Cara Amiga (2)

Kleiner Nachtrag zu diesem Eintrag: leise hat mir netterweise auf die Sprünge geholfen. Das Spiel, nach dem ich gesucht habe, heißt peinlicherweise Extase, und wie ich schon im Kommentar zum Ursprungspost geschrieben habe, bin ich im Nachhinein sehr froh, nicht viele Level geschafft zu haben. Wer weiß, was da noch gekommen (haha) wäre. Außerdem hat mir der freundliche Helfer noch per Mail mitgeteilt, wo ich das Spielchen bekommen könnte. Der Download dort hat auch wunderbar geklappt. Nun fehlt mir zu meinem totalen, unglaublichen, uneingeschränkten Vergangenheitsflashback nur noch ein kleiner Emulator, den ich trotz Kerl’scher Hilfe, der bei diesem komischen Internetdingens besser Bescheid weiß als ich, nicht gefunden habe.

Also mal wieder der Hilferuf in Richtung allerliebste Leser: Ich suche einen Emulator für Amiga für meinen schönen Mac, auf dem irgendein OS X läuft (nicht Tiger, falls das irgendwie wichtig ist). Soweit ich den Kerl verstanden habe, müsste ich das Betriebssystem des Amiga wissen, was ich natürlich nicht weiß. Aber vielleicht hab ich mir da auch Blödsinn gemerkt. Any idea, dear reader?

(Love you all. But you know that, don’t you?)

„Hier möchte Ihnen jemand eine Freude machen“

Hat funktioniert. Vielen Dank an Sascha unbekannterweise für Phantomschmerz von Arnon Grünberg von meinem geliebten Wunschzettel. Und das so völlig ohne Grund – kein Geburtstag, nix Weihnachten … hat mich sehr gefreut.

(Wenn du ein Weblog hast, hinterlass’ es doch bitte in den Kommentaren – dein Name hat mir leider nichts gesagt.)

Letzter Bayreuth-Eintrag vor der Autobahn

Vor den beiden Opern haben meine Mama und ich uns traditionell den Einführungsvortrag zur jeweiligen Aufführung gegeben. Ich war das letzte Mal vor über zehn Jahren in Bayreuth; damals saß Erich Rappl in irgendeiner Schulaula und erklärte anhand der Leitmotive das jeweilige Stück (eine Art Zusammenschnitt seiner Vorträge ist als Buch erhältlich und auch sehr empfehlenswert).

Inzwischen haben andere sein Erbe angetreten, darunter Stefan Mickisch, der sich Wagner über die Tonarten nähert und nebenbei eine Ecke unterhaltsamer, aber nicht weniger fundiert vorträgt als Rappl. So habe ich zum Beispiel gelernt, dass h-Moll die Tonart ist, in der sich die Wagner’schen Dämonen wohlfühlen (Klingsor aus Parsifal oder die Walküren und Alberich aus dem Ring) oder dass E-Dur die Tonart der Liebenden ist (natürlich Tristan und Isolde, aber auch Elsa und Lohengrin, Senta und der Holländer oder Brünnhilde und Wotan, kurz bevor er sie im Flammenmeer einschließt; das Motiv des Feuerfelsen ist übrigens als einzelner, kurzer Akkord im Liebestod der Isolde zu hören). Weiterhin fand ich interessant, dass der Speer im Parsifal durch eine gerade, aufsteigende Tonfolge symbolisiert wird, der Speer von Wotan im Ring aber durch eine gerade, absteigende. Die aufsteigende Folge bedeutet Erlösung und Verzeihen, die Tonfolge nach unten bekräftigt die Bedeutung des Bundes, den Wotan eingeht. Ebenso spannend: Im Schlussakkord des Tristan fehlt als einziges Instrument das Englisch Horn. Und zwar deshalb, weil es im Laufe der Oper stets das Instrument der Sehnsucht war. Die hat sich mit dem Tod der beiden Helden erfüllt, daher ist das Horn jetzt verstummt.

Und ein paar launige Anekdoten gab’s auch noch. So erzählte Mickisch über einen Tenor in Bayreuth, der während einer Probe eine Zeile im Parsifal geändert habe, um zu sehen, ob ihm irgendwer zuhört: Statt „Im Fluge treff ich, was fliegt“ (nachdem er den Schwan erschossen hatte) sang dieser Parsifal: „Im Flugzeug fress’ ich, was’s gibt“. Die Aufmerksamkeit der Mitspielenden war ihm angeblich sicher. Außerdem war Mickisch der Meinung, Robert Schumann habe nur deshalb keine anständige Oper komponieren können, weil er zu sehr Edelmann gewesen sei, um richtige Bösewichter zu erfinden. Und die Oper brauche schließlich Kontraste. Was das im Gegenzug über Wagners Charakter sagt, lasse ich mal unausgesprochen.

Wer auch mal in den Genuss der Vorträge kommen will, muss dafür nicht nach Bayreuth fahren; auf der oben verlinkten Website können die entsprechenden CDs bestellt werden. Ich finde es immer sehr spannend, ein bisschen Hintergrundwissen mitzubekommen. Das meinte auch Mickisch (sinngemäß): Natürlich erschließt sich die Musik sofort emotional, aber es schadet nicht, sich auch intellektuell mit ihr zu befassen.

„Der Has’ ist tot“ plus „Isolde Flickerflacker“

Parsifal ist die letzte Oper von Richard Wagner und eine sehr persönliche: Sie ist vom Komponisten als „Bühnenweihfestspiel“ bezeichnet worden, handelt von urchristlichen Symbolen und Mythen und wird heutzutage gerne am Karfreitag aufgeführt. Was Christoph Schlingensief in Bayreuth daraus gemacht hat, ist mir auch einige Tage später intellektuell noch nicht ganz klar, aber emotional hatte ich mein Urteil bereits nach fünf Minuten getroffen: Ich fand’s richtig schön scheiße.

