hatte ich ein bisschen Heimweh. Der Landkreis Hannnover liegt zwar nicht direkt bei Ostfriesland, aber die Leute hörten sich doch ein bisschen mehr nach Zuhause an als die Menschen hier unten. So nett ich das alles hier finde – ab und zu vermisse ich dann doch die Reetdächer und das Fachwerk und die Ahnung vom Meer. Und dass die Leute „büschn“ sagen, wenn sie „ein bisschen“ meinen.

Noch nicht gelesen, aber mal vorgenommen: das Buch der diesmonatigen Twitlektüre. Quasi ein digitaler Lesezirkel, in dem wissenschaftliche Werke besprochen werden. Ich habe den Account in den letzten Wochen verfolgt und mir jetzt mal das neue zu lesende Buch bestellt. Per Mail an meine Buchhandlung um die Ecke, von wo ich es am Dienstag abholen kann.

Der Sonntag begann, wie oben angedeutet, etwas später als geplant. Ich schaffte es gerade noch zu duschen, zu bloggen und ein bisschen Nutellabrot mit Kaffee zu verspeisen, bevor ich mich in meine acht Lagen Stadionklamotten zwängen musste. Wollte. So irgendwie. Samstag nacht hatte es begonnen zu schneien; als ich morgens aus dem Fenster sah, war alles weiß und ich freute mich eher weniger auf den Weg von der Tram zum Stadion, auf dem man dann vermutlich nass werden würde. Trotzdem wollte ich in Stadion, weil ich hoffte, gegen Mainz mal wieder einen Heimsieg mitansehen zu können. Der letzte von Augsburg war bereits im September gegen Freiburg; seitdem hat die Mannschaft nur noch unentschieden gespielt (wenn wir Glück hatten) oder verloren, auch gegen Gegner, gegen die wir eigentlich hätten gewinnen können oder müssen.

Wir starteten zu viert vom Hauptbahnhof, F. hatte einen Freund aus den USA dabei, und zu uns gesellte sich noch eine unserer üblichen Mitfahrerinnen. Wir beiden stiegen in Augsburg schon an der Haunstätter Straße aus, unser normaler Bahnhof, während F. und Kumpel noch bis zum Hauptbahnhof fuhren, um dort Gepäck einzuschließen. Gleich die erste Tram zum Stadion war fast komplett leer, was entweder hieß, dass wir viel zu früh dran waren oder das Stadion nachher arg leer sein würde (es war so ein Mittelding). Wir zuckelten in Richtung Arena, als die Bahn nach der vorletzten Station plötzlich länger auf freier Strecke hielt. Netterweise in einer Kurve, so dass ich sehen konnte, dass vor uns bereits zwei Trams standen anstatt zu fahren. Im Nachhinein erfuhren wir, dass es wohl gefrorene Oberleitungen waren, die die Trams stoppten. Nach einigen Minuten, in denen ich drei Tram-Fahrer*innen beim Rückwärtsfahren und Diskutieren beobachten konnte, öffneten sich alle Türen und wir mussten den restlichen Weg zum Stadion zu Fuß zurücklegen. Ich freute mich innerlich, dass wir nicht fünf Stationen vorher liegengeblieben waren und stapfte ergeben durch den Schneematsch.

Vor der Arena trennten sich unsere Wege, die Mitfahrerin und ihr Bruder stehen in der Kurve, während ich ja gemütlich auf der Haupttribüne sitze. Der Einlass ging ausnahmsweise blitzschnell, weil noch nicht so viele Leute da waren, aber ich ärgerte mich wieder über eine neue Schikane: Neuerdings gibt es eine Schlange für „Damen mit Handtaschen“. Ich habe keine Handtasche, durch die man sich durchwühlen muss, ich verteile alles Wichtige auf meine Hosen- und Jackentaschen: Dauerkarte, Fresskarte, Semesterticket für München, was immer noch aus Studiausweis, Ticket und Perso besteht, Notfallbargeld, Asthmaspray, Labello (nie ohne!), Taschentuch, Hausschlüssel, Handy. (Ausnahmsweise kein Buch.) Trotzdem drängelte man mich in die Handtaschenschlange, denn ich hatte eine Stofftasche dabei, in der meine Decke war, ohne die ich bei diesen Temperaturen nicht in ein Fußballstadion gehe. Ich hatte schon die letzten beiden Male sinnlos diskutiert, dass das keine Handtasche war und man da nichts nach Pyro oder Schusswaffen durchwühlen musste, sondern nur mit den Händen einmal draufpatschen, um zu sehen, dass da nur weicher Fleece drin ist, aber nein. Die Dame an der Handtaschenschlange patschte dann auch nur einmal auf die Stofftasche, erspürte weichen Fleece und winkte mich nach dem üblichen Abtasten durch. Was für ein sinnloser Scheiß. Vielleicht freue ich mich im Sommer darüber, wenn ich ohne Tasche anstehen muss, aber trotzdem. Der Einlass ist schon nervig genug, macht es doch nicht noch nerviger. Vor allem bei Schnee oder Regen.

Drinnen erledigte ich den üblichen Gang zum Klo, der auch dazu diente, meine Schuhe nochmal festzuschnüren und die letzten Knöpfe an der Jacke zu schließen, die ich beim Rumlaufen immer nur halb geschlossen trage. Halb heißt hier: Ich nutze nur die Haken, die die Jacke zusammenhalten, verzichte aber der guten Luftzirkulation wegen auf die Druckknöpfe, die die Wolljacke richtig dicht machen. Bei 90 Minuten Rumsitzen tut das aber ganz gut, wenn da nichts mehr zirkuliert, sondern ich von meiner Körperwärme profitieren kann.

Danach die übliche Stadionwurst und eine Apfelschorle. Kurz über Punsch oder Glühwein nachgedacht, dann aber doch Schorle getrunken.

Man sieht auf dem Bild den feinen Schneegriesel nicht so gut, der das ganze Spiel über runterkam; beim Spielbericht vom FCA erkennt man ihn etwas besser. Die ursprünglich roten Spielfeldlinien wurden in der Halbzeitpause wieder geweißelt, aber das machte sie auch nicht besser sichtbar. Der Kasper aus der Puppenkiste, der immer das Ergebnis voraussagt, hoffte auf ein 3:1, wir lachten noch, und dann ging es ernsthaft 3:0 aus, wie geil! Im Zug wimmerten wir alle noch, dass wir auch ein dreckiges 1:0 nehmen würden, Hauptsache mal wieder gewinnen, Augsburg steht nur einen Platz vom Relegationsplatz entfernt auf 15, jeder Punkt wäre geil, und so saßen wir nach dem Spiel deutlich entspannter im Zug nach München und erinnerten uns gegenseitig daran, wie angenehm so ein Spielende doch sein kann, wenn man sich nicht aufregen muss. Aufgeregt haben wir uns natürlich trotzdem, denn der Sieg hätte sogar noch höher ausfallen können, da wurden einige Chancen liegengelassen. Andererseits hatten wir in den vergangenen Spielen nicht übermäßig viele Chancen, insofern freute ich mich überhaupt darüber, dass die Mannschaft wieder eine gewisse Ge- und Entschlossenheit erkennen ließ.

Abends die restlichen Folgen von Russian Doll geschaut und sehr mit der Serie zufrieden gewesen. Und noch einen Artikel aus der FAS online gelesen: „Die große Inszenierung“ schreibt über das Ehepaar Lethen/Sommerfeldt, von der letztere im vergangenen Jahr erfolgreich die Geschichte lancieren konnte, dass ihre Kinder der Waldorfschule verwiesen wurden – angeblich wegen der rechten Gesinnung der Mutter.

„Die Kündigung des Ausbildungsvertrages der Kinder zum Schuljahresende 2018 sei nicht „Knall auf Fall“ erfolgt. Grundlage dafür sei ein Beschluss der Generalversammlung des Vereins gewesen, dem langwierige Diskussionen vorausgegangen waren. Manu Knirsch gibt zu bedenken, dass dem Ehepaar Sommerfeld-Lethen „sehr viel Beachtung geschenkt“ wurde, mehr, als es der kleinen Schule gutgetan habe. In einer anderthalbjährigen Auseinandersetzung habe sich die Schulgemeinschaft nahezu aufgerieben. Sommerfeld habe einschlägige Texte über den Mailverteiler verschickt, wogegen sich Eltern verwahrten. Insgesamt bedauert die Schule, dass sie den Vertrag mit der Familie lösen musste. Man habe lange nach Kompromissen gesucht, aber der Mutter sei wohl ihre Weltanschauung wichtiger gewesen als der Schulplatz ihrer Kinder.

Die Rückfragen beim Schulverein lassen die Vorwürfe des Ehepaares Lethen-Sommerfeld also in einem anderen Licht erscheinen. Einige werden entkräftet, in anderen scheinen zumindest unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten auf. Mitunter steht Wort gegen Wort, oder präziser: stünde Wort gegen Wort, wenn die Position der anderen Seite überhaupt erwähnt worden wäre. Die Waldorfschule wurde in der Skandalisierung aber nicht einmal nach ihrer Sicht gefragt.“

1000 Fragen, 21 bis 40

(Ich paraphrasiere Christian: „Die Fragen stammen ursprünglich aus dem Flow-Magazin, Johanna von pink-e-pank.de hat daraus eine persönliche Blog-Challenge gemacht, und Beyhan von my-herzblut.com hat das PDF erstellt.“)

21. Ist es wichtig für dich, was andere von dir denken?

Die Klassiker-Antwort: kommt darauf an. Ich habe, interessanterweise auch durch das öffentliche Schreiben gemerkt, dass ich es ja, doch, schon gerne hätte, dass mich alle toll finden, es aber unmöglich ist. Und so haben mir doofe Kommentare beigebracht, dass es mir manchmal egal sein muss, was andere von mir denken.

Ich möchte aber immer, dass meine Arbeitgeber*innen, meine Freund*innen und der jeweilige Lebensgefährte mich für absolut großartig halten. Und ich hoffe, ich tue dafür genug.

22. Welche Tageszeit magst du am liebsten?

Den Vormittag. Da bin ich am aufnahmefähigsten, motiviert, neugierig, durchaus auch noch für körperliche Anstrengung zu haben und will Dinge erledigt kriegen, während ich ab dem späten Nachmittag nur noch rumliegen oder kochen will.

23. Kannst du gut kochen?

Ich halte mich für okayen Durchschnitt.

24. Welche Jahreszeit entspricht deinem Typ am ehesten?

Frühling oder Herbst. Nicht zu warm, nicht zu kalt. Den Frühling mag ich, weil ich endlich wieder fahrradfahren kann (ich fahre nicht auf Schnee), den Herbst mag ich, weil dann bald Weihnachten ist, und ich mag Weihnachten doch so gern, wenn alle ihre Lichterketten in die Fenster hängen.

25. Wann hast du zuletzt einen Tag lang überhaupt nichts gemacht?

Ich kann gar nicht nichts machen. Selbst wenn ich rumliege, lese ich oder schaue Serien oder grübele vor mich hin, was ich machen könnte, wenn mich das Sofa wieder gehen ließe, das gute Ding.

