„Erosion der inneren Wertorientierung“

Die FAZ bzw. der von ihr befragte Chefarzt der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik im Diakoniewerk Halle (puh), Hans-Joachim Maaz, versteigt sich zu einer gewagten Theorie: Man könne es der DDR anlasten, dass die zurzeit in den Schlagzeilen vorkommende Mutter aus Brandenburg neun ihrer Kinder direkt nach der Geburt umgebracht habe.

Zwar kann man keine Häufung an Kindstötungen in den neuen Bundesländern im Vergleich zu den alten feststellen, aber anscheinend reicht schon eine DDR-Biografie, um potenziell zur Kindsmörderin bzw. zum Komplizen zu werden. Zitat aus dem Artikel aus der gestrigen FAZ, leider nicht online:

„Wir erleben sehr oft, dass strukturschwache Menschen, die im strikt strukturierten DDR-Staat weitgehend unauffällig waren, mit der Wende und der Notwendigkeit, selbst aktiv zu sein, in eine tiefe Krise mit Panik, Angst, Depressionen und Resignation gestürzt sind.“ Für diese Leute sei Pluralismus eine Bedrohung. Hinzu komme die von der SED mit großem Erfolg vorangetriebene Entkirchlichung und Entchristlichung der DDR-Gesellschaft. Wer eine innere Wertorientierung aufgrund familiärer oder sozialer Bedingungen nicht habe, brauche ein Leben lang äußere Wertvermittlung. „Das Problem des Autoritarismus im Osten ist längst noch nicht überwunden. Nein, wir haben noch nicht einmal erfasst, wie viele Menschen das Bedürfnis haben, geführt zu werden.“

Mal abgesehen davon, dass ich es für eine recht billige Ausrede halten würde, vor Gericht als Verteidigung anzuführen: Ich habe vom Pluralismus Depressionen bekommen und musste daher meine Kinder umbringen, finde ich die These ziemlich an den Haaren herbeigezogen. Problematische Umfelder gibt es nicht nur im Osten Deutschlands; ich muss mich ja nur in der reichen Stadt Hamburg umgucken, um strukturschwache Stadtviertel zu entdecken, in denen Kinder zu Tode kommen, wie gerade erst vor einigen Monaten zu lesen war.

Ich versuche mir mal vorzustellen, wie es sich anfühlt, wenn das Heimatland plötzlich nicht mehr existiert. Im besten Falle fühlt es sich vielleicht an wie ein Umzug in ein anderes Land, in dem man niemanden kennt und in dem man sich selbst zurechtfinden muss. Es fängt bei Kleinigkeiten an wie: die elektrischen Anschlüsse haben eine andere Spannung, und wieviel Porto kommt hier eigentlich auf einen Brief, und geht bei persönlichen Erinnerungen weiter: Was haben die Kinder hier im Fernsehen gesehen, worüber sie noch nach 20 Jahren lachen können, was oder wer ist hier im kollektiven Gedächtnis verankert, was macht dieses Land aus, wie kleiden sich die Menschen, was muss ich tun, um mich zu integrieren? Ich ahne, dass dieses neue Land teilweise sehr spannend ist, teilweise aber auch beängstigend in seiner Neuigkeit. Es liegt an mir und meiner persönlichen Grundkonstitution, was ich daraus mache. Wie gehe ich sonst mit Neuerungen um? Mit neuen Kollegen, unbekannten Orten, technischen Geräten, die ich nicht kenne? Hat es etwas damit zu tun, ob ich in einem autoritären Staat aufgewachsen bin, wie ich mit neuen Kollegen umgehe? Ist es jetzt typisch Wessi, wenn ich hoffe, dass dem nicht so ist? War man in der DDR generell misstrauisch, wenn unbekannte Gesichter in der Mittagspause auftauchten? Stand erstmal jedem „Stasi?“ auf der Stirn geschrieben? Traue ich mich nicht, in einem fremden Lokal nach dem Kellner zu rufen, weil die SED meine Regierungspartei war? Lasse ich per se die Finger von einem neuen Radio, bei dem die Bedienungsanleitung fehlt, wenn ich ein Pionier-Halstuch getragen habe? Bin ich bei jedem Aspekt meines privaten Lebens auf jemanden angewiesen, der mir sagt, was ich tun oder denken soll, „nur“ weil es in der politischen Öffentlichkeit meines Landes so ist? Wird man zwangsläufig unselbständig, weil der Staat einen gerne so hätte?