Was mich am meisten genervt hat und was mich an vielen modernen Inszenierungen auf Theater- oder Opernbühnen nervt, ist diese blinde Aktionismus, der wahrscheinlich verhindern soll, dass die zappinggewöhnten Zuschauer sich langweilen. So hampelten im Parsifal nicht nur die Sänger so gut wie ständig durch die Gegend, sondern auch noch eine Reihe Statisten, deren Funktion mir persönlich völlig schleierhaft geblieben ist. Dass die dicke Schwarze wohl die sinnliche Weiblichkeit symbolisieren soll, die der Gegenpart zur männlichen Askese ist, um die es im Parsifal auch geht, hab ich kapiert, war auch nicht schwierig. Dass der Hase, der sowohl auf den dämlichen Videoleinwänden auftaucht oder als Stoffpuppe durch die Gegend geschleppt wird, ein Fruchtbarkeitssymbol ist, weiß ich auch, habe es aber nicht mit der Handlung der Oper zusammengebracht. Google weiß allerdings, dass der Hase auch als Symbol für Christus gilt und weil er angeblich mit offenen Augen schläft, auch als Tierbild für den Auferstandenen. Mag ja sein, aber ich kann keine Inszenierung leiden, für die ich Königs Erläuterungen oder das Internet brauche, um sie im Nachhinein zu verstehen. Und selbst wenn man den ganzen Hasenquatsch als sinnvoll betrachtet, macht es mir immer noch nicht klar, warum einige der Knappen wie Stummfilmschwarze geschminkt waren, warum die beiden mongoloiden Kinder auf der Bühne rumgelaufen sind oder was der dicke Alte und seine dünne Gespielin in Alltagsklamotten da zu suchen hatten (bitte formulieren Sie den letzten Satz selbständig politisch korrekt um). Und das Bühnenbild hatte größtenteils viel von bemühtem Studententheater. Die kleine Ecke, die theatralisch mit „Friedhof der Kunst“ überschrieben war und auf der Grabsteine in Form der Mona Lisa , der Campell-Suppendose oder – natürlich – des Hasen von Dürer zu sehen waren, war mehr als affig.

Der Augenblick, in dem ich mit dem Blödsinn geistig abgeschlossen hatte, war zum Ende des ersten Aktes, als eigentlich eine Abendmahlsszene stattfinden sollte. Statt des üblichen Brot und Wein, den die Gralsritter unter sich aufteilen, haben wir den Torso einer dicken Frau zu sehen bekommen, die mit dem Hals zum Publikum stand und der Amfortas mal eben zwischen die Beine griff, um daraufhin eine blutige Hand hervorzuziehen, mit der er Parsifals weißes Gewand betatschte. Nee klar. Macht Sinn. Nach Parsifal wurde früher überhaupt nicht geklatscht (so wie man in der Kirche ja auch nicht klatschen soll), aber im Laufe der Jahre hat es sich eingebürgert, nur nach dem ersten Akt (nach dem Abendmahl) nicht zu klatschen. Das hat in Bayreuth aber keiner durchgehalten, denn sobald der Vorhang fiel, gingen die Buhrufe los, worauf die Gegenpartei natürlich klatschen musste. Ich wollte einfach nur viel Alkohol trinken.

Zurück zum vorhin angesprochenen Aktionismus: Auf der Bühne war ständig irgendwas in Bewegung. Wenn es nicht die Akteure oder die Statisten waren, flackerten die diversen Videowände oder es wurden aus der Decke Fahnen oder Stoffbahnen mit mir nicht bekannten Symbolen herabgesenkt, um kurz danach wieder sinnbefreit zu verschwinden. Es gab wirklich keine einzige Sekunde, in der mal nichts passierte in den knapp sechs Stunden Aufführungsdauer. Und das hat mich persönlich abgrundtief genervt. Es mag mit meinem Glauben zusammenhängen, dass ich etwas allergisch auf einer derartige Missachtung des Textes (also des Inhalts) reagiere. Parsifal ist ein christlich motiviertes Werk, und es gibt genügend Textpassagen, die eindeutig in ihrer Bedeutung sind. Ich sehe nicht viel Spielraum – im Gegensatz zu anderen Opern von Wagner, die so allgemein gehalten sind, dass man sich an immer neuen Interpretationen versuchen kann. Besonders der Ring wird gerne für alles und jede politische Stimmung verwandt, und meistens passt das auch noch. Natürlich will ich im Siegfried keinen Drachen auf der Bühne sehen, denn der kann genausogut eine Metapher sein. Und ich brauche auch kein Schiff im Fliegenden Holländer zu sehen; ich weiß schließlich, worum es geht. Aber den Parsifal vom christlichen Glauben wegzuinterpretieren und ihn zu einem afrikanischen Stammesritual zu machen, halte ich für sehr gewagt bis komplett daneben.

Ich musste mich des Öfteren zwingen, auf die Musik und die Sänger zu achten, denn die gingen ziemlich unter in dem ganzen Brimborium, das auf der Bühne stattfand. Und das nehme ich Schlingensief wirklich übel: dass er scheinbar so wenig Respekt vor dem Material gehabt hat und es einfach als Blaupause für irgendwelche Ideen genutzt hat.