26. Warst du ein glückliches Kind?

Meine Kinderfotos sehen jedenfalls idyllisch aus. Ich kann mich auch an nichts Schlimmes erinnern außer einem eingetretenen Nagel im Fuß auf der Baustelle, aus der später unser Haus wurde, oder ein gebrochener kleiner Finger. Mir ist allerdings erst in meinen Dreißigern klargeworden, dass ich schon immer lieber alleine oder in sehr kleiner Gesellschaft war, lieber zuhause bei meinen Büchern als auf wilden Partys. Das hat etwas gedauert, bis ich mir selber eingestanden habe, dass ich dann wohl so bin und einfach weiter so sein darf und die anderen auf die wilden Partys gehen, wenn ihnen das Spaß macht.

27. Kaufst du oft Blumen?

Ich würde mir gerne dauernd Blumen kaufen, aber das ist eine Ausgabe, die ich mir momentan verkneife. Aber ich liebe Blumen und habe fest vor, meine neuen Balkon damit buntzupflanzen.

28. Welchen Traum hast du?

Gesund alt werden. Alles andere passt dann schon.

Vielleicht nochmal woanders als in München wohnen. Vielleicht noch ein Seniorenstudium.

29. In wie vielen Wohnungen hast du schon gewohnt?

Zehn Häuser/Wohnungen an sechs Orten.

30. Welches Laster hast du?

Ich will ja eigentlich Süßigkeiten nicht als Laster bezeichnen, weil es kein gutes und kein schlechtes Essen gibt, aber mir ist durchaus bewusst, dass ich vermutlich deutlich mehr davon esse als die meisten anderen Menschen. Schmeckt aber so gut! (Deswegen ist es eindeutig ein gutes Lebensmittel, liebe Kinder.)

Ansonsten kaufe ich zu viele Bücher, die ich vermutlich nie lesen werde.

31. Welches Buch hast du zuletzt gelesen?

Ich lese gerade Stefan Zweigs Die Welt von gestern.

32. Warum hast du die Frisur, die du jetzt trägst?

Weil sie praktisch und pflegeleicht ist und mir nicht dauernd Zeug in den Augen hängt. Außerdem steht sie mir natürlich ausnehmend gut.

33. Bist du von deinem Mobiltelefon abhängig?

Ich glaube, wenn ich es nicht mehr hätte, würde es mir sehr fehlen, aber abhängig? Hm. Ich müsste wieder Menschen nach dem Weg fragen, mit dem Walkman Musik hören und nur noch vom Laptop twittern. Klingt machbar für mich.

34. Wie viel Geld hast du auf deinem Bankkonto?

Genug. Netterweise. Da ich aber noch nie im meinem Leben Schulden hatte oder einen Kredit aufnehmen musste und ich beim einzigen Rutschen in den Dispo, weil ich schlicht nicht aufgepasst hatte, schon Atemnot bekommen habe (30 EURO!), spare ich trotzdem, damit auch weiterhin genug drauf ist. Könnte ein Selbständigen-Ding sein.

35. In welchen Laden gehst du gern?

Eigentlich gehe ich in keinen Laden wirklich gerne, weil ich Einkaufen oder Shoppen, wie wir crazy young people sagen, eher als eine Pflicht empfinde und nicht als entspannende Freizeitgestaltung. Aber dafür gehe ich umso lieber in Bibliotheken! Da kosten die Bücher auch nichts!

36. Welches Getränk bestellst du in einer Kneipe?

Bier oder Apfelschorle. Very deutsch. In Restaurants bestelle ich Wein, in Cafés irgendeine Kaffeespezialität mit Milch drin.

37. Weißt du normalerweise, wann es Zeit ist, zu gehen?

Als ehemalige Kellnerin bin ich diejenige, die den ganzen Tisch eine Stunde vor Ladenschluss zum Aufbruch drängt, um bloß nicht der letzte Gast zu sein. Auf privaten Feiern bin ich meist die erste, die geht, weil ich wieder allein sein möchte.

Daher: Nein, vermutlich fehlt mir das Händchen für das gesunde Mittelmaß.

38. Wenn du dich selbständig machen würdest, mit welcher Tätigkeit?

Ich habe mich selbständig gemacht und zwar mit Schreiben. Noch lieber würde ich mich mit Lesen selbständig machen.

39. Willst du immer gewinnen?

Bei Gesellschaftsspielen? Ja, natürlich! Wozu machen wir das denn? Ich schmeiße aber keine Schachbretter mehr aus Wut um, was ich für ein gutes Zeichen halte.

40. Gehst du in die Kirche?

Nicht oft genug. Immer wenn ich da bin, finde ich es sehr schön.

Tagebuch Freitag, 1. Februar 2019 – Solotheater

ES IST SCHON FEBRUAR? WIR HATTEN DOCH GERADE ERST WEIHNACHTEN? Ich fühle mich sehr alt.

Wie immer am 1. des Monats erledigte ich brav Steuerkram, was man als Selbständige halt so macht, was weggearbeitet ist, ist weggearbeitet. Danach war ich für einige Stunden mit privatem Orgakram beschäftigt, bekam zu diesem Thema eine WhatsApp, über die ich sehr betrübt war, aber dafür auch ein paar Mails und DMs, die mich freuten.

Nachmittags las ich Zeitung (ich liege schon wieder hinter dem eigentlichen Zeitungstag zurück, seit ich den Wirtschaftsteil nicht mehr ungelesen wegwerfe, verdammt!) und schaute auf Netflix die Doku zum Fyre-Festival, das im letzten Jahr kurz in meinem Twitterstream aufflackerte. Bisher war ich nur ein bisschen entsetzt gewesen, nach der Doku war ich es sehr und konnte mich kaum zwischen den inneren Hashtags #KriminelleEnergie, #VeryWhitePrivilege, #HumansofLateCapitalism und #BurnItAllDown entscheiden. Meine Schadenfreude mit den angeblich so blasierten Millennials hielt sich in Grenzen, denn erstmal waren das Leute, die Geld für eine Leistung bezahlt hatten, die sie aber sowas von gar nicht erhielten. Ob die Leistung jetzt in meinen Augen komplett sinnloser Scheiß war, tut hier nichts zur Sache.

Immerhin hatte ich abends Zeit, den Kopf wieder klarzukriegen, denn ich ging ins Theater, ausnahmsweise mal alleine. Ich war schon mal alleine im Residenztheater für Kabale und Liebe gewesen, aber ansonsten immer in Begleitung, wenn ich mich richtig erinnere. Aber F. hatte Miranda Julys Der erste fiese Typ bereits gesehen und war gestern eh schon vergeben. Also las ich im Foyer der Kammerspiele, bis sich die Türen öffneten und ich in den Balkon klettern konnte. Ich hatte mir nur die günstigste Kartenkategorie gegönnt, aber die war auch völlig in Ordnung. Ich sah von meiner vorletzten Reihe im rechten Balkon zwar das rechte vordere Drittel der Bühne nicht mehr, aber ich hörte gut, und im Stück kamen genug Einblendungen auf Leinwände vor, die ich komplett sehen konnte, also alles gut.

Ich kann mich nicht erinnern, jemals so viel im Theater gelacht und zwei Minuten später Rotz und Wasser geheult zu haben. Also nicht nur die eine Alibiträne, wenn mich etwas rührt, nee, schon so mit Schniefen und Schneuzen. Mittendrin zerrte das Stück bzw. die hervorragende Inszenierung arg an meinen Nerven, wenn ich über Dinge staunte oder mich über sie aufregte (mit oder ohne die Frauen auf der Bühne, denn Kerle gab’s nicht, yay!) oder sie mich ärgerten oder beglückten. Ich saß kaum einen Moment einfach nur da, so gut waren die Dialoge und die Ereignisse, die auf der Bühne passierten und natürlich vor allem die beiden Schauspielerinnen, die Sängerin und die Videokünstlerin. Ich kam fast erschöpft nach zwei Stunden wieder an die frische Luft, so sehr konnte mich die Aufführung fesseln und mitnehmen.

Geht rein, wenn es nochmal läuft. Ganz große Empfehlung.

(Die Nachtkritik-Kritik zum Stück, allerdings voller Spoiler.)

Aus Year of Wonder: Luciano Pavarotti mit „Che gelida manina“ aus La Bohème. Nicht meine liebste Puccini-Oper, ich komme da irgendwie nie rein, aber diese Arie geht natürlich immer. Hach!

Tagebuch Mittwoch/Donnerstag, 30./31. Januar 2019 – ZI und Klangtexturen

Da ich im Moment auf weitere Textvorlagen bzw. Briefings warte, hatte ich am Donnerstag entspannt Zeit, endlich mal wieder ins Zentralinstitut für Kunstgeschichte zu gehen. Ich war anscheinend recht lange nicht mehr dort – mich überraschten neue Schließfächer im Vorraum der Bibliothek, und der praktische Tisch in der Mitte, auf dem man sonst sein Zeug schnell ablegen konnte, um Jacke und Rucksack ins Schließfach zu stopfen, war nicht mehr da. Jetzt balanciert man anscheinend alles auf der Fensterbank und hofft, dass der Laptop nicht herunterfällt, während man nach dem 1- oder 2-Euro-Stück sucht, das man zum Schließen braucht. (Habe ich natürlich immer in der Hosentasche.)

Meine geplante Diss hatte sich leider zerschlagen, seit mir die Erben Grossbergs im August mitteilen ließen, dass sie niemand in den Nachlass gucken lassen wollen (ich war nicht die erste, die nachfragt). Das warf mich doch länger aus der Bahn als ich dachte, dann kam der Umzug, dann musste ich gefühlt drei Monate Lampen aussuchen, dann Kekse backen und plötzlich ist es Ende Januar und ich habe seit Monaten nichts für die Diss gemacht. Jetzt aber!

Ich habe inzwischen eine deutlich veränderte Fragestellung im Hinterkopf, weiß aber noch nicht, ob sie trägt. Daher bin ich jetzt wieder beim, wie mein Doktorvater es so schön nennt, „ergebnisoffenem Forschen“ angekommen; ich suche erstmal alles zusammen, was ich so finde und gucke dann, welche Frage sich daraus ergibt. Oder auch nicht. Momentan weiß ich nicht, ob ich mit Protzen alleine eine Diss bestreiten kann, wenn ich mehr will als nur ein kommentiertes Werkverzeichnis zu erstellen – das ginge nämlich halbwegs mit seinem Nachlass und den Archivdokumenten, die ich bisher durchgewühlt habe. Aber das ist natürlich total langweilig, auch wenn es für die Nachwelt bestimmt nett wäre, so eine Übersicht zu haben. In meinem Hinterkopf wird das ein dicker Anhang, aber mehr nicht.

Daher fing ich am Mittwoch wieder einmal von vorn an, indem ich mir ein paar Ausstellungskataloge zur NS-Kunst raussuchte – so viele gibt’s ja nicht – und die Aufsätze las, die ich bisher ignoriert oder nur überflogen hatte. Gerade den Katalog von der problematischen Ausstellung „Aufstieg und Fall der Moderne“ in Weimar 1999, wo NS-Kunst relativ unkommentiert neben DDR-Kunst hing, wollte ich komplett lesen. Der war dann auch deutlich ergiebiger als ich gedacht hatte, gerade weil bei mir im Kopf eben nur die Kontroverse war, aber nicht die eigentliche Intention: die Zeitläufte deutscher Kunst am Beispiel von Weimar abzubilden. Im Katalog klappt das deutlich besser als es vermutlich in den Ausstellungsräumen gelungen ist, auch wenn hier die Zeit vor 1933 ein deutliches Übergewicht hat. Aber genau die fand ich spannend.