Ich muss gestehen, ich kann diese Fragen nicht beantworten, weil ich in der Bundesrepublik aufgewachsen bin. Ich behaupte aber mal, dass die im Artikel angesprochene „Entkirchlichung“ und „Entchristlichung“ im Westen ähnlich verlaufen ist wie im Osten Deutschlands. Natürlich schreiben sich hier die meisten Politiker noch auf die Fahne, christliche Werte zu vermitteln, und wir haben in der Schule (noch?) Religionsunterricht, aber mal ehrlich: Gehen im Westen wirklich signifikant mehr Menschen in die Kirche als im Osten? Glauben im Osten so viel weniger Menschen an Gott als im Westen? Und selbst, wenn ja: Bedeutet das automatisch eine höhere Akzeptanz von Gewalt, vielleicht sogar Mord, in der Gesellschaft? Wohl kaum. Und soweit ich mich erinnere, ging die Demokratiebewegung in der DDR auch von den Kirchen aus (nicht nur, aber auch), was für mich heißt, dass es durchaus eine Menge Menschen gab, die um gewisse Werte wussten. Außerdem glaube ich, dass, auch wenn die DDR keine offensichtlich christlichen Normen vermitteln wollte, der Staat doch durchaus das Ideal eines halbwegs friedlichen Miteinanders transportiert hat – zumindest öffentlich.

Ich kann mir vorstellen, dass eine offen aggressive oder menschenverachtende Staatsform bzw. Politik sicher Spuren bei seinen Bürgern hinterlässt, die eine derartige seelische Verrohung, die für einen neunfachen Mord nötig ist, fast verständlich machen. Aber kann man die DDR in eine Reihe stellen mit (jetzt ganz vorsichtig) z.B. Nazi-Deutschland, das ja offen den Krieg mit den „Untermenschen“ propagiert hat oder der Sowjetunion unter Stalin, Ruanda zurzeit des Hutu-Genozids usw.? Ich meine nicht.

Auch zur Mitwisserschaft der Kindstötungen bzw. zum Leugnen derselben hat Maaz übrigens eine Theorie:

„Wir kennen das Wegschauen oder Bagatellisieren als weitverbreiteten seelischen Abwehrvorgang von Leuten, die Dinge in sich tragen, die sie selbst nicht mehr wahrhaben wollen.“

Ja, kann ich nachvollziehen. Aber den folgenden Absatz nicht mehr:

Diese Personen seien sozusagen konditioniert aufs Verleugnen. Maaz sieht wiederum gesellschaftlichen Einfluss: „Das muss man der DDR anlasten. Die ganze Wahrheit über das Regime oder über Andersdenkende war tabuisiert oder bei Strafe verboten. Von daher ist die Verleugnung auch eine gesellschaftlich unterstützte und eingeübte Abwehr.“

lest mehr bücher
trinkt mehr milch

Lazing on a FridaySaturdaySunday afternoon

Sich beim nächtlichen Gewitter aus Schreck ans Brusthaar vom Kerl flüchten. Irgendwo im Unterbewusstsein fürchterlich glücklich darüber sein, sich an Brusthaare flüchten zu können, wo man früher nur mit dem Teddy tiefer unter die Bettdecke gekrochen ist. Sich eingestehen, dass man sich bei Blitz und Donner fürchtet und sich daran erinnern, mal darüber nachgedacht zu haben, bei Gewittern im Auto schlafen zu wollen. Physikunterricht verfluchen.

Erdnussbutter mit Himbeergelee auf fluffigem Weißbrot. Das Gefühl genießen, wenn die Masse am Gaumen kleben bleibt und sich beim Zungenschnalzen wieder löst.

Sich aufs Babysitten des Patenkindes freuen. Sich ebenso darauf freuen, nach ein paar Stunden wieder kinderlos zu sein.

Den Brombeeren, die überraschend auf der Terasse aufgetaucht sind („Waren die letztes Jahr auch schon da? Nee, oder?“), beim Wachsen zugucken.

Another new kid on the blog: religionsfreiheit ist ein Gemeinschaftsblog und irgendwie noch im Entstehungsprozess. Ausgangspunkt war bei Chuzpe, mehr Infos gibt’s auf der dunklen Seite.

„Nicht die Schönheit entscheidet, wen wir lieben, sondern die Liebe entscheidet, wen wir schön finden.“

Viktor de Kowa

Bloggen für Geld

Elke nimmt am 5. Blogathon teil und bloggt am kommenden Samstag 24 Stunden lang jede halbe Stunde. Wer sie und damit Heifer International unterstützen möchte, kann sich hier registrieren und sich hier auf Elkes Spendenliste setzen lassen.