Nach dem Budenzauber war die Inszenierung von Tristan und Isolde von Christoph Marthaler ein absoluter Kontrastpunkt. Leider kein guter; ich würde die Reaktion des Publikums als „freundliches Desinteresse“ beschreiben. Die Bühne war in allen drei Akten so gut wie leer, niemand bewegte sich einen Schritt zuviel, wenige Requisiten lenkten von Musik und Text ab. Was bei Schlingensief viel zu viel war, war bei Marthaler viel zu wenig. Tristan ist eine Oper voll Sehnsucht und dem Tod als einzigem Ausweg – und auf der Bühne war davon rein gar nicht zu spüren. Gerade im zweiten Akt, als die beiden unglücklich Liebenden sich ihre Gefühle gestehen und die Musik pure Leidenschaft ist, passiert auf der Bühne – gar nichts. Isolde darf sich ihre Handschuhe ausziehen und Tristan kurz seinen Kopf in ihren Schoß betten, und das war’s. Und im dritten Akt, als Isolde den verstorbenen Geliebten sieht, schien sie es nicht einmal für nötig zu halten, mal zu ihm hinzugehen, vorbei an dem Sperrholztotenlager, das aussah, als hätte die Pflegeversicherung nicht gereicht. Flackernde Neonröhren blitzten ab und zu auf, was aber auch eher sinnlos daherkam als erläuternd wirkte. Aber: Ich habe selten eine Oper gesehen, bei der der Gesang so viel Raum bekommen hat. Allerdings nur, wenn das Orchester die Sänger gelassen hat; viel zu oft haben die Musiker die beiden auf der Bühne übertönt, was das Publikum auch quittierte: Dirigent Eiji Oue wurde gnadenlos ausgebuht, während Pierre Boulez am Vortag beim Parsifal standing ovations bekam und auch das Orchester ausnahmsweise mal auf die Bühne durfte. (Soweit ich weiß, kommt das Orchester sonst nur am jeweils letzten Aufführungstag einer Spielzeit auf die Bühne.)

Fazit: Auch wenn ich beide Aufführungen nicht brillant fand, hat es sich natürlich gelohnt, nach Bayreuth gekommen zu sein. Es sind einfach die besten Wagner-Sänger weltweit, auch wenn ich den Kurwenal im Tristan fürchterlich übertrieben fand und den Parsifal so lala. Ich habe jede Sekunde im Festspielhaus genossen, wohl wissend, dass es eben nichts Alltägliches ist, hier zu sein. Es werden wieder ein paar Jahre vergehen, bis meine Mama und ich zurück auf den Grünen Hügel dürfen – dann hoffentlich nochmal zum Ring, denn obwohl ich die Musik von Tristan wunderschön fand, bleibt die Götterdämmerung immer noch meine liebste Oper. Und direkt danach kommt der Parsifal – den hat mir auch Schlingensief nicht ruinieren können. Auch wenn er sich verdammt angestrengt hat.

Mein schönster Ferientag (mit schlechten Bildern!)

(Zu den Klängen der Ouvertüre öffnet sich langsam der Vorhang.)

Das ist es also: das Festspielhaus in Bayreuth, das zehn Monate im Jahr leer steht, bis dann Scharen von Wagnerianern in die Stadt einfallen, die überzogenen Hotelpreise zahlen und zum Grünen Hügel pilgern. Der ist übrigens während der Aufführung für den Verkehr gesperrt; das heißt, man kann in der Pause entweder an den vielen Fressständen Champagner für 9 Euro das Glas schlürfen oder eine Laugenbrezel für moderate 1,50 futtern (my drug of choice) oder eben den Hügel, auf dem das Haus steht, rauf- und runterflanieren, ohne von Autos belästigt zu werden. Es ist trotz der knapp 2000 Zuschauer sehr ruhig, und so muss man beim Lästern über anderer Leute Abendgarderobe wirklich die Stimme senken. (Ich selbst war in einen rubinroten Anzug gewandet und brauchte daher keine Angst vor Schmähungen zu haben. Aber die ältere Dame in riesiggeblümt auf lila mit Halsschmuck, der ihr fast bis zu den Ohren gestapelt war, hat garantiert nicht nur von meiner Mama und mir was abgekriegt.)

Seitenansicht. Der fachkundige Besucher achtet sofort auf den Herrn links im Vordergrund mit der blauen Tüte, denn in ihr verbergen sich Kissen für die Folterstühle im Festspielhaus. Für die grandiose Akustik wurde nämlich auf standesgemäße Plüschsesselchen verzichtet. Man platziert seinen Hintern stattdessen für sechs sehr lange Stunden Tristan und Isolde auf Stühlen, die ihren Namen kaum verdienen. „Holzbrettchen mit Folterlehne“ wäre angebrachter. Beim Parsifal habe ich nölig vor mich hingelitten, einen Abend später beim Tristan war ich schlauer und hab mir ein T-Shirt mitgenommen, das ich über die Rückenlehne gehängt habe, so dass mir der verdammte Querbalken nicht endgültig die Wirbelsäule ruiniert. Mein Hintern ist netterweise gepolstert genug, daher brauchte ich nicht auf meiner Jacke zu sitzen.

So sehen die Quälgeister aus. Beachten Sie auch hier das professionelle Sitzkissen, das auf einen schon mal dagewesenen Gast schließen lässt. Und den Holzfußboden, der so richtig schön in Schwingung gerät, wenn nach der Aufführung das Füßetrampeln losgeht – im Falle des Gefallens natürlich. Ansonsten ist das Bayreuther Publikum recht hartherzig und buht auch gerne und ausdauernd.

Der Innenraum des Festspielhauses ist noch weitestgehend wie damals zu Richards Zeiten. Eigentlich darf man nicht fotografieren, und daher habe ich nur einmal scheu in der Gegend rumgeblitzt, und auch nur, als ich gesehen habe, dass andere das auch tun (Masse und Macht). Oben sieht man die Seite des Zuschauerraums. Zwischen den Säulen befinden sich die verschiedenen Türen zum Parkett, das amphittheatergleich nach oben geht. Wenn man nicht genau in der Mitte sitzt und die Frau vor einem zwei Dosen Haarspray für ihre Frisur benutzt hat, kann man überall gut sehen. Und wenn man in der Mitte sitzt mit der Haarspraydame vor einem, ist es praktisch, eine aufopferungsbereite Mutter dabeizuhaben, die den Tristan schon kennt und sowieso gerne in der Oper die Augen zumacht und daher bereitwillig den Platz mit einem tauscht.