Irgendwie landete ich bei der Kulturpolitik der 20er Jahre, die Justus H. Ulbricht in einem Aufsatz gut zusammenfassen konnte, hier ein Ausschnitt. (Das verlinkte Wort musste ich googeln, kleiner Service für alle, denen es vielleicht genauso geht.)

„Nach Kriegsniederlage und Revolution nämlich erwartete man quer durch alle politischen Lager hindurch gerade von Kunst und Kultur identitätsstiftende Impulse für die Gemeinschaftsbildung der in antagonistische Milieus, Parteien, Klassen und Konfessionen gespaltenen deutschen Gesellschaft und stritt sich in diesem Bereich folglich um die Deutungskompetenz für Werte und Normen mit kulturreformatorischem Anspruch. Die ersehnte „Wiedergeburt“ des unterlegenen Reiches als Nation schien sich allein auf dem Wege der Kulturpolitik erreichen zu lassen, glaubte man hier doch an die integrative Kraft eines gemeinsamen Erbes. Die Ankunft des ersehnten „neuen Menschen“ auf Erden versprach man sich – auf der Rechten wie der Linken – von einer ästhetischen Erziehung der Zeitgenossen, in der die mit soteriologischen Hoffnungen überfrachtete Kunst eine zentrale Rolle spielen sollte. Derartige Vorstellungen wurden gerade in der Stadt des klassischen Erbes emphatisch beschworen und zeichneten sich oftmals durch ihre programmatische Politikferne aus – eine in Zeiten beginnender Demokratie folgenschwere Hypothek des deutschen Kulturbewusstseins, die überdies in direkten Konflikt mit den dezidiert politischen Positionen einzelner Avantgardeströmungen geraten musste.“

(Justus H. Ulbricht: „‚Wir wünschen hier kein München-Schwabing‘. Das Staatliche Bauhaus im Spannungsfeld der politischen Kultur Weimars 1918–1925“, in: Kat. Ausst. Aufstieg und Fall der Moderne. Kunstsammlungen zu Weimar, Schlossmuseum Weimar/ Mehrzweckhalle Weimar, Mai bis November 1999, Ostfildern-Ruit 1999, S. 264–272.)

Beim Thema Kunsterziehung las ich Donnerstag gleich weiter, denn darüber hatte ich noch nie nachgedacht: dass natürlich nicht nur die radikale Rechte, sondern auch die Linke und das angeblich unpolitische Bürgertum jeweils eine Agenda hatten – die sie teilweise mit Kulturpolitik durchzusetzen versuchten. Ich las nur in einem Buch, denn das beschäftigte mich für Stunden: Transformation der Kunst: Ziele und Wirkungen der deutschen Kultur- und Kunsterziehungsbewegung von Peter Ulrich Hein. Ich fing im Kaiserreich an, dessen Kulturkritik bzw. die Schriften dazu eine Stoßrichtung hatten: das Anprangern der „Künstlichkeit städtischer Zivilisation, obwohl gerade sie erst die Voraussetzung für eine größere kulturelle Dispostionsfreiheit schafft. Zivilisationskritik bei gleichzeitiger Verfügung über ein romatisches Naturideal gilt als das Grundelement des sogenannten Kulturpessimismus [wie bei Fritz Stern oder Georg L. Mosse].“ (S. 32/33.)

Wir überspringen mal lustig den Ersten Weltkrieg und sind in den 20er Jahren:

„Die gesamte kulturkritische Bewegung ist beherrscht von einer Ablehnung des Parlamentarismus. Indem man um eine „wahre Bildung“, eine „echte Kunst“, eine „unmittelbare Erlebnisfähigkeit“ bemüht ist, also um Werte, vor denen jedes zivilisatorische Provisorium Stückwerk bleiben muss, sind so weitgehende Maßstäbe gesetzt, dass auch ein höchst mittelbarer, unvollkommener und mühseliger Weg politischer Beteiligung als Korrumpierung des hohen, einzig akzeptablen Anspruchs empfunden werden muss.“ (S. 35.)

Und schließlich:

„Die Sprache der Kulturkritik ist voller Andeutungen über eine Zukunft in diesem Sinne, nicht etwa mit konkreten Vorstellungen, sondern sie propagiert eine geistige Haltung als solche, die diese Zukunft gleichsam verkörpert und primär als eine „künstlerische“ begriffen wird. Die Rede ist von einem „neuen Mythos“, einem „unerlösten Gott“ und schließlich auch vom „Kommen des Dritten Reiches“. Dies alles waren nur sehr schwer positiv zu füllende Vorstellungen und weder in einem politischen noch in einem ethischen Sinne konsenstauglich. Ein solcher Konsensus war aber sehr wohl herzustellen: Auf der Ebene einer deklamatorischen Ablehnung und zugleich „genialen“ Überwindung der gegebenen Verhältnisse, die einer wahrhaft großen Nation als unwürdig erachtet wurden. Kulturkritik, Kunst und Patriotismus bildeten auf diese Weise eine ideologische Liaison.“ (S. 36.)

(Alle Zitate: Hein, Peter Ulrich: Transformation der Kunst. Ziele und Wirkungen der deutschen Kultur- und Kunsterziehungsbewegung, Köln u.a. 1991.)

Ich stolperte im Buch allerdings über eine Stelle, in der die Dissertation von ausgerechnet Armin Mohler als „viel beachtet“ bezeichnet, aber nicht weiter eingeordnet wird, nämlich als durchaus problematisches Standardwerk zur konservativen Revolution. (In diesem Zusammenhang musste ich wieder an den unseligen Artikel von Alexander Dobrindt denken, bei dem ich mir bis heute nicht sicher bin, ob er den Begriff letztes Jahr bewusst oder unbewusst benutzt hat; hier ein Faktenfinder-Artikel dazu, in dem auch Mohler erwähnt wird.) Heins Buch ist von 1991, die Diskussionen damals waren vermutlich andere als heute, allerdings hatten wir gerade den Historikerstreit hinter uns, und so lese ich jetzt etwas vorsichtiger weiter.

Abends lauschten F. und ich dann dem Münchner Kammerorchester – und waren nicht ganz so begeistert wie sonst. Es begann sehr faszinierend mit Iannis Xenakis’ Aroura für 12 Streicher von 1971. Ich überlegte die ganze Zeit, wie man diese Musik beschreiben konnte und fand im Programmheft das perfekte Wort dafür: „Klang-Textur“.

Dann kam das Stück, weswegen ich eine Karte hatte haben wollen: Kammermusik Nr. 4 op. 36/3 für Violine und größeres Kammerorchester (1925) von meinem derzeitigen Spezl Paul Hindemith. Das überforderte mich aber, warum auch immer, gegen Atonales habe ich ja gar nichts, siehe Xenakis, aber irgendwie haderte mein Kopf. Ich habe mir das Stück für den Blogeintrag noch ein weiteres Mal angehört und heute morgen komme ich damit weitaus besser klar. Vielleicht war mein Hirn vom Lesen müde.

Nach der Pause gab’s Brahms, und ich dachte im Vorfeld noch, och, Brahms, na gut, nehmen wir den halt noch mit, aber nach dem sperrigen Hindemith (der mir beim zweiten Hören gar nicht mehr sperrig vorkommt) freute ich mich dann doch auf was Braves. Brav war’s. Leider war’s auch langweilig. Die Serenade Nr. 1 D-Dur op. 11 von 1860 vermochte mich im ersten Satz noch zum freundlichen Mitnicken zu bewegen, aber in Satz 2 bis 4 war ich damit beschäftigt, Scheinwerfer zu zählen (wir saßen in der letzten Reihe), mir die bunte Decke anzugucken und zu versuchen, nicht einzunicken. Die zwei letzten Sätze hüpften dann schnell und belanglos an uns vorbei und wir wollten dringend nach Hause. Dort wartete leider kein Sekt mehr auf uns, wie ich vor dem Losgehen entsetzt festgestellt hatte, als ich eine Flasche kalt stellen wollte. Ich. Habe. Nichts. Blubberiges. Im. Haus! Das ist seit ungefähr zehn Jahren nicht mehr vorgekommen und ich bin darob sehr verstört. Aber wie F. abends am Küchentisch nur noch müde sagte: „Der Brahms hat dem Abend irgendwie den Stecker gezogen.“ Und so gingen wir einfach ohne Absacker und große musikalische Diskussion ins Bett.

Schokoladenbuttercremetorte

Wenn man ganz dringend ganz schnell ganz viel Schokolade braucht.

Die Zutaten unten reichen für eine 18-Zentimeter-Springform und es bleibt selbst beim großzügigen Verstreichen noch Buttercreme übrig. Wenn ihr die Zutaten für den Biskuit verdoppelt und bei der Creme 300 statt 200 g Schokolade nehmt, müsste es auch für eine 26-cm-Form reichen. Habe ich aber noch nicht ausprobiert.

Den Biskuitboden hatte ich schon mal für die Ganachetorte verbloggt, aber gute Sachen kann man ja mehrfach posten. Das Buttercremerezept kommt gnadenlos von Chefkoch. Und noch ein Hinweis: Der Biskuit wird relativ fest, das heißt, er verträgt auch nach dem Teilen dicke Frucht- oder Cremeschichten. Fluffig-locker ist er spätestens am nächsten Tag aber nicht mehr. Vor allem nicht unter einer dicken Schicht Buttercreme, die gerade im Kühlschrank fast komplett fest wird.

Die Springform buttern und den Ofen auf 180 Grad Ober- und Unterhitze vorheizen.

45 g Butter schmelzen und etwas abkühlen lassen.

70 g Zartbitterschokolade schmelzen.

3 Eiweiß zu Eischnee schlagen.

3 Eigelb mit
85 g Kristallzucker im heißen Wasserbad dicklich aufschlagen – zum Beispiel das, über dem ihr auch schon die Schokolade geschmolzen habt, wie praktisch. Also vorher einfach auf die richtige Topf- und Schüsselgröße achten.

In diese Mischung
75 g Mehl sieben. Danach Butter und Schokolade unterheben, anschließend nach und nach den Eischnee. In die Form geben und für circa 35 Minuten backen. Den Biskuit vollständig auskühlen lassen, danach horizontal teilen. Notfalls den oberen Teil etwas begradigen.

Währenddessen die Buttercreme herstellen. Dazu

200 g Zartbitterschokolade schmelzen und deutlich abkühlen lassen.

250 g Butter mit dem Mixer weißlich rühren.

275 g Puderzucker hineinsieben und unterrühren. Wenn die Schokolade soweit abgekühlt ist, dass sie die Butter nicht mehr schmelzen kann, ebenfalls unterrühren. Ich habe dazu die Lippenprobe gemacht: Wenn sich die Schokolade an den Lippen nicht mehr warm anfühlt, müsste das klappen. Hat es jedenfalls bei mir. Falls die Buttercreme zu fest geworden ist, mit ein paar Esslöffeln Milch auflockern; normalerweise reicht nochmal kräftig durchrühren auch.

Auf die Kuchenplatte vier breite Streifen Backpapier legen, so dass sie jede Seite bedecken, aber in der Mitte die Platte noch zu sehen ist. Den unteren Boden mit einem Klecks Buttercreme an der Platte fixieren. Darauf ordentlich Creme geben und mit einer Palette glattstreichen, dann den zweiten Boden aufsetzen. Nun die Außenhülle der Torte ebenfalls mit Creme überziehen und glattstreichen, sofern man das will und kann; ich habe mich in Kenntnis meiner eigenen Fähigkeiten für den rustikalen Lavalook entschieden.