He said, she said

„Das klingt alles ziemlich lustig, aber stellt Euch einfach vor, Eure Oma oder Mutter säße im Firmenmeeting. Und zwar nicht nur einmal, sondern immer. Mit Mitspracherecht. Da möchte man schreiend rauslaufen und brüllen, daß man so nicht arbeiten kann.“

(Andrea Diener über Seniorenstudenten)

„Ich (damals): Zynisch? Heißt das, ich scheitere zwischendurch, finde mich dann damit nicht zurecht, und versuche das alles via schrecklichem Humor zu kompensieren? Das klingt aber traurig! So will ich nicht werden!“

(Der 30jährige shhhh in einem Interview, das er mit seinem 20jährigen Ich geführt hat)

„ich überlegte weiter, was passieren könnte, als ich die ewig lange hauptstrasse zurück fahre. es könnte dieser bordstein sein, den ich immer ungern hochfahre, weil er eben verdammt hoch ist, oder einer dieser schweren abschleppwagen, die immer zu schnell fahren. oder ein später UPS wagen, der fahrer in feierabendmission, die familie wartet mit spinatnudeln zu hause, er nimmt die ampel in dunkelgelb, wer weiß. und was würde ich denken, in diesem moment ? wenn es der bordstein wäre, würde ich vielleicht zeitgleich mit dem knack meiner schädeldecke “scheiße” denken, oder was völlig unpassendes wie schneider wibbel, köttbullar, herd aus ? und dann ?“

Lu fragt sich, wie lange Schnecken zum Sterben brauchen, wenn sie ihr Haus verloren haben .

„Die Rechtschreibreform ist das Dosenpfand der Germanistik.“

Der Spiegel über die … äh … Rechtschreibreform, die anscheinend das Dosenpfand der Germanistik ist (Artikel leider nicht online).

Slowing down

Probehalber dann doch mal das verteufelte RSS-Dingensda ausprobieren. Nach drei Wochen wieder die Finger davon lassen. Lieber die eigenen Bookmarks absurfen oder sich durch fremde Blogrolls hangeln als alle 20 Minuten nachgucken, ob irgendwo was Neues ist. Eigene Geschwindigkeit des Lesens. Selber Dinge finden anstatt sie finden zu lassen.

Die Liebe zu Papier wiederentdecken. Der Spiegel ist sowieso immer im Rucksack. Neuerdings gesellt sich die FAZ dazu und die FAS. Sich seltsam sentimental zuhause fühlen in der alten Rechtschreibung. Wie alte Fotos angucken oder Weihnachslieder singen. SpOn seltener anklicken. Salon wird weiter gerne und abgöttisch verehrt und verschlungen. Aber nicht gleich morgens, sobald der Rechner an ist. Erst nach der Zeitungslektüre.

Ausgiebig kochen. Auch wenn der Tag lang war, nach dem Tag noch frisch einkaufen und frisch zubereiten. Geschmack wiederfinden, der schon längst von Fertiggerichten überdeckt worden schien. Kräuter auf der Fensterbank züchten, die man nur aus Streudosen kannte. Dauert länger. Schmeckt aber auch länger.

Spazierengehen. Immer noch gerne mit dem Auto durch die Gegend fahren und den Fluss der Bewegung genießen. Inzwischen aber auch die Wege durch Hamburg zu Fuß erkunden. Merken, dass Brennnesseln nach dem Regen wie Waldmeister duften. Das frische Holz an Baustellenabsperrungen überdeckt den Asphaltgeruch. Auf der Lieblingsstrecke die Grünphasen der Fußgängerampeln besser kennen als die der Autoampeln. Einen Laden für Bonsais entdecken, einen anderen, der Lampen und Diaprojektoren aus den 70er Jahren verkauft. Ein kleines Büro im Souterrain wird auch am Wochenende von eifrigen Designern an leuchtenden Computern bevölkert. Der Dönerladen daneben hat anscheinend immer geöffnet.

Pseudoshoppen. Durch Hamburgs Passagen gehen und in Imbisse reinschnuppern, in Bagelläden und Chinamänner. Im Kopf die ganze Speisekarte genießen und weitergehen. An Klamotten entlangstreicheln, ohne sie anzuprobieren, dutzende von Duftstreifen proberiechen, ohne sich für ein Parfum zu entscheiden, in CDs reinhören, ohne sie mitzunehmen.

Die Welt vor der Tür lassen. Den Bücherstapel auf Nacht- und Schreibtisch niedriger lesen. Überhaupt: mehr lesen, weniger Kino. Mehr Bücher, weniger DVDs. Aber auch: weniger Weblogs, weniger iPod, weniger Summen im Hintergrund, weniger Geflacker. Leiser tippen.