Hinter dem Parkett gibt es noch zwei (glaube ich, können auch drei sein) Ränge mit ner Menge weitere Säulen, die für eine besondere Preiskategorie in Bayreuth sorgen: die Hörplätze, auf denen man – genau: nur hören, aber überhaupt nichts sehen kann. Spottbillig und genauso schnell weg wie alle anderen Karten.

Die Pausen dauern eine ganze Stunde, weswegen man für alles außer dem Holländer mit seinen popeligen zweieinhalb Stunden Spieldauer den halben Tag für den Opernbesuch planen muss. Unsere beiden Aufführungen gingen jeweils um 16 Uhr los, und kurz nach 22 Uhr war die Sache dann durch. Das Ende der Pausen wird nicht nur durch einen Gong innen im Gebäude angekündigt, sondern für die Gäste, die draußen stehen, spielen ein paar Bläser jeweils ein Motiv aus dem folgenden Akt: 15 Minuten vor Beginn einmal, zehn Minuten vorher zweimal, und fünf Minuten vorher war ich immer schon drin, denn wir haben beide Male fast in der Mitte gesessen, und ich HASSE die Leute im Opernhaus oder im Kino, die in der Mitte sitzen und stets als letzte kommen. Also bin ich brav gewesen, habe die Jungs nie dreimal tröten gehört, sondern war immer schon auf meinem Plätzchen, so dass ich mich an niemandem vorbeidrängeln musste.

Der Balkon, auf dem die Musiker stehen, ist oben im ersten Bild auch zentral zu sehen. Davor versammeln sich schon die Zuhörer. Nicht nur Festspielbesucher übrigens; da war auch ne Menge Volk dabei, das einfach mal so vorbeikommt und die Viertelstunde stehen bleibt und guckt. Außerdem sieht man nicht nur bei Beginn der Aufführungen, sondern auch in beiden Pausen die üblichen Unentwegten, die doch noch auf eine Karte hoffen. Zurzeit muss man, soweit ich weiß, sieben bis zehn Jahre auf eine Karte warten. An der Kasse zu fragen, ist daher ziemlich aussichtslos, aber es stehen bei jeder Aufführung Fans vor dem Festspielhaus, die doch noch darauf hoffen, dass irgendjemand nach einem Akt keine Lust mehr hat. Die meisten sind in Abendgarderobe da; der Herr unten war eine Ausnahme. Aber den konnte ich halt fotografieren.

Und das wären die Karten gewesen, die er gekriegt hätte, hier abgebildet mit dem überdimensionieren Programm, das gleich mit Tragetasche zusammen verkauft wurde, so dass viele Besucher in der Pause nicht nur ihre Kissen geschleppt haben, sondern auch die Programmtüte und das Handtäschchen und dazu noch irgendwie das Schampusglas.

Lesen Sie morgen, ob ich Schlingensiefs Parsifal wirklich so doof fand wie ich im Vorfeld dachte und ob mir mein erster Tristan auf der Bühne gefallen hat.

(Der Vorhang fällt schnell.)

„Fragst du nach Tristan, teure Frau“

Der Countdown nach Bayreuth hat begonnen. Heute nachmittag geht’s in die (Städtemetaphern rocken) Wagnerstadt, morgen gibt’s Parsifal und am Donnerstag Tristan und Isolde, die einzige Wagneroper, die ich bis jetzt noch nie gesehen habe. Seit einigen Tagen läuft die wunderbare Aufnahme von 1966 aus Bayreuth (Karl Böhm, Birgit Nilsson, Wolfgang Windgassen) auf dem iPod, während ich wahlweise die Partitur oder nur das Reclam-Libretto mitlese. Und wie immer, wenn ich Opern höre, stelle ich mir die Frage, ob die Leute damals bei der Uraufführung, als es noch kein Reclamheft zum Mitlesen gab, auch nur ein Wort des Textes verstanden haben. Hatten die Hörer damals vielleicht ein operngeschultes Gehör, das noch nicht von Simpelpop runtergedummt war? Oder war der Text egal?

Was sich allerdings in meiner persönlichen Opernrezeption geändert hat, ist der Respekt vor den Sängern. Mir war zwar schon länger klar, dass Wagner wahrscheinlich ein bisschen schwieriger zu singen ist als „Hoch auf dem gelben Wagen“, aber erst, seit ich selber Unterricht habe, merke ich, wie verdammt großartig die Jungs und Mädels ihren Job machen. Mir war nie klar, wie schwierig es ist, leise und trotzdem betont zu singen. Wie unmöglich es ist, in den ganz hohen Lagen überhaupt noch Worte zu formen. Ich höre auf einmal Feinheiten, die ich bis jetzt als selbstverständlich hingenommen habe – zum Beispiel schlicht und einfach eine gewissen Betonung oder eine Emotion, die transportiert wird. Erst seit ich selber versuche, schnulziges Zeug zu singen, ohne dass es trieft oder lächerlich wirkt oder (noch schlimmer) es sich anhört, als wäre mir alles total egal, ahne ich, welche Gratwanderung eine gefühlvolle Interpretation ist. Ich achte auf einmal darauf, wann geatmet wird, auf welchen Silben betont wird, auf welchem Vokal die Sänger und Sängerinnen sich nach oben quälen (i) oder schwingen dürfen (a). Es klingt nicht anders als früher, als ich Opern gehört habe. Aber es klingt auf einmal so, wie es eben ist: richtig, richtig schwer.

Das iBook reist natürlich mit nach Bayreuth und das Hotel wurde natürlich nach W-LAN-Aspekten gewählt und die Digitalkamera ist natürlich ab Abflug Hamburg im Anschlag, aber ich weiß trotzdem nicht, ob hier in den nächsten drei Tagen was passieren wird oder ob ich stattdessen so vom Haus Wahnfried ergriffen sein werde, dass ich erst Samstag wieder poste. Kiek mol wedder in. Oder lest meinen Eintrag vom 26. Juli vergangenen Jahres, wo ich mich bereits sehnsüchtig nach Bayreuth verzehrt habe, nicht ahnend, dass ich nur ein Jahr später wieder da sein werden würde (wollen gehabt getan).