Am Ende die Backpapierstreifen vorsichtig unter der Torte hervorziehen und sich darüber freuen, dass die Platte sauber geblieben ist.

Tagebuch Samstag bis Dienstag, 26. bis 29. Januar 2019 – Wein, Schokolade und Bier

Der Samstag war schön, dann doof, dann wieder schön: Am späten Vormittag besuchte ich die zweite Ausstellung für unseren Podcast und besorgte dann noch den Wein für die Aufnahme, den ich ernsthaft bis dahin vergessen hatte. Der Gastgeber legt ja bekanntermaßen das Weinthema fest, über die Austellungen stimmen wir ab, und so hatte ich im Hinterkopf, welche zwei Schauen ich noch gucken musste – aber dass ich auch noch einen Wein brauche, hatte ich warum auch immer völlig verschnarcht.

Gut, dass es das Internet gibt, das einem sagt, wo man in Müchen vielleicht Orange Wine bekommen könnte. Ich hatte mir auch einen Winzer ergoogelt, dessen Weine ich probieren wollte, und so stieg ich nach der Ausstellung erst in die Tram, kaufte dann am Stachus mein Lieblingsbrot, stieg dort auch gleich in die S-Bahn, um am Rosenheimer Platz schon wieder auszusteigen und zum Weinladen zu bummeln. Dort gab es zwar nicht den Wein, den ich mir überlegt hatte, aber dafür genügend andere. Außerdem stellte ich beglückt fest, dass in meinen neuen Rucksack locker drei Weinflaschen (und Zeug) passen und dass die rückseitige Polsterung dafür sorgt, dass mir die Flaschen nicht dauernd an die Lendenwirbelsäule dengeln.

Ich war rechtzeitig zum Fußball wieder zuhause und konnte so dem FC Augsburg dabei zuschauen, mal wieder zu verlieren. Immerhin auf dem warmen Sofa und nicht frustriert und frierend im Stadion.

Abends fuhr ich dann zu F., aß die bei ihm traditionelle Fehlfarbenpizza von Lo Studente (dieses Mal Christopher), wir entkorkten Weine und plauderten erst ohne Mikro, dann mit, dann wieder ohne vor uns hin.

Gemeinsam eingeschlafen.

Und Sonntag gemeinsam aufgewacht. Um 11! Was zur Hölle? Normalerweise werde ich schon irre, wenn ich um 9 aufwache, weil ich dann immer denke, der halbe Tag ist schon rum, aber ELF? So lange hatte ich schon ewig nicht mehr geschlafen. F. holte sich ein Teilchen vom Bäcker, ich meinte, ich bräuchte nichts, ich würde mir meine Sonntagscroissants nachher selber auf dem Heimweg holen. Wir lungerte noch etwas rum, dann musste er ins Stadion zu Bayern, und als ich meinen Rucksack packen wollte, um nach Hause zu gehen, stellte ich fest, dass in ihm eine Bäckertüte lag, weil F. mir natürlich schon Croissants mitgebracht hatte. Ich war ein lebendes Herzaugenemoji. (Jetzt beim Aufschreiben schon wieder!)

Das Bayernspiel schaute ich nur kurz, ansonsten sah ich den Stalkerquatsch You auf Netflix und fand es fürchterlich. Das Beste an der Serie ist dieser Artikel in der NYT, in dem Hauptdarsteller Penn Badgley zu seiner Rolle als Mistkerl sagt: „In a more just society, we would all see Joe as problematic and not be interested in the show, but that’s not the society we live in.“

Die noch fehlenden Bücher der letztwöchigen FAZ nachgelesen, unter anderem diesen Artikel über die erneute Aufführung von Schindlers Liste.

„Auch Produzent Artur Brauner versuchte sich an einem Schindler-Film. Er scheiterte 1984 und 1992 an der Filmförderung, die erklärte, kein Deutscher könne solch einen Film machen, ohne nicht der Reinwaschung bezichtigt zu werden.

Brauners Erfahrungen spiegeln die besonders komplizierte Stellung deutscher Filme, die sich nicht-dokumentarisch mit dem Holocaust beschäftigen, hervorragend wider. Die Schuldfrage und die doppelte Betroffenheit erzeugen bis heute ein schizophrenes Arbeitsfeld zwischen Ausblendung und der Angst, „falsch“ zu erzählen und zu bebildern. Wenn Ideen nicht gleich an den Abwehrmechanismen scheitern, finden sie oft durch Verschiebungs- und Ersatzmechanismen statt. Besonders beliebt sind das Konzentrieren auf Widerstandsgeschichten, die „guten“ Deutschen. Das Jüdische wiederum findet meist abgeschirmt vom Holocaust in Geschichten von Entkommenen oder Versteckten statt. Man konzentriert sich auf die Ausnahmen. Die harsche Realität des Holocaust bleibt randständig. Kein Wunder, dass die wirklich wirksamen Filme nicht aus Deutschland kommen.“

Am Sonntag war Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Yad Vashem hatte sich dazu eine Aktion in den sozialen Medien überlegt, die ich in ihrer Schlichtheit sehr beeindruckend und wirkungsvoll fand. An der sogenannten I-Remember-Wall konnte man sich eine Person zuteilen lassen, die in der Shoah umgebracht worden war und ihrer gedenken. Ich habe das Bild und eine kurze Biografie von Malka Apelman aus Polen auf meinem Instagram-Account gepostet. Aus einer unvorstellbaren Zahl wurde ein einzelnes Gesicht, eine Person, und an diese habe ich gedacht.

Der Montag war größtenteils von kulinarischen Misserfolgen geprägt. Immerhin ist das Gemüsebrühenpulver etwas geworden. Aber die eigentlich angeblich tollste Schokoladentorte der Welt war ein einziges Desaster. Aus Frust buk ich einen Biskuit, von dem ich wusste, dass er funktionierte, und ergoogelte mir eine Buttercreme mit Schokolade statt mit Kakaopulver, denn das hatte ich komplett für die nach gammeliger Asche schmeckende Torte gebraucht, die jetzt in Bröseln (Teig war nicht festgeworden) in meinem Mülleimer lag. Das klappte immerhin und rettete ein bisschen den Tag, auch wenn es eben nicht der fluffige Teig mit einer leichten Creme war, sondern mein üblicher fester Biskuit, den man aber immerhin mit Creme einstreichen kann, ohne dass er einem unter der Palette zerfällt.

So richtig gerettet wurde der Tag allerdings durch ein, zwei (sieben, ähem) Bierchen im Obacht in meiner liebsten Gesellschaft. Ich musste mich allerdings auf dem Heimweg an den Häuserwänden festhalten und weiß nach den Kopfschmerzen am Dienstag morgen auch, dass meine Grenze anscheinend fünf Halbe sind und eben nicht sieben. Aber es war so nett und gemütlich und unser Gespräch so schön, dass wir beide einfach den Abend nicht beenden wollten.

Dienstag war Orgatag. Auf meinem Schreibtisch lag lauter Kleinkram, der weggearbeitet werden wollte. Das tat ich auch, räumte zwischendurch das Schlachtfeld Küche auf, das ich nach dem bierseligen Abend wirklich nicht mehr anrühren wollen, und ging brav früh und nüchtern schlafen.

Bei Year of Wonder haben mir zwei Stücke sehr gefallen, beide von Komponist*innen, die ich noch nicht kannte. Die Unsent Love Letters von Elena Kats-Chernin und L’Heure Exquise von Reynaldo Hahn sind sehnsuchtsvoll schön und passten gestern sehr gut in meine Stimmung.

Wie ich allerdings festgestellt habe, besteht meine Playlist der Woche von Spotify inzwischen auch nur noch aus Klassik, seit ich eben dort nichts anderes mehr höre. Muss mal wieder ein paar Föhnfrisuren aus den 80er Jahren anwerfen.

Als Rausschmeißer wieder ein bisschen Zweig. Wir befinden uns in den direkten Nachkriegsjahren in Österreich, und was Zweig mit am eindrücklichsten an der Inflationszeit in Erinnerung geblieben ist, sind: biertrinkende Menschen.

„Am groteskesten entwickelte sich das Mißverhältnis bei den Mieten, wo die Regierung zum Schutz der Mieter (welche die breite Masse darstellten) und zum Schaden der Hausbesitzer jede Steigerung untersagte. Bald kostete in Österreich eine mittelgroße Wohnung für das ganze Jahr ihren Mieter weniger als ein einziges Mittagessen; ganz Österreich hat eigentlich fünf oder zehn Jahre (denn auch nachher wurde eine Kündigung untersagt) mehr oder minder umsonst gewohnt. Durch dieses tolle Chaos wurde von Woche zu Woche die Situation widersinniger und unmoralischer. Wer vierzig Jahre gespart und überdies sein Geld patriotisch in Kriegsanleihe angelegt hatte, wurde zum Bettler. Wer Schulden besaß, war ihrer ledig. Wer korrekt sich an die Lebensmittelverteilung hielt, verhungerte; nur wer sie frech überschritt, aß sich satt. Wer zu bestechen wußte, kam vorwärts; wer spekulierte, profitierte. Wer gemäß dem Einkaufspreis verkaufte, war bestohlen; wer sorgfältig kalkulierte, blieb geprellt. Es gab kein Maß, keinen Wert innerhalb dieses Zerfließens und Verdampfens des Geldes; es gab keine Tugend als die einzige: geschickt, geschmeidig, bedenkenlos zu sein und dem jagenden Roß auf den Rücken zu springen, statt sich von ihm zertrampeln zu lassen.