50 Jahre Karmann Ghia

Im AutoMuseum Wolfsburg findet noch bis Ende September eine Ausstellung zum knuffigen Hausfrauenporsche statt. Diese Formulierung, für die mich sämtliche Fanclubs des Autos steinigen werden, habe ich übrigens aus einer Sendung des NDR, der am vorvergangenen Wochenende über das privat organisierte 50-Jahre-Treffen in Georgsmarienhütte berichtete, zu dem sich über 500 Karmann Ghias aus aller Welt eingefunden hatten. Ich fand den Bericht (leider nicht online) aus zweierlei Hinsicht sehr spannend: Erstens hatten sie einen der Konstrukteure von damals da, der mit leuchtenden Augen zwischen seinen ganzen blitzblank polierten Babys stand und von den unvergleichlichen Linien schwärmte, die heute ja gar nicht mehr so umgesetzt werden könnten wegen Frontantrieb und ähnlichem. Es war sehr schön, ihm dabei zuzusehen, wie er gerührt war von den ganzen Fans, die das Auto auch noch nach 50 Jahren so gerne mögen wie er damals.

Und zweitens habe ich die ganze Zeit nach meiner Schwester Ausschau gehalten, die selbst einen Karmann in der Garage hat, mit dem sie gnadenlos zu weißdergeierwievielen Fanclub-Treffen fährt, auch wenn es Stunden und Tage dauert. Ihrer ist von 1969, unrestauriert (mir wurde aufgetragen, das zu schreiben) und hat eine Sonderlackierung, die selbst VW auf Nachfrage nicht benennen konnte. Mein Schwesterherz sagt „milchkaffeebraun“ dazu. Das „unrestauriert“ kann nach dem Treffen leider nicht mehr stehen bleiben, denn zehn Kilometer vor Georgsmarienhütte erlitt Schwesterchens Schatz einen Steinschlag und eine dementsprechend zersplitterte Frontscheibe. Wie gut, dass sie gerade auf dem Weg zu einem Treffen mit hunderten von Gleichgesinnten war, denn so fand sich ziemlich schnell jemand, der eine Ersatzscheibe besorgen und auch gleich einbauen konnte. Meine Schwester trauert dennoch der alten Scheibe hinterher, denn die zierten noch ein ADAC- und ein Teroson-Aufkleber von 1969.

(Edit: Meine Schwester hat mir gerade gemailt, dass ihr Wagen immer noch als unrestauriert gilt. Und sie bedankt sich nochmals beim Göttinger Händler Lars Neuffer für die neue Scheibe und die schnelle Hilfe. Reklame-Modus off.)

(Und wenn ich groß bin bzw. mir einen zweiten Tiefgaragenplatz leisten kann bzw. es genügend Parkplätze für sechs Meter lange Autos in der Hamburger Innenstadt gibt, kaufe ich mir auch einen Oldtimer. Allerdings einen amerikanischen. Quod erat expectandum.)

V

Der Trailer für V for Vendetta lässt sich ganz gut an. Ich lese gerade auf Befehl vom Kerl den Comic, damit ich in der Kritik großkotzig „Ist nicht so gut wie die Vorlage“ nölen kann.

(Mach ich doch nie.)

(Öhm.)

Radio Eriwan will wissen:

Ich habe mir am Wochenende die komplette erste Staffel von Frasier gegönnt. Die Serie ist auf Deutsch völlig an mir vorbeigegangen, was auch daran gelegen haben kann, dass ich Cheers nicht wirklich mochte. Frasier finde ich arg normal und sehr nach Sitcom-Baukasten geschrieben, aber trotzdem unterhaltsam. Was mir allerdings aufgefallen ist: Die ganzen Anrufer ins Frasiers Radioshow sind namhafte bis halbwegs namhafte Promis. Ich nehme an, diese nette kleine Nebenbei-Idee ist in der deutschen Übersetzung gnadenlos unter den Tisch gefallen, oder? Anyone?

(Noch 13 Tage, bis die vierte Staffel von 24 erscheint.)

Lesung

Jürgen Albertsen liest im Rahmen der Raumwandler-Lesungen in München am 31. Juli.

Qvest reborn

Wie sagte die FAZ gestern so schön: Gutes kommt wieder. Qvest erscheint nach einem Jahr Zwangspause erneut, optisch etwas gewandelt, inhaltlich angeblich noch besser. Order it – very soon, wie die Website verspricht.

Mich! Mich! Mich!

Gefakte Wahlplakate auf Initiative von Cicero (via Ivy) und echte Wahlplakate aus den letzten 50 Jahren (via Dahlmann).

1,5

Anke: Woher wissen deine Haare eigentlich, dass sie sich locken sollen?

Kerl: In jeder meiner Extremitäten steckt unglaubliche Intelligenz.

(Alles Liebe zum Anderthalbjährigen, allerliebster Lieblingskerl von allen Kerlen dieser Welt, auch wenn du auf meinen Glückwunsch heute morgen nur mit einem brummigen „Hm? Was? Achjarrrzzzz“ reagiert hast. Gefährlich ist’s, den Kerl zu wecken.)