Bret Easton Ellis liest aus seinem neuen Roman Lunar Park.

(via Praschl)

Die FAS findet das Werk sonaja, die Süddeutsche mag’s ganz gerne, die NYT, die man wenigstens verlinken kann, bedauert ein wenig, dass es nicht konsequent genug ist, und ich hab’s mal auf den Wunschzettel geschmissen, obwohl ich noch nicht weiß, was ich mit einer fiktiven Autobiografie anfangen soll, aber da ich alles andere von Ellis im Regal hab, kauf ich das eben auch, sieht immer gut aus, wenn man mehr als ein Buch von jemandem hat, suggeriert, dass man mehr als eins gelesen haben muss, sonst hätte man die anderen ja nicht, was im Falle von Ellis ja auch stimmt, im Falle von z.B. Thomas Hardy aber gar nicht, drei Bücher auf einmal für ein Anglistik-Seminar gekauft, das sich als Langeweile on a stick rausstellte, das erste noch durchgelesen, das zweite nur halb, das dritte steht bis heute unberührt rum (Far from the Madding Crowd, anyone?), aber immerhin füllt es das Regal und sieht hübsch aus, wozu hat man sonst Bücher, Hauptsache, ich seh die Tapete nicht.

Die Kunst der Bildunterschrift

Nee, ist klar, Cinema. Ein bisschen mehr Mühe hättet ihr euch schon mit den Filmbildern von Madagascar geben können.

Be-ne-det-to!

Schöner Kommentar in der SZ über den Glauben der Jugend:

Die Meinungsforscher von Perspektive Deutschland haben zum Weltjugendtag herausgefunden: Junge Katholiken – übrigens auch junge Protestanten – haben weniger Angst vor der Zukunft, sie sind weniger hedonistisch orientiert, setzen sich häufiger für andere ein. Und wenn sie ihre Kirche kritisieren, tun sie es, weil sie sich mit ihr verbunden fühlen.

Sie sind ohnehin viel näher an ihrer Kirche, als es viele Bischöfe in ihrem Kulturpessimismus glauben. Sie sehnen sich nach einer tragfähigen Gottesbeziehung, nach Lebensformen und Leitlinien für den Alltag. Sie träumen von festen Partnerschaften, suchen Orte der Stille, Gemeinschaften, in der nicht das Wichtigste ist, was man gerade leistet, besitzt, werden will. Sie suchen, was das eingefahrene Leben unterbricht – und eine der kürzesten Definitionen von Religion ist „Unterbrechung“, hat der Münsteraner Theologe Johann Baptist Metz gesagt. Nur: Sie wollen Vorbilder statt Vorschriften und Perspektiven statt Pessimismus. Sie suchen Partner und Begleiter, die auch dann bei ihnen bleiben, wenn es Meinungsunterschiede gibt.

Das Elend der katholischen Kirche ist, dass sie hier den Faden verloren hat, dass sie sprachlos vor ihren Jugendlichen steht. Um diese Sprache wiederzufinden, braucht es mehr als einen Weltjugendtag. Aber ein Anfang könnte er sein.

Charlie and the Chocolate Factory

Charlie and the Chocolate Factory (Charlie und die Schokoladenfabrik, USA 2005, 115 min)

Darsteller: Johnny Depp, Freddie Highmore, David Kelly, Christopher Lee, Deep Roy, Helena Bonham Carter, Noah Taylor
Musik: Danny Elfman
Kamera: Philippe Rousselot
Drehbuch: John August (nach dem Buch von Roald Dahl)
Regie: Tim Burton

Trailer

Offizielle Seite

Schokolade ist kein perfektes Lebensmittel. Sie besitzt einen geringen Nährwert, hat viel zu viele Kalorien, eine doofe Farbe und muss in fiesem, umweltfeindlichen Stanniolpapier eingewickelt werden. Aber sie kann etwas, was nicht viele andere Lebensmittel können: Sie macht verdammt glücklich.

Der Film Charlie and the Chocolate Factory beruht auf einer Geschichte von Roald Dahl, und es geht um Schokolade. Willy Wonka, der Besitzer der größten Schokoladenfabrik der Welt, lädt eines Tages fünf Kinder dazu ein, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Die Kinder brauchen für die Einladung aber ein wenig Glück: Wonka hat in fünf seiner Schokoriegel, die weltweit verkauft werden, ein goldenes Ticket versteckt, und nur wer eins davon findet, darf in die Fabrik. Vier der Gewinner sind widerliche, verwöhnte Gören, aber einer ist der Traum aller Erziehungsberechtigten: Charlie, ein bettelarmer, wohlgeratener Junge, der mit seinen kreuzehrlichen Eltern und weisen Großeltern in einem Häuschen im Schatten der Fabrik wohnt. Im Laufe des Films erteilt Wonka jeder Bratze und ihrem Erzeuger eine Lektion, bis nur der gute Charlie übrig bleibt, um den superduper Hauptpreis in Empfang zu nehmen – oder auch nicht.

Charlie and the Chocolate Factory ist eindeutig ein Kinderfilm, genau wie die Vorlage ein Kinderbuch ist. Die Erzählweise ist simpel geradeaus und die Figuren allesamt so plakativ, dass ihnen keine Chance bleibt, mehr als freundliche Anteilnahme vom Zuschauer zu bekommen (Charlie und Anhang) oder totale Abscheu und Schadenfreude darüber, was mit ihnen passiert (alle anderen). Die Botschaft, die Charlie vermitteln will, wird einem ungefähr achtzigmal mit dem Silbertablett eingeprügelt: Familie ist das Beste, was einem passieren kann. Und die Story überrascht so gut wie nie, sondern steuert konsequent auf ein fettes Happy End zu, und genau das hat man nach 30 Filmsekunden auch erwartet. Warum sollte man sich also als Erwachsener Charlie and the Chocolate Factory anschauen?