Dazu kam, daß während im Wettersturz der Werte die Menschen in Österreich jedes Maß verloren, manche Ausländer erkannt hatten, daß bei uns im trüben gut zu fischen war. Das einzige, was während der Inflation – die drei Jahre anhielt und in immer schnellerem Tempo verlief – innerhalb des Landes stabilen Wert besaß, war das ausländische Geld. Jeder wollte, da die österreichischen Kronen wie Gallert unter den Fingern zerflossen, Schweizer Franken, amerikanische Dollars, und stattliche Massen von Ausländern nützten die Konjunktur aus, um sich an dem zuckenden Kadaver der österreichischen Krone anzufressen. Österreich wurde ›entdeckt‹ und erlebte eine verhängnisvolle ›Fremdensaison‹. Alle Hotels in Wien waren von diesen Aasgeiern überfüllt; sie kauften alles, von der Zahnbürste bis zum Landgut, sie räumten die Sammlungen von Privaten und die Antiquitätengeschäfte aus, ehe die Besitzer in ihrer Bedrängnis merkten, wie sehr sie beraubt und bestohlen wurden. Kleine Hotelportiers aus der Schweiz, Stenotypistinnen aus Holland wohnten in den Fürstenappartements der Ringstraßenhotels. So unglaublich das Faktum erscheint, ich kann es als Zeuge bekräftigen, daß das berühmte Luxushotel de l’Europe in Salzburg für längere Zeit ganz an englische Arbeitslose vermietet war, die dank der reichlichen englischen Arbeitslosenunterstützung hier billiger lebten als in ihren Slums zu Hause. Was nicht niet- und nagelfest war, verschwand; allmählich verbreitete sich die Nachricht, wie billig man in Österreich leben und kaufen könne, immer weiter, aus Schweden, aus Frankreich kamen neue gierige Gäste, man hörte auf den Straßen der inneren Stadt in Wien mehr italienisch, französisch, türkisch und rumänisch sprechen als deutsch. Sogar Deutschland, wo die Inflation zuerst in viel langsamerem Tempo vor sich ging – freilich um die unsere später um das Millionenfache zu überholen –, nutzte seine Mark gegen die zerfließende Krone aus. Salzburg als Grenzstadt gab mir beste Gelegenheit, diese täglichen Raubzüge zu beobachten. Zu Hunderten und Tausenden kamen aus den nachbarlichen Dörfern und Städten die Bayern herüber und ergossen sich über die kleine Stadt. Sie ließen sich hier ihre Anzüge schneidern, ihre Autos reparieren, sie gingen in die Apotheken und zum Arzt, große Firmen aus München gaben ihre Auslandsbriefe und Telegramme in Österreich auf, um an der Differenz des Portos zu profitieren. Schließlich wurde auf Betreiben der deutschen Regierung eine Grenzbewachung eingesetzt, um zu verhindern, daß alle Bedarfsgegenstände statt in den heimischen Läden in dem billigeren Salzburg gekauft wurden, wo man schließlich für eine Mark siebzig österreichische Kronen erhielt, und energisch wurde am Zollamt jede aus Österreich stammende Ware konfisziert. Aber ein Artikel blieb frei, den man nicht konfiszieren konnte: das Bier, das einer im Leibe hatte. Und die biertrinkenden Bayern rechneten es sich am Kurszettel von Tag zu Tag aus, ob sie im Salzburgischen infolge der Entwertung der Krone fünf oder sechs oder zehn Liter Bier für denselben Preis trinken konnten, den sie zu Hause für einen einzigen Liter zahlen mußten. Eine herrlichere Lockung war nicht zu erdenken, und so zogen mit Weibern und Kindern Scharen aus dem nachbarlichen Freilassing und Reichenhall herüber, um sich den Luxus zu leisten, so viel Bier in sich hineinzuschwemmen, als der Bauch nur fassen konnte. Jeden Abend zeigte der Bahnhof ein wahres Pandämonium betrunkener, grölender, rülpsender, speiender Menschenhorden; manche, die sich zu stark überladen, mußten auf den Rollwagen, die man sonst zu Koffertransporten benutzte, zu den Waggons geschafft werden, ehe der Zug, gefüllt mit bacchantischem Geschrei und Gesang, wieder zurückfuhr in ihr Land. Freilich, sie ahnten nicht, die fröhlichen Bayern, daß ihnen eine fürchterliche Revanche bevorstand. Denn als die Krone sich stabilisierte und dagegen die Mark in astronomischen Proportionen niederstürzte, fuhren vom selben Bahnhof die Österreicher hinüber, um ihrerseits sich billig zu betrinken, und das gleiche Schauspiel begann zum zweitenmal, allerdings in der entgegengesetzten Richtung. Dieser Bierkrieg inmitten der beiden Inflationen gehört zu meinen sonderbarsten Erinnerungen, weil er plastisch-grotesk im kleinen den ganzen Irrsinnscharakter jener Jahre vielleicht am deutlichsten aufzeigt.“

Gemüsebrühenpulver

Ich habe neulich endlich mal eine eigene Gemüsebrühe als Grundlage für Suppen zubereitet, war aber mit dem Ergebnis nicht ganz hundertprozentig zufrieden. Außerdem nimmt eingefrorene Brühe ein bisschen mehr Platz in meinen Gefrierfächern weg als mir lieb war. Daher habe ich jetzt Gemüsebrühenpulver hergestellt, aus dem ich soeben eine Brühe aufgegossen habe, die ich nebenbei wegnippe, während ich tippe. Denn der Geschmack gefällt mir außerordentlich gut.

Das Rezept stammt von Arthurs Tochter, auf deren Seite noch mehr Phasenfotos zu sehen sind. Was ihr braucht, ist ein Berg Gemüse, einen Ofen mit Umluft, einen anständigen Standmixer und vor allem viel Zeit. Ich sag’s nur vorher.

Ich habe die Hälfte der Menge des Ursprungsrezepts hergestellt und brauchte daher nur ein Backblech, nicht drei. Aus den untenstehenden Zutaten kommen ungefähr 250 g Pulver heraus.

250 g Möhren, geschält,
100 g Lauch mit Grün,
50 g Petersilienwurzel, geschält,
150 g Knollensellerie, geschält,
150 g Zwiebeln, geschält, und
1 Bund Petersilie grob zerkleinern und in einen Standmixer (Blender) geben.

Dazu noch
1 Lorbeerblatt,
1/2 TL Zucker,
2 EL Tomatenmark,
2 EL helle Sojasauce (möglichst ohne Geschmacksverstärker) und
125 g grobes Meersalz.

Mein Blender steht immer noch nicht wieder in München, daher habe ich den Gemüseberg in Etappen in einem kleinformatigen Mixer zu winzigen Würfeln zerkleinert (und vergessen zu fotografieren). Es ist keine so feine Paste bei mir herausgekommen wie bei Arthurs Tochter, aber das Rezept hat trotzdem funktioniert.

Diese Paste streicht ihr nun auf ein mit Backpapier ausgelegtes Backblech und lasst es bei 80 Grad Umluft (!) für 12 bis 15 Stunden im Ofen trocknen. Topflappen oder Kochlöffel in die Tür klemmen, damit die Feuchtigkeit entweichen kann. Ich bin abends irgendwann aus dem Haus gegangen und wollte den Ofen nicht anlassen, der noch keine 12 Stunden hinter sich hatte, also habe ich einfach die Ofentür bei ausgeschaltetem Ofen offengelassen und am nächsten Morgen nach der Paste geguckt.

Die war erwartungsgemäß trocken und ließ sich leicht in Stücke zerbrechen. Die kommen wieder in den Mixer, zusammen mit
35 g getrockneten Pilzen (kann eine Mischung sein, bei mir waren es nur Steinpilze). Alles pulverisieren und beim Öffnen des Deckels ein bisschen warten, es staubt ziemlich.

Fertig! Pulver in ein Glas umfüllen und genauso benutzen wie gekaufte Brühe. Ich habe eben einen Teelöffel auf 200 ml heißes Wasser gegeben und das schmeckt genauso wie ich mir Brühe vorgestellt habe. Nur noch besser.

Ja, das dauert alles länger als einfach im Supermarkt ein Gläschen zu kaufen und teurer ist es auch. Aber im Gegensatz zu dem Glas, das ich zum Vergleich aus meinem Schrank geholt habe, sind im selbstgemachtem Pulver garantiert mehr als 16,5 Prozent Gemüse drin.

Fehlfarben 19: LAND_SCOPE / BODYSCAN

ICH SCHREIE NICHT, DIE TITEL SIND IN VERSALIEN! Dabei haben die beiden schönen Ausstellungen das gar nicht nötig, sich so aufzuplustern. Wir hatten viel zu besprechen und wagten uns nebenbei erstmals an Orange Wines. Das war ein sehr lehrreicher Abend.

Normalerweise schreibe ich nicht extra auf, was ihr auch hören könnt, aber ich habe schon bei den letzten Aufnahmen gemerkt, dass mir das ein bisschen fehlt, im eigenen Blog nachlesen zu können, was mir gefallen hat. Wir sprechen noch über weitaus mehr Kunstwerke als ich hier erwähne, aber diese wollte ich persönlich mir merken. Auf unserer offiziellen Seite könnt ihr diesen Eintrag hier auch in deutlich kürzer lesen.

Podcast herunterladen (MP3-Direktlink, 86 MB, 108 min), abonnieren (RSS-Feed für den Podcatcher eurer Wahl), via iTunes anhören.

00.00:00. Begrüßung und Vorstellung.

00.01:30. Blindverkostung des ersten Weins.

00.03:55 : Die erste Ausstellung: LAND_SCOPE im Stadtmuseum München, läuft noch bis zum 31. März. Ich fand die Ausstellung überraschend groß, ich wusste gar nicht, wie viel Platz im kleinen Stadtmuseum ist. Ich zitiere von der Website: Die Schau besteht aus „über 130 Kunstwerken, die zwischen 1972 und 2018 entstanden sind“. Und dann zitiere ich gleich noch weiter, weil das das einzige zu rupfende Hühnchen ist: Angeblich „zeichnet die Ausstellung den Facettenreichtum der fotografischen Naturdarstellungen bis in die Gegenwart nach, setzt die Weiterentwicklung und nicht selten die Überwindung der Gattung Landschaft mit Hilfe des Lichtbildes ins Relief.“ Bitte was? Wer setzt was ins Relief? Wie setzt man überhaupt irgendwas „ins Relief“? Schwafelalarm galore, der so ziemlich für alle Ausstellungstexte galt, weswegen ich auch den eigentlich günstigen Katalog nicht gekauft habe, so bockig war ich.

Ansonsten ist die Ausstellung aber sehr sehenswert: einfach die Texte überfliegen und dann ignorieren. Ich persönlich mochte das großformatige Foto „Himmelstillleben“ (1998) von Anton Henning am liebsten. Das findet ihr praktischerweise in einem älteren Ausstellungsflyer der DZ Bank, die auch für diese Ausstellung der Leihgeber war; auf Seite 29 in diesem pdf ist das Bild zu sehen. Leider recht hell, aber man kann es mit etwas gutem Willen erkennen: Es zeigt einen Innenraum, an dessen Wand lauter kleine Gemälde lehnen. Auf diesen sind Wolken oder Himmel abgebildet, teilweise in buntfarbiger Abend- oder Morgenstimmung. Ich fand es schlicht großartig, wie ein so wichtiges, übergroßes Bildmotiv wie der Himmel einfach so unbeachtet in der Gegend rumsteht. Der Himmel wurde nicht nur gemalt, sondern auch besungen und bedichtet, er ist ein Sehnsuchtsort, eine Metapher für das Jenseits, größer geht es ja kaum noch – und hier ist er in kleinen Rechtecken gefangen, die anscheinend gerade niemand braucht oder die vielleicht später für wenig Geld auf dem Flohmarkt verscherbelt werden. Fand ich toll.

Ebenfalls ganz oben auf meiner Liste: zwei Bilder aus der Serie „Die bleichen Berge“ von Walter Niedermayr. Die ausgestellten, fast schwarzweißen und unwirklich scheinenden Bilder sind meiner Meinung nach nicht online, aber der Überblick „Alpine Landschaften“ auf Niedermayrs Website zeigt sehr gut die Richtung.

Mich faszinierten außerdem die italienischen Landschaften von Luigi Ghirri, die mich an die französischen Impressionisten, vor allem Cézanne (der gar keiner sein wollte), erinnerten. Die Fotos zeigten klar erkennbar neuzeitliche agrarische Szenen, meist menschenleer, nur Gelände und Gerätschaften, aber ich fühlte mich rein durch die Bildkomposition, aber nicht durch die Farben, um 100 Jahre zurückversetzt.

Das Bild, das uns alle lange beschäftigte, auch weil es so groß war, war „Yayladagi, Turkey“ von Richard Mosse. Es ist hier zu sehen, aber so richtig wirkt es erst, wenn man davor steht. Vermutlich ist auch seine Größe ein Grund dafür, dass ich ewig der Meinung war, dass das ein Komposit ist, nicht nur ein Bild, sondern diverse, die zusammengefügt wurden. Ist es aber angeblich nicht. Was wir auch in der Ausstellung so nebenbei gemerkt haben: Wir trauen Fotos nicht mehr.

Ich hatte ein bisschen Angst, dass die ersten 20 Minuten des Podcasts arg beschreibungslastig sind, weil wir über so viele Werke sprechen. Wir bessern uns aber und kriegen uns auch, wie immer, irgendwann in die Haare.

00.33:50. Der zweite Wein.

00.57:30. Fazit der ersten Ausstellung: drei Daumen nach oben.

00.59:20. Der dritte Wein. Ich prophezeie, am Ende der Aufnahme Fan von Orange Wines geworden zu sein, meckere aber vorsichtshalber erstmal weiter rum.

01.04:30. Die zweite Ausstellung, BODYSCAN, läuft noch bis zum 2. März in der Eres-Stiftung. Das ist ein winziges Untergeschoss in der Nähe des Kurfürstenplatzes, wo man erstaunlich viel Kram unterbringen konnte. Der Untertitel der Ausstellung lautet „Anatomie in Kunst und Wissenschaft“ und genau das ist es dann auch. Wir sehen künstlerische Werke, aber auch Material aus der medizinischen Arbeit, Forschung und Historie. Klingt ein bisschen wie Gruselkabinett auf Knopfdruck, aber ich glaube nicht, dass das der Anspruch war. Was genau der Anspruch war, habe ich allerdings bis zum Schluss nicht verstanden.

Ich wurde während des Rundgangs sehr mit meiner eigenen Körperlichkeit und deren Endlichkeit konfrontiert, und zwar in einem Ausmaß, den ich nicht vorhergesehen hatte. Ich war ebenfalls überrascht davon, welche Ausstellungsstücke mir nahe kommen konnten. So steht man gleich im ersten Raum vor dem abgebildeten Text und dem Video von Allen Ginsbergs „Ballad of the Skeletons“ (1996), lauscht dem Video per Kopfhörer – und direkt neben einem, man kann ihm nicht ausweichen, steht ein echtes männliches Skelett von circa 1900, das als Lehrmodell diente. Ich dachte bis zu diesem Zeitpunkt, dass mir Skelette nichts ausmachen, aber das fand ich nach nicht mal einer Minute so enervierend, neben einem ehemaligen Menschen zu stehen, dass ich das Video nicht zuende schauen konnte und wollte.

Das ist jetzt keine bahnbrechende Entdeckung, wie fragil unser Knochengerüst ist und wie leicht es zerstört werden kann, aber so direkt vor Augen geführt bekommen hatte ich es selten. Die Rippen des Skeletts waren durchtrennt und mit Messingklammern wieder zusammengeflickt worden, und mir kamen sie papierdünn und viel zu fein vor, um einen Mann tragen zu können. Weiter hinten in der Ausstellung hingen zwei überlebensgroße Drucke von 1752, die ein recht gut gelauntes Skelett (ich glaube, teilweise noch mit Muskeln und Organen) zeigten; ein Raum weiter grinste einem ein Skelett von einem Kupferstich von 1747/48 entgegen, und alle waren groß gewachsen, standen gerade und selbstbewusst in der Gegend herum, hatten einen großen Kopf und perfekte Zähne – und dann steht man vor diesem eher jämmerlichen echten Knochenhaufen und weiß, dass das Quatsch ist und dass von uns nur Knöchelchen übrig bleiben, die krumm und schief und voller Fehler sind. (Was irgendwo auch nett zu wissen ist, wenn man sich die ganzen gephotoshoppten perfekten Körper anschaut, die uns in den Medien begegnen, aber das hilft auch nur für fünf Sekunden.)

Ein weiterer Aha-Moment war die Betrachtung von zwei Fotos, einmal von Jeff Wall und einmal von Thomas Struth (hier als Artikelbebilderung zu sehen), auf denen Wunden als Modell nachgebildet wurden bzw. wo ein Mann einen mumifizierten Arm zeichnet. Das sage ich auch sinngemäß im Podcast: Mir ist zum ersten Mal klargeworden, dass ich, solange es Kunst ist, also „Fake“ (vorsichtig formuliert), ein Abbild, ein Foto, ein Gemälde, so ziemlich alles anschauen kann. Sobald ich aber weiß, etwas ist echt, kann oder will ich es nicht mehr sehen. Die innere Schublade „Kunst“ lässt mich vieles ertragen, was die Schublade „Da hat jemand wirklich Schmerzen, da ist jemand gestorben, da geschieht etwas Fürchterliches“ nicht aushaltbar macht.

Das passt dann auch zur nächsten Erkenntnis: meine eigene Schwelle zum Nichtwissenwollen. Man wird gleich am Eingang darauf hingewiesen, dass im allerletzten Raum ein Film läuft, der eine Sektion zeigt. Und ich noch so innerlich, haha, ich gucke seit 15 Staffeln Grey’s Anatomy, ich kann Blut und Innereien total ab, da bin ich ja gespannt, das möchte ich gerne mal sehen. Um die Pointe vorwegzunehmen: Ich habe es keine Minute ausgehalten. Da war auf einmal der Wunsch sehr groß, nicht darüber nachdenken zu müssen, dass wir eben nicht nur aus lächerlich fragilen Knochen bestehen, sondern auch aus Sehnen und Muskeln und Fleisch und Fett, das einem Skalpell so gar nichts entgegenzusetzen hat.

Ich mochte sehr viele Stücke in der Ausstellung gern, viele haben mich zum Nachdenken gebracht, aber mit dieser inneren philosophischen Diskussion über meine Körperlichkeit und wie viel – oder wie wenig? – sie zu meiner Persönlichkeit beiträgt, hätte ich nicht gerechnet.

01.38:50. Fazit der zweiten Ausstellung: Auch den anderen hat es sehr gefallen, auch wenn die Herren nicht ganz so deprimiert aus ihr herauskamen.

01.40:40. Wir lösen die Weine auf. Uns haben alle geschmeckt, auch wenn gerade ich, ähem, am Anfang arg gemeckert habe. Ganz klar vorne war der dritte Wein, dann der zweite, und selbst der letzte Platz ist keiner, weil auch der uns sehr gut gefallen hat.

Wein 1: Johannes Zillinger, Revolution – White Solera, ohne Jahrgang, Cuvée aus Chardonnay, Riesling und Scheurebe, 12,5%, für 12,90 Euro gekauft bei der charmanten Neuentdeckung 225 Liter, Nähe Rosenheimer Platz.

Wein 2: Eschenhof Holzer, Invader (2017), Müller-Thurgau, 12,5%, für 12,90 gekauft bei 8 Green Bottles.

Wein 3: Dario Princic, bianco trebez (2009), Cuvée aus Chardonnay, Sauvignon blanc und Pinot Grigio, 14%, für 29,90 gekauft bei orange-wines.com.

Tagebuch Freitag, 25. Januar 2019 – Anstrengend

Um 5 hellwach gewesen. Das Meeting um 10 ließ mich anscheinend nicht schlafen. Ich diskutierte mit mir, ob ich walken gehen wolle, aber im Dunklen bei minus vier Grad nach draußen zu gehen, lockte mich null. Also las ich, ging irgendwann duschen, kochte Kaffee, ging nochmal meine Notizen durch und machte mich sehr angespannt auf den Weg.

Worum es genau ging, hat hier im Blog nichts zu suchen, aber ich war nach dem Gespräch sowohl erleichtert als auch irgendwie erschlagen; das war eine Welt, die mir fremd ist und mich sehr beunruhigt. (Aber hey, Grüße an den mitlesenden Kollegen!) Nach zwei Stunden hatte ich alles gesagt, was ich sagen wollte und stapfte durch weiter leise fallenden Schnee zur U-Bahn.

Erst dort merkte ich, wie die Anspannung nachließ. Mein Kopf hatte keine Lust auf mein mitgebrachtes Buch, ich fuhr nach Hause, und sobald ich am Schreibtisch saß, um theoretisch diesen Blogeintrag anzufangen, kamen mir die Tränen – aus Anstrengung vermutlich und weil es um mehr ging als Job, Studium, Kram halt.

Deswegen schrieb ich den Eintrag auch nicht, der wird gerade heute morgen getippt. Gestern war ich nur noch zu einem langen Schlaf fähig und abends zu einem (okay, zwei) Whiskys zur Burns Night, den mir, wenn ich mich richtig erinnere, die Fachfrau für Islays @eeek_de mal empfohlen hatte. Das ist vermutlich einer der wenigen Islays, die ich mag; ich hab’s ja nicht so mit Torf, sondern mehr mit dem Highland-Honig. Der zwölfjährige Bunnahabhain riecht nach erdigem Karamell und schmeckt weder nach Rauch noch nach Torf, sondern wie Küste und irgendwann nach Salzzitrone, ist aber nicht frisch, sondern bleibt schmelzig-weich. Tolles Zeug.

Gemeinsam eingeschlafen, ausgelaugt, aber irgendwie erleichtert. Komischer Tag.

Die Musik zum Tag fand ich doof, ich habe lieber aus @gabriel_berlins einer Liste von eins, zwei, drei erneut das Largo aus Randall Thompsons Sinfonie Nr. 2 in e-moll gehört. Das passte gut. (Hatte ich das schon mal im Blog? Ich finde es selbst nicht.)

I’m the heaviest woman to complete a marathon

Dances With Fat ist einer der Accounts, die ich jahrelang verfolgt habe. Seit Essen und Dicksein nichts mehr ist, worüber ich viel nachdenke(n will), gucke ich nur noch selten in ihr Blog. Daher habe ich viel zu spät mitbekommen, dass sie schon im vergangenen Jahr einen Guinness World Record aufgestellt hat als schwerste Frau, die einen Marathon gelaufen ist (nach den Standards dieses Rekordbuchs. Ich bin mir sicher, es gab noch andere dicke Menschen, die derartiges tun). Netterweise beendet sie ihr Essay für ESPN mit dem Hinweis, dass Sport zu treiben, moralisch keinen Deut besser ist als keinen Sport zu treiben.

„I’m often asked if I think everyone should run a marathon. The answer is no. Running — and sports in general — isn’t for everyone, and that’s cool. What I do think, and the reason that I’m on a journey to complete an Ironman, is that whether you want to run a marathon, or knit the world’s largest tea cozy, if there’s an achievement that captivates you, go after it. The bigger or more ridiculous, the better!“

In ihrem neuesten Blogeintrag weist sie ebenfalls auf genau diese Falle hin, diese Dichotomie zwischen „den guten Dicken, die was tun“ und „den schlechten Dicken, die lieber auf der Couch sitzen“. Den Unterschied gibt es bei schlanken Menschen auch, aber das hat es anscheinend keine moralische Komponente. I am Jack’s total lack of surprise.

Die ganzen „Hallo, ich bin xyz und Sie kennen mich von …“-Tweets waren schon nach dem dritten nicht mehr lustig, aber den hier mochte ich doch sehr.

Ein pyramidales Dankeschön …

… an Christin, die mich mit Edgar P. Jacobs Das Geheimnis der großen Pyramide überraschte. Jacobs? Den Namen haben wir doch gerade irgendwo gehört? Ja, hier im Blog, ihr kleinen Racker! Am Sonntag las ich nämlich die Comicbiografie über diesen Zeichner und wollte jetzt natürlich dringend mal was von ihm lesen. Entsetzt stellte ich fest, dass seine Werke weder in der Stadtbücherei noch in den wissenschaftlichen Bibliotheken zu finden waren (hätte ja sein können). Also setzte ich mal einen Band von 1950 aus seiner Reihe mit dem Atomphysiker Mortimer und dem Geheimagenten Blake auf meinen Wunschzettel – und nur vier Tage später liegt er vor mir. Zauberei! Vielen Dank für das Geschenk, ich habe mich sehr gefreut.