Weil dieser Film einem schlicht und einfach die Chance bietet, wieder Kind sein zu dürfen. Er ist kein Film, dessen bedeutungsschwangere, düstere Bilder man dechiffrieren muss. Stattdessen führt uns Hauptdarsteller Johnny Depp in Kostümen, die unter Drogen entworfen wurden, durch eine – passenderweise – bonbonbunte Fantasiewelt. Wir erleben Flüsse aus Schokolade und Bäume aus Zuckerwatte, wir sehen Eichhörnchen beim Nüsseknacken zu und lernen die Oompa Loompas kennen, kleine Wesen, die für Kakaobohnen alles tun würden, unter anderem pinkfarbene Schiffe in Form eines Seepferdchens rudern und dabei gemeine Lieder über verfressene oder großkotzige Kinder singen. Die Fabrik ist eine Zauberwelt, die sich jedes Kind nur wünschen kann, ein Schlaraffenland ohne langweiligen Grießbrei und stattdessen mit Fudge und Creme und Lollipops. Bei den Kulissen haben sich die Designer richtig ausgetobt, und so ist Charlie in jeder Sekunde bestes Augenfutter – eye candy eben.

Und Futter für die sonst brav unterdrückte Schadenfreude. Die vier Ekelkids laden geradezu dazu ein, sich ungestraft über sie lustig zu machen und damit endlich mal politisch unkorrekt lästern zu dürfen. Die kleine britische Prinzessin, deren reicher Vater tausende von Schokoriegeln kauft, damit sie ein Ticket kriegt und die den Fund desselben mit einem leisen Lächeln registriert – und dem Satz: “Daddy, I want another pony.” Der fernseh- und videospielsüchtige Kerl, der lieber auf den Köstlichkeiten in der Fabrik herumtrampelt, anstatt sie zu essen – “He said to enjoy ourselves.” Die blonde Eislauftochter der blonden Eislaufmutti, die Rekordhalterin im Kaugummikauen ist und die – ohmeingott! – keine Schokolade mag. Und am schönsten, jedenfalls in der Originalfassung, weil mit wunderbarem Akzent: der dicke deutsche Junge, der das goldene Ticket in seiner Schokogier fast gegessen hätte und dessen Vater natürlich Metzger ist und Würste produziert. Alle vier möchte man sofort verprügeln, sobald man sie sieht. Aber sie bekommen natürlich, was sie verdienen, und schon ist die Welt wieder gut.

Aber der Film ist nicht nur holzhammerlustig und quietschebunt. In seinen wenigen stillen Augenblicken ist er fürchterlich sentimental und will uns ums Verrecken rühren. Und das schafft er auch. Wahrscheinlich weil die Story eben so schlicht ist und weil die Figuren eben entweder zu gut für diese Welt oder zu widerlich sind. Ich habe fast vor Freude geheult, als Charlie sein Ticket gefunden hat, obwohl ich natürlich wusste, dass er es findet, sonst wäre der Film nach zehn Minuten zuende gewesen. Aber ich war von der ersten Sekunde an genauso alt wie meine ganzen Sitznachbarn im Kino, die einen Meter kleiner waren als ich. Ich habe mit offenem Mund den Erzählungen von Großvater Joe zugehört, so als ob mir jemand eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen hätte, und ich war kurz davor, mittendrin laut „Oh, guck mal, ein SCHOKOWASSERFALL!“ zu brüllen und mit dem Finger auf die Leinwand zu zeigen.

Und ich war schlicht und einfach gerührt von einigen Sätzen und Szenen, die über die Hauptbotschaft hinausgingen. Wenn zum Beispiel Großvater George Charlie verbietet, das Ticket zu verkaufen, um dringend benötigtes Geld für die Familie zu verdienen: Geld gebe es auf der Welt doch wie Heu, aber nur fünf goldene Tickets. Oder wie Großvater Joe Charlie darauf vorbereitet, nicht enttäuscht zu sein, wenn in seinem Schokoriegel kein Ticket ist: “We will still have the candy.” Genau: Wir werden immer etwas haben, was uns glücklich macht, selbst wenn wir nicht reich sind oder berühmt oder wunderschön oder was für Zielen wir sonst hinterherjagen. Wir werden immer eine Kleinigkeit haben, die uns in diesem einen Augenblick mehr freut als alles andere und die nichts oder fast nichts kostet und deswegen doppelt so wertvoll ist: eine Erinnerung an einen lieben Menschen, ein Sonnenaufgang am Meer, ein Lieblingsbuch, ein Kleidungsstück – oder eben eine Tafel Schokolade nach einem beschissenen Tag.

Charlie macht absolut keinen Spaß, wenn man intellektuelle Filmkunst erwartet und sich ein Gurkensandwich plus Stoffserviette mit ins Kino gebracht hat. Aber Charlie ist großartig, wenn man sich schlicht und einfach über einen herzerwärmenden Film freuen möchte und einen Berg Süßkram dabei hat. (Das würde ich übrigens wirklich empfehlen – der Film ist Folter, wenn man nicht wenigstens ein paar Bonbons lutschen kann. Noch besser allerdings: zwei Tafeln Lindt Vollmilch. Denkt an meine Worte.)

Charlie and the Chocolate Factory ist kein perfekter Film. Er wird wahrscheinlich nie eine Liste der besten Filme aller Zeiten anführen, sein Inhalt ist eine zu schlichte Moral, sein Plakat ist viel zu bunt und Johnny Depp hat eine fürchterliche Frisur. Aber er kann etwas, was fast alle Tim Burton-Filme können: Er macht in seinen besten Momenten verdammt glücklich. Und das ganz ohne Kalorien.