Tagebuch Donnerstag, 24. Januar 2019 – Im Stadtmuseum

Irre spät im Bett gewesen, erst gegen eins, aber ich konnte mich nicht von Herrn Zweig lösen. Je länger ich ihn lese, desto mehr fällt mir auf, dass in seiner Welt anscheinend überhaupt keine Frauen existierten. Das irritiert mich mehr und mehr, dass er wirklich nur über Männer und ihre Bücher, Kompositionen, Artikel, politischen Aktionen schreibt. Aus der Wikipedia weiß ich, dass der Mann 1920 heiratete; noch sind wir im Ersten Weltkrieg, also vielleicht ändert sich das nach verdammten 300 Seiten endlich. Schnauf.

Auf meinem Schreibtisch liegt gerade leider gar nichts (total eigennütziger Hinweis auf freie Kapazitäten – hallo, mitlesende Agenturen!). Ich stand trotzdem brav um 7 auf, bastelte mir ein hervorragendes Heißgetränk, bestellte effizient meine digitale Farm, las das Internet quer und fuhr dann mit der U-Bahn zu meiner Hausärztin, um mir ein neues Rezept für meine Standarddrogen zu holen.

Danach spazierte ich in Richtung Ohel-Jakob-Synagoge, über deren Gestalt ich mich immer freue. Über die anscheinend notwendigen Sicherheitspoller allerdings weiterhin überhaupt nicht.

Ich bummelte über den völlig leeren Viktualienmarkt und später über den ebenso leeren Marienplatz. War irgendwas? Wo sind die Touris?

Zwischen Synagoge und Marienplatz kehrte ich aber erst einmal im Münchner Stadtmuseum ein, wo ich mir eine Ausstellung für unseren Podcast ansah, den wir am Samstag aufnehmen wollen. Ich breche hier mal unser ungeschriebenes Gesetz, vorher nicht zu verraten, was wir machen bzw. worüber wir sprechen, aber ich glaube langsam, dass das Blödsinn ist. Also: Wer sich vielleicht bis Sonntag noch die Ausstellung Land_Scope anschauen will, der sollte das tun, dann kann er oder sie uns nämlich Sonntag (oder Montag) wissend zuhören.

Mehr verrate ich allerdings noch nicht; wer wissen möchte, ob es mir gefallen hat, muss noch ein bisschen warten. Ich ahne, dass ich auch diese Verschwiegenheit irgendwann brechen werde.

Nach erledigter Arbeit (ja, das ist für mich Arbeit) ging ich zum Kaufhof am Marienplatz, um mir endlich einen neuen Rucksack zu kaufen. Mein schöner Lederrucksack ist leider völlig runtergerockt und reißt neuerdings auch an einer Naht immer weiter auf. Ich meine, den habe ich mir gekauft, als ich noch festangestellt war, also vor Anfang 2008. Ich finde, er hat eine gute Zeit durchgehalten und darf jetzt erstmal in den Wandschrank. So richtig kaputt ist er nicht, und vielleicht kann ich ihn noch aufhübschen lassen. Aber ich wollte trotzdem wieder einen leichteren Rucksack, und gestern fand ich endlich einen, der mir gefiel und halbwegs bezahlbar war.

Danach spazierte ich zur Stabi, um ein Buch abzugeben. Von dort aus nahm ich dann den Bus nach Hause, genug rumgelaufen. Da bereitete ich mich auf einen Termin vor, den ich heute vormittag habe, und damit war der Tag dann auch schon fast wieder rum.

Die Musik zu den gestrigen Tagen: Für Mittwoch stand Carl Maria von Weber (Augenrollen) auf dem Programm, und dann auch noch ein Klarinettenkonzert (noch mehr Augenrollen). Klarinette ist so ein bisschen mein Hass-Instrument, ich mag den Klang überhaupt nicht, und nach den ersten ach so lustig-hüpfenden Tönen des Allegrettos dachte ich auch nur, ächz, wasn Kack, gleich vorskippen. Aber nein, das tat ich natürlich nicht, den genau das ist ja der Sinn dieses Buchs bzw. dieser Playlist – neue Stücke hören. Also hörte ich weiter zu – und muss leider zugeben, dass mich der olle Weber mit seiner ollen Klarinette und SEINER OLLEN GUTEN LAUNE dann doch irgendwann hatte. Und: Bei 3:30 hört es sich total nach „House of Cards“ an! Aber nur für zehn Sekunden, dann tiriliert wieder dieses blöde Blasinstrument durch die Gegend.

Gestern gab es dann William Byrds Agnus Dei, und da war ich dann doch ein bisschen zickig drauf. Ich mag diese Choräle wirklich gerne, aber jetzt hatte ich doch gerade so gute Klarinettenlaune! Den Übergang fand ich doof. Brav durchgehört, aber mit dem Kopf nicht dabeigewesen. Lieber nochmal die Trauermusik von Hindemith von vor ein paar Tagen angeklickt und mit dramatischen Gesten am Schreibtisch begleitet.

1000 Fragen, 1 bis 20

Da ich gerade nichts Aufregendes zu erzählen habe außer Wetter, Nahrung oder Netflixkonsum, fange ich jetzt auch mal mit den 1000 Fragen an, die seit Monaten in meiner Blognachbarschaft rumfliegen. Ich paraphrasiere Christian: „Die Fragen stammen ursprünglich aus dem Flow-Magazin, Johanna von pink-e-pank.de hat daraus eine persönliche Blog-Challenge gemacht, und Beyhan von my-herzblut.com hat das PDF erstellt.“

1. Wann hast du zuletzt etwas zum ersten Mal gemacht?

Gilt sowas wie die zweite Staffel von Friends from College zu gucken? Das war gestern.

So richtig mit Rausgehen und Dinge erleben: vermutlich Sonntag vor zwei Wochen, als ich, wenn ich mich richtig erinnere, erstmals zur Mittagszeit einem Kammerkonzert lauschte.

In diesem Zusammenhang: Durch Year of Wonder oder andere Klassik-Playlisten höre ich gerade sehr viel unbekannte Musik zum ersten Mal. Gestern zum Beispiel Hindemiths Sinfonie Mathis der Maler, die ich sehr weiterempfehlen kann.

2. Mit wem verstehst du dich am besten?

Mit mir selbst. Ich verbringe auch am liebsten mit mir meine Zeit.

3. Worauf verwendest du viel Zeit?

Schlafen. Schlafen ist super. Ansonsten Broterwerb und Lesen.

4. Über welche Witze kannst du richtig laut lachen?

Über die, auf die ich nicht vorbereitet bin. Wenn ich ein Comedyprogramm gucke, weiß ich ja, was kommt. Aber viele Serien vermögen mich immer noch zu überraschen. Darüber freue ich mich selbst immer sehr, wenn ich gackernd vor dem Laptop sitze, weil ein Witz sprachlich sehr schlau ist und mich daher zum Lachen bringt.

5. Macht es dir etwas aus, wenn du im Beisein von anderen weinen musst?

Kommt drauf an, wo: In der Oper, im Kino, im Privaten – von „Nicht die Bohne“ bis „Wir sind ja unter uns, passt schon, musste wohl raus.“ Wenn es im professionellen Kontext geschieht – total. Ich weine manchmal aus Wut, und das nervt dann sehr. Ist mir aber netterweise schon lange nicht mehr passiert.

6. Woraus besteht dein Frühstück?

Ein großer Flat White. Also eigentlich ein verunglückter Cappuccino.

7. Wem hast du zuletzt einen Kuss gegeben?

Dem Herrn F.

8. In welchem Punkt gleichst du deiner Mutter?

Ich habe es als Kind nie verstanden, dass man aufräumen musste, bevor Besuch kommt. Das verstehe ich inzwischen total. Und ich mag schön gedeckte Tische gerne. Das mochte ich allerdings auch als Kind schon.

9. Was machst du morgens als Erstes?

Auf dem Weg zur Toilette alle Fenster groß aufreißen und die Espressomaschine anschalten, damit die Diva eine halbe Stunde lang aufheizen und ich mir einen verunglückten Cappuccino herstellen kann.

10. Kannst du gut vorlesen?

Ich glaube nicht. Dauert mir zu lange, still lesen geht schneller. Wenn ich an der Uni für Referate Zitate vorlesen musste, habe ich gemerkt, seltsam außer Atem zu kommen beim Vorlesen. Keine Ahnung, wie Schauspieler*innen das mit ihrem Text hinkriegen. Und Musical-Sänger*innen erst! Oh, ich bin abgeschweift. Atmen beim Singen und Rumlaufen! Große Hochachtung.

11. Bis zu welchem Alter hast du an den Weihnachtsmann geglaubt?

Ich kann mich nicht erinnern, überhaupt an ihn geglaubt zu haben. Habe ich wahrscheinlich, aber ich weiß es wirklich nicht mehr. Ich wusste schon recht früh, dass die ganzen Bücher und Barbies von Omi waren.

12. Was möchtest du dir unbedingt irgendwann einmal kaufen?

Eine Küche, die genau so eingerichtet ist, wie ich sie haben will. Eventuell müsste ich dafür noch eine Wohnung oder ein Haus drumherum kaufen, und da stößt der Plan dann relativ schnell mit der Wirklichkeit zusammen.

Ansonsten hätte ich gerne noch etwas mehr Kunst an den Wänden und da habe ich auch schon etwas im Kopf, aber das ist gerade nicht bezahlbar.

13. Welche Charaktereigenschaft hättest du gerne?

Geduld.

14. Was ist deine Lieblingssendung im Fernsehen?

Ich habe keinen Fernseher und auf dem Laptop keine Lieblingssendung. Welche Serien ich allerdings schon gefühlt zwanzigmal gesehen habe: Friends und The West Wing.

15. Wann bist du zuletzt in einem Vergnügungspark gewesen?

Das müsste mindestens 25 Jahre her sein. Ich erinnere mich daran, im Heidepark Soltau die Person gewesen zu sein, die die Rucksäcke der anderen hielt, während diese Achterbahn fuhren. Das habe ich zweimal versucht, und das reichte für immer.

16. Wie alt möchtest du gern werden?

So alt wie’s nur geht und die Gesundheit mitspielt. Ich möchte noch so viele Bücher durchlesen! Und neue Musik hören! Und endlich wissen, wie Flat White geht!

17. An welchen Urlaub denkst du mit Wehmut zurück?

Aus verschiedenen Gründen: Indiana vor 20 Jahren (Menschen, die ich vermisse, die aber nicht mehr da sind) und Wien vor drei Monaten (hat mehr im Kopf angestoßen als ich erwartet hatte. Grummelt immer noch).

18. Wie fühlt sich Liebeskummer für dich an?

Wie Bauchschmerzen, die nicht weggehen, ganz egal wieviel Alkohol man draufkippt. Wie zwei Schritte vor, drei zurück, und du kannst nichts dagegen machen. Und immer, wenn man denkt, jetzt ist es besser, tut es wieder weh. Wenn man das allerdings einmal hinter sich gebracht hat, weiß man beim nächsten Mal, dass es irgendwann aufhört. Nur eben nicht jetzt, jetzt wird es nur kurz besser und tut dann wieder weh. Aber vielleicht bald. Nochmal drei Schritte zurück und einen billigen Weißwein. Vielleicht wieder mit dem Rauchen anfangen?

Anders ausgedrückt: Liebeskummer ist einfach nur irre anstrengend.

19. Hättest du lieber einen anderen Namen?

Als Kind wollte ich Nicole heißen, weil ich das C so schick fand. Heute kann ich mit Anke gut leben, weil es nicht so irre viele von uns in meiner Generation gibt. Nach uns vermutlich noch weniger; ich glaube, der Name war nie wirklich modern.

20. Bei welcher Gelegenheit hast du an dir selbst gezweifelt?

Ich zweifele gerne dauernd an mir rum, seltsamerweise vor allem bei Dingen, die ich eigentlich gut kann, weil ich die eben richtig gut machen will. Es wird im Alter aber besser, weil man irgendwann kapiert, dass alle anderen auch nicht so wahnsinnig gescheit sind.

Tagebuch Dienstag, 22. Januar 2019 – Days of Wonder und Nervscheiß

Den Vormittag über war ich mit einem etwas überraschenden Telefonat beschäftigt bzw. mit dessen Inhalt, der dafür sorgte, dass ich stundenlang in alten Blogeinträgen und Mails wühlte und mal wieder mit Kai als meinem Webhoster telefonieren konnte. Der Anlass war zwar doof, aber das war trotzdem nett. Und ich habe viel über die WordPress-Oberfläche gelernt. Trotzdem gnarg. Den ganzen Tag schlechte Laune gehabt.

Mein Frühstück war dementsprechend schon mein Mittagessen, weil ich halt ewig in Mails wühlen musste, aber Müsli geht ja immer. Viel Tee und Zeitunglesen dazu.

Der kleine musikalische Kick vom Montagabend begleitete mich dann den Rest des Tages so nebenher, ich lauschte immer mal wieder in Year of Wonder rein, das ich ein paar Tage vernachlässigt hatte, weil ich lieber Martinů am Stück hören wollte und keinen Kleinkram.

Gelernt:

– Das Oboensolo im Oboenkonzert in D-Dur, op. 9, no. 2 von Tomaso Albinoni ist das erste der Musikgeschichte.

– Rainer Maria Rilke hat auch auf Französisch gedichtet (und ist vertont worden). Ihr wusstet das bestimmt alle; ich habe ihn immer als rein deutschsprachigen Autoren wahrgenommen.

Steve Reich ist großartig. Okay, das wusste ich schon vorher, immerhin das haben die Kölner Deppen hingekriegt. Burton-Hill schreibt ganz simpel und ganz richtig zu seinem Electric Counterpoint 1: Fast: „And when it comes to those mesmerizing patterns that develop and build in our ear, he’s walking a direct line from J. S. Bach.“

(Darf ich hier kurz einschieben, wie toll der Übergang in der Playlist von minimalistischer E-Gitarre zu klassischem Sopran ist? Denn der kam jetzt:)

– „Du holde Kunst, in wieviel grauen Stunden,
Wo mich des Lebens wilder Kreis umstrickt,
Hast du mein Herz zu warmer Lieb’ entzunden,
Hast mich in eine beßre Welt entrückt,
In eine beßre Welt entrückt!

Oft hat ein Seufzer, deiner Harf’ entflossen,
Ein süßer, heiliger Akkord von dir,
Den Himmel beßrer Zeiten mir erschlossen,
Du holde Kunst, ich danke dir dafür,
Du holde Kunst, ich danke dir!“

Einziger Kommentar von Burton-Hill dazu: „Yep. That’s it.“

Paul Hindemith komponierte seine Trauermusik von 11 Uhr morgens bis 5 Uhr nachmittags am 21. Januar 1936. Eigentlich hätte er am 22. Januar sein neues Bratschenkonzert in London aufführen sollen, aber dummerweise starb König Georg V. am 20. Januar. Und weil Hindemith schon mal da war, sollte er halt was Hübsches schreiben, was dieses Ereignis reflektierte. Was er tat, woraufhin dann ein Orchester das Stück live in einem BBC-Radiostudio vom Blatt spielte, ohne es jemals vorher geprobt zu haben. „Pretty impressive stuff.“

Überhaupt: Hindemith! Den hatte ich ja auch noch gar nicht auf dem Schirm. Das Stück gefällt mir außerordentlich gut. Erinnerte mich etwas an, ähem, Martinů. Weniger dramatische Dur-Akkorde, aber nah dran. Und jemand, der Dinge komponiert wie „Ouvertüre zum „Fliegenden Holländer“, wie sie eine schlechte Kurkapelle morgens um 7 am Brunnen vom Blatt spielt“ (1925) hat eh gewonnen.

– Schostakowitsch schrieb nach Lady Macbeth von Mzensk (1930–32) keine Oper mehr. Gut, dass ich sie gesehen habe.

Abends war ich gerade mit dem Essen fertig, als F. noch vorbeischaute – und sobald er die Wohnung betreten hatte, war ich zwei Stunden lang mit Niesen und Augenreiben und Taschentuchsuchen beschäftigt. Ich hoffe, der Mann hat in der U-Bahn neben jemandem gestanden, der 17 Katzen hat. Nicht, dass ich jetzt auf einmal gegen Kreuzkümmel, Zitronen oder Reis allergisch werde. (MUNCH-EMOJI!)

Tagebuch Montag, 21. Januar 2019 – Moana und Don Quijote

Gestern war ich ausnahmsweise sehr dankbar dafür, dass niemand was von mir wollte. Ich war schon um fünf Uhr wach, warum auch immer, habe dann den Himmel über München nach dem roten Mond abgesucht, ihn aber nicht gesehen. Gegen sechs bin ich wieder weggedöst und um acht dann aufgestanden. Vom Bett schleppte ich mich matschig zur Dusche und von da aus, nach einem Umweg über Küche, Teekochen, Honigbrot schmieren, aufs Sofa, wo ich dann fast den ganzen Tag blieb, immer mit der Wärmflasche auf dem nervenden Uterus.

Über einen Tweet war ich in den vergangenen Tagen auf dem Blog von Nicole gelandet, wegen dieses Artikels über die unsägliche Kolumne von Fleischhauer auf Spon mit dem total cleveren (aka Arschloch-)Titel „Nazis rein“, ja, ich weiß, nicht mal ignorieren, aber trotzdem:

„Nazis raus, bitte. Aus der Gesellschaft. Geächtet, raus aus Funktionen, aus Behörden, aus dem Betrieb, aus sozialen Netzwerken, aus der Uni, aus der Öffentlichkeit. Kein Fußbreit. Dass wir darüber überhaupt reden müssen. Dass jemand „Nazis rein“ schreiben kann, dass jemand das liest und sagt, ist okay, drucken wir so. Selbst wenn Fleischhauer die Headline nicht selbst geschrieben hätte, aber in dem Fall trau ich ihm das zu, ist ja elemtentarer Teil seiner These – ich meine, dass niemand ihn geohrfeigt hat, stattdessen? Dass niemand die Person geohrfeigt hat, die das durchgehen ließ?“

Dann las ich mich fest und stieß auf ihren Eintrag über Moana (Vaiana). Stimmt, den hatte ich auch noch nicht gesehen, danke, Netflix. Der war hübsch, und ich hatte sofort einen Ohrwurm, logisch.

Wo ich schon mal auf Netflix war, guckte ich gleich Grace & Frankie weiter, wo Martin Sheen in seiner Theatergruppe den Don Quijote singen will, wovon ich natürlich auch wieder einen Ohrwurm hatte.

Abends ging es mir dann endlich wieder besser, die Matschigkeit war weg, und ich setzte mich an den Schreibtisch, drehte den Moana-Soundtrack auf und sang mal wieder und davon, dass

„The people you love will change you
The things you have learned will guide you
And nothing on earth can silence
The quiet voice still inside you“

Dann sang ich vom unreachable star. Und dann holte ich meine alten Gesangsnoten wieder raus and sang what I did for love, of the Moon River, that I was losing my mind and that I should never give all the heart und das tat alles so, so gut.

Gestern retweetete @LauraReinkens einen Thread des australischen Sportjournalisten Nathan Patrick, dessen Eltern sich nicht für Fußball interessieren und gerade in der Nähe von Manchester in einem Zug saßen. Ich habe den Thread im Laufe des Tages ungefähr zwanzigmal gelesen und musste jedesmal wieder lachen, vor allem über die fassungslosen Großbuchstaben.

Das Lustige daran ist nicht, dass Nates Eltern einen Fußballer nicht erkennen, sondern dessen völlig entgeisterte Reaktion darauf (Hinweis: Es ist halt nicht irgendein Fußballer). Trotzdem kann ich die Eltern völlig verstehen: Ich würde vermutlich nicht mal alle Spieler vom FC Augsburg wiedererkennen. Und auch nicht alle des Weltmeisters aus Frankreich. Ganz zu schweigen von Footballstars aus den USA, die ich, wenn überhaupt, nur mit Helm kenne. Ich fand es schlicht erfrischend zu lesen, dass der Lebensinhalt einer Person einer anderen völlig egal ist. Und die Bezeichnung „adorable muppets“ übernehme ich ab sofort in meinen Sprachschatz.

Außerdem habe ich dem Sushikoch Nozomu Abe von Sushi Noz in New York sehr gerne bei der Arbeit zugeschaut.

Wer keine Lust mehr hat, sich der Welt nur durch die Augen von männlichen Künstlern zu nähern, hat jetzt mit DieKanon eine sehr gute Alternative. Sibylle Berg schreibt zur Einführung folgendes; den meiner Meinung nach wichtigsten Satz habe ich mal gefettet:

„Es ist menschlich, sich an dem zu orientieren, was vertraut scheint, nachvollziehbar, dass alle Kanons der letzten Jahrzehnte und die darin enthaltenen Namen aus Kunst und Wissenschaft vornehmlich das gleiche Geschlecht hatten wie die Verfasser der sorgsam erstellten Listen. Die Einordnung, also immer auch ein wenig Aneignung, der Welt durch Männer ist lobenswert, jedoch – überholt. Nach Hunderten von Jahren, nach Tausenden empfohlener Werke, Gedanken und Schriften können wir heute zu dem Schluss kommen, dass das Experiment, die Welt durch Zuhilfenahme von Ordnungssystemen die vornehmlich männliche Geistesgrössen auflisten, zu einem freundlicheren und erfreulicheren Ort zu machen, fehl schlug. Denn trotz dieser ohne jeden Zweifel trefflichen Werklisten ist es nicht so, dass der Mensch sich vehement weiterentwickelt hätte.

Darum ist es Zeit für eine neue Liste, die wir nach intensiven Studien der Lehrpläne und Feuilletons, in denen wir kaum einen der aufgeführten Namen gefunden haben, erstellt haben: Neue Namen mit Ideen und der Kompetenz, die vielleicht etwas zu einem freundlicheren Miteinander in der Welt beitragen können. Oder die auch einfach nur für mindestens die Hälfte der Bevölkerung etwas mehr Relevanz haben. Unser Kanon, um dieses weihevolle Wort zu verwenden, ist unvollständig und subjektiv, wie diese Auflistungen immer sind, aber es ist ein Anfang.“