So what

Und wenn der Kerl ein wenig kleinlaut wird bei Plänen für ein gemeinsames Wochenende, weil doch die spanische Liga angefangen hat und die Premier League und die Leichtathletik-WM in den letzten Zügen liegt und der Videorecorder auch noch tausend Stunden professionelle, überbezahlte Körperübungen bereit hält, kann Frau Gröner ausnahmsweise mal nonchalant mit den Schultern zucken und sagen: Mir doch egal.

Im Klartext: Die vierte Staffel von 24 ist da.

(Noch in der Pre-order-Warteschleife: Will & Grace 6 (15. August), Six Feet Under 4 (5. September), The West Wing 6 (26. September), ER 5 (17. Oktober).)

Cara Amiga

Wo IT&W gerade so schön dem Amiga hinterhertrauern – ich suche seit Äonen ein altes Spiel auf dem Amiga, dessen Name mir leider komplett entfallen ist, das ich aber an der Kiste meines damaligen Freundes nächtelang gespielt habe und dem ich bis heute hinterhertrauere (dem Spiel, nicht dem Mann). Der Screen bestand aus dem Kopf einer Frau (glaube ich wenigstens, die Gute hatte keine Haare und man sah halt nur den Kopf), aus dem eine Art Gitter entsprang. Auf diesen Gitterlinien flitzen „Elektronen“ hin und her, und man musste diese durch Weichen, die man einstellen konnte, auf dem Weg ins Gehirn bringen. Hatte man genug davon – oder alle Weichen richtig gestellt, ich weiß es nicht mehr –, kam Bewegung in die Dame und sie lächelte oder sagte was Unverständliches. (Nein, sie machte keinen Schweinkram.) Kennt irgendjemand dieses Spiel oder weiß, wie es heißt? Oma Gröner sagt Danke.

Mickey Rourke träumt davon, sein Leben in den Griff zu kriegen:

Für mich war das Alleinsein das Schwierigste. Ich habe mich gezwungen, allein zu leben. Das ist die einzige Möglichkeit, sich wirklich zu verändern. Wenn man den Schmerz ungefiltert fühlt. Erst wenn man keine Leute mehr um sich hat, die einem das Leiden abnehmen, kann man klar sehen. Dann erst kann man den Versuch wagen, sich zu ändern. Anfangs dachte ich: Es dauert vielleicht zwei Monate, dann bin ich ein anderer Mensch. Mein Therapeut sagte: „Medikamente sind in Ordnung, wenn sie dir für einen begrenzten Zeitraum helfen. Sobald du in der Lage bist, dich wieder einzugliedern, brauchst du keine Medikamente mehr.“ Irgendwann fragte ich ihn: „Als du mich das erste Mal sahst, vor sieben oder acht Jahren, war ich da verrückt?“ Er sah mich eine Weile schweigend an. Dann nickte er.

Ich sage nicht: Ich habe mich verändert. Sondern: Ich arbeite daran. Mittlerweile seit fast zehn Jahren. Die Veränderung ist etwas, das ich konstant und unbeirrbar verfolgen muss. Der andere Mickey, das Leben, das ich früher geführt habe, wird immer in mir drin sein. Ich will nicht, dass es wieder zum Vorschein kommt. Aber es ist da. Es gibt einen kleinen Knopf, den ich nur zu drücken brauche, und das Monster steht wieder auf.

Sin City

Sin City (USA 2005, 124 min)

Darsteller: Mickey Rourke, Bruce Willis, Jessica Alba, Clive Owen, Rosario Dawson, Benicio Del Toro, Michael Madsen, Nick Stahl, Rutger Hauer, Elijah Wood, Michael Clarke Duncan, Brittany Murphy, Jaime King, Alexis Bledel, Powers Boothe, Josh Hartnett, Tommy Flanagan, Devon Aoki
Musik: John Debney, Graeme Revell, Robert Rodriguez
Kamera: Robert Rodriguez
Drehbuch: Frank Miller
Regie: Frank Miller & Robert Rodriguez (Quentin Tarantino as Special Guest Director)

Trailer

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Sin City ist ein Sündenpfuhl, eine Ausgeburt einer Stadt, in der kein Tag ohne das Sirren von Bleikugeln vergeht, die ohne Unterschied Gut und Böse vernichten. Sin City schläft nicht, denn Gewalt ruht nie, sondern ist stets auf der Suche nach etwas, das in Blut ertränkt werden kann. Sin City beherbergt gescheiterte Existenzen, die kaum atmen können vor lauter Rohheit und Verzweiflung und in denen doch einsame Herzen schlagen, die sich nach einem weiteren Herz sehen. Sin City ist pures Klischee – und gleichzeitig ganz große Kunst.

Der Film beruht auf den Comics von Frank Miller – aber eigentlich möchte ich lieber das englische Wort graphic novel für die Vorlage nutzen, denn das fühlt sich passender an. Sin City ist nicht der erste Film, der versucht, Zeichnungen auf die Leinwand zu transportieren, aber er scheint der erste zu sein, dem eine absolut kompromisslose Umsetzung gelungen ist. Das fängt ganz „schlicht“ bei der Optik an: Die holzschnittartigen Vorlagen dienen als Hintergrund, auf dem sich die düsteren Geschichten abspielen. Alles ist schwarzweiß und im besten Fall genauso grafisch schlicht gehalten wie die Bildergeschichten. Der Film gönnt sich ein wenig mehr Detailverliebtheit als die Vorlage, indem er die Sets größtenteils räumlich aussehen lässt. Die Szenen, in denen die Gebäude aber eben dieser Räumlichkeit beraubt werden, machen viel mehr Spaß. Wenn Mickey Rourke aus einer Gefängniszelle ausbrechen will und diese fast nur aus Linien und Gittern zu bestehen scheint, vergisst man kurz, dass alle Hintergründe digital sind – dann sehen sie plötzlich aus wie mit feinstem Strich gezeichnet. Und komischerweise wirken die (realen) Figuren in dieser Umgebung nicht einmal künstlich, sondern absolut passend.

Das liegt wahrscheinlich daran, dass jeder Charakter diese Bezeichnung kaum verdient, denn alle Protagonisten sind pure Schablonen, Kunstfiguren, die scheinbar nur jeweils einem Zweck dienen. Jede Figur taucht plötzlich auf, ohne Vorgeschichte und Erklärung, erledigt ihren Job und taucht wieder in die schwarze Zeichnertusche ab. Wer sie ist und was sie vorhat, wird in drei, vier abgehackten, trashig klingenden Sätzen aus dem Off erzählt – hier bekommt das Wort „Sprechblase“ wirklich einen Sinn. Aber was für Kunstfiguren hier die Leinwand bevölkern! Die Schläger sind brutaler als in irgendeiner anderen Stadt, die Gangster kaltblütiger, die Mädchen aufreizender und die Helden … nein, die Helden sind keine strahlenden Retter, die aus Sin City Fortune City machen wollen. Die Helden sind gebrochene Gestalten, die keiner Moral gehorchen und die Welt nicht retten möchten, ganz im Gegenteil. Die Welt hat ihnen übel mitgespielt, aber sie haben noch eine Rechnung offen, und die wird nun beglichen.

Der übel aussehende Schläger, der eine tote Prostituierte rächen will und dabei an einen Kannibalen gerät. Der alternde Cop, der einen Kinderschänder jagt und statt seiner selbst im Knast landet. Die Edelhure, die sich und ihre Mädchen mit Gewalt vor noch mehr Gewalt schützt und dabei Hilfe von einem ehemaligen Lover bekommt. Jeder führt seine Kriege für sich aus und für niemanden sonst. Die einzige Loyalität gilt einem selbst – und den Menschen, die man liebt. Die Motivation der brutalen Schlachten, die in vielen Details und mit glasklarer, schmerzhafter Tonspur zelebriert werden, ist stets eine gute. Aber Gutsein zahlt sich in Sin City eben nicht aus. Wir begegnen vielen Figuren und wissen, sobald wir sie sehen, dass sie bereits tot sind. Und meistens dürfen (oder müssen) wir auch dabei zusehen, wie sie ihr Leben beenden – oder ein anderer das für sie übernimmt.

Normalerweise bin ich alles andere als ein Freund von konstanten Metzeleien oder fehlender Tiefe der Figuren, aber in Sin City hat es mich nicht gestört, ganz im Gegenteil: Es musste genauso sein. Der Film ist nicht nur, wie ich oben schon sagte, eine kompromisslose Umsetzung der Comics, sondern fast eine radikale. Er beschönigt die Grobheit der Vorlage nicht, er versucht erst gar nicht, sie filmisch zu überhöhen oder eben schlicht einen Film aus ihr zu machen, sondern bildet sie ganz genauso ab wie sie angelegt war. Der Film übernimmt sogar Bilder, die man aus Comics kennt und von denen ich eigentlich gedacht hatte, sie würden nur auf Papier funktionieren und als Film völlig überzogen aussehen: die im Wind wehenden Krawatten der Cops zum Beispiel. Gezeichnet eine klassische Krimi-Szene, aber es funktioniert auch als bewegtes Bild. Verlaufendes Make-up der weinenden Frauen. Tiefe Stürze der Bösen, Rettungssprünge der Guten. Blutende Narben, die auf grobem Papier wie Krater auf der Haut aussehen – und genauso sehen sie hier auch auf der Leinwand aus. Das zugepflasterte Gesicht eines Schlägers wird hier zu einer Mischung aus Maske, Digitaltechnik und einem Schauspieler, und es passt, und es wirkt gleichzeitig plastisch und gezeichnet, und es schafft eine ganz eigene Atmosphäre; eine, die ich noch nie gesehen oder gespürt habe.

Sin City ist trotz all der Brutalität und des sich banal anhörenden Schwarzweiß ein Vergnügen für die Augen. (Aufgrund der sehr spärlichen Bekleidung der meisten weiblichen Figuren wohl eher für die Männer im Publikum, aber dafür dürfen wir Mädels Clive Owen anschmachten.) Gerade die Beschränkung auf Schwarz und Weiß gibt den Figuren den nötigen Raum, sich über ihre Schlichtheit hinweg zu entwickeln. Wenige Farbtupfer in gelb, rot, blau und grün sorgen für eine zusätzliche Irrealität, die perfekt zur Story und zum ganzen Film passt.

Wenn ich etwas an Sin City zu bemängeln habe, ist es seine Dauer: Mit gut zwei Stunden ist der Film zwar nicht wahnsinnig lang geworden, aber die drei Geschichten, die miteinander verwoben erzählt werden, sind intellektuell nicht gerade herausfordernd und folgen alle dem gleichen Schema; ich hätte mir ein bisschen mehr Zug gewünscht, um schneller zum Punkt zu kommen, denn die Pointen ahnt man, sobald die Storys beginnen. Aber eigentlich sind es nicht die Geschichten, wegen derer ich Sin City gemocht habe, sondern die Optik – und das seltsame Gefühl, gerade eine graphic novel zu erleben, ohne umblättern zu müssen.

My hair like Jesus wore it, halleluja I adore it

Wer die obenstehenden Köppe genauso klasse findet wie ich und davon gerne noch mehr sehen möchte, kann das vom 12. bis 15. August in einer Ausstellung tun: Nachher – Zeitlose Frisurenmode für den Herrn ist zu sehen im Schaufenster des Herren-Friseurs, Schulterblatt 64 in Hamburch und wurde liebevoll gestaltet von Silke Baltruschat.

(Off topices PS: Ich muss bei den unterschiedlich großen Augen immer an die SimpsonsFolge denken, wo die ganze Familie epileptische Anfälle von japanischem Fernsehen kriegt.)