Lemon Meltaways

Noch ein Rezept aus Hilda, dieses Mal von Feines Gemüse. Die Lemon Meltaways sind eigentlich Lime Meltaways und stammen von Martha Stewart. Da ich aber (noch) keine Ahnung habe, wo ich hier in München Bio-Limetten kriege, sind’s eben Zitronen geworden. Und ja, dekomäßig ist auch dieses Bild eher aus der Not geboren. (Ich hab hier ja nix. Außer Weihnachtskugeln.)

Die untenstehende Teigmenge ist nur ein Drittel des Originalrezepts, woraus ich ungefähr 25 Stück bzw. genau ein Backblech voll gekriegt habe.

100 g weiche Butter mit
25 g Puderzucker cremig aufschlagen. Dazu

Abrieb von einer halben Biozitrone (das nächste Mal nehme ich eine ganze),
1 guten EL Zitronensaft sowie
das Mark von 1 Vanilleschote unterrühren. Zum Schluss noch

180 g Mehl,
1 gehäuften EL Maisstärke (bei mir gewöhnliche Speisestärke) und
1 gute Prise Salz dazugeben.

Alles kurz verrühren und dann aus den Bröseln rasch einen Teig kneten. Zu einer Rolle formen, in Klarsichtfolie einhüllen und für mindestens eine Stunde im Kühlschrank parken. (In der Zeit kann man prima die Zimtsterne von gestern machen.)

Nach der Ruhezeit von der Rolle circa einen halben Zentimeter dicke Scheiben abschneiden und diese auf ein mit Backpapier ausgelegtes Backblech umsiedeln. Für 10 bis 15 Minuten im auf 180° C vorgeheizten Ofen backen. Achtung, nicht braun werden lassen. Komplett auskühlen lassen und danach ordentlich in Puderzucker wälzen.

Genau den Schritt werde ich beim nächsten Mal nur sehr sparsam einsetzen – mir haben die Kekse ohne die zusätzliche Puderschicht noch besser geschmeckt. Und wie schon oben erwähnt: Da kann auch noch ruhig mehr Zitrone rein, aber mir kann es ja nie zitronig genug sein. Die Kekse sind fein-mürbe und krümeln gar lieblich im Mund rum. Sehr schönes Rezept.

Zimtsterne

Ja, Klassiker, ich weiß. Habe ich aber noch nie selbst gebacken, weil ich die gekauften immer so meh fand. Aber das folgende Rezept ist großartig. Ich habe es im wunderschönen Magazin Hilda gefunden, das mehrere Kochbloggerinnen gemeinsam erstellt und ins Internet gepackt haben – für lau. Dafür ein dickes Dankeschön. Ich verlinke mal auf Schöner Tag noch, weil das die einzige der Autorinnen ist, die ich kannte. Bei ihr findet sich der Rest der Truppe sowie noch mal der Downloadlink. Die Zimtsterne stammen übrigens von fleur du poirier.

(Mein erstes Münchener Fressfoto. Ich habe hier noch keinen Dekoquatsch, und auch mein geliebtes türkisfarbenes Schälchen, in dem alles gut aussieht, ist nicht hier. Muss eben Ikeakram herhalten.)

Laut dem Rezept kommen bei der untenstehenden Menge zwei bis drei Bleche raus – bei mir hat es zu zwölf Sternen und vier formlosen Gebilden aus Restteig gereicht. (Soll ja nix umkommen hier.)

In einer Schüssel
200 g Puderzucker,
130 g gemahlene Mandeln oder Haselnüsse (bei mir Nüsse),
2 TL Zimt,
140 g Marzipanrohmasse (ich habe sie etwas zerkleinert) sowie
70 g Zitronat vermischen. Ich habe statt Zitronat die abgeriebene Schale einer halben Zitrone verwendet. Dazu noch
1 Eiweiß, und dann alles miteinander verkneten.

Den Teig vorsichtig einen knappen Zentimeter dick ausrollen; am besten auf Backpapier, das ihr hin- und herdrehen könnt. Der Teig klebt irrsinnig und vor allem auf Arbeitsplatten, wo er auch gerne reißt. Falls ihr doch direkt auf der Arbeitsplatte ausrollt: eine Runde gemahlene Nüsse darauf verteilen. Kein Mehl!

200 g Puderzucker und
2 Eiweiß zu einer Baisermasse verquirlen. Bei mir hätte auch die Hälfte gereicht, wie ich beim Backen merkte, aber vielleicht habe ich den Teig zu dick ausgerollt. Mit einem Spritzer Zitronensaft trocket die Masse angeblich schneller; keine Ahnung, ob das stimmt, ich hab’s mal gemacht.

Die Baisermasse dünn auf der Teigplatte verstreichen. Daraus nun lustig Sterne ausstechen, auf ein Backblech umsiedeln und ungefähr 30 Minuten lang trocknen lassen. Dabei läuft der Baiser gerne an den Sternen runter, weswegen ich mich gefragt habe, ob man nicht erst die Sterne ausstechen und dann die Masse darauf verteilen sollte. Aber ich ahne, dass das ähnlich ausgesehen hätte.

Nach der Trockenzeit kommt alles in den auf 160° C vorgeheizten Ofen, wo es in zehn Minuten zu einem großartigen Gebäck wird. Nach dem Backen kann man die olle Baisermasse auch mit einem scharfen Messer prima von den Sternen lösen, damit alles hübsch ordentlich aussieht. Kann man auch lassen, dann hat man halt mehr Baiser zwischen den Zähnen. Auch gut.

Dezemberjournal: Alles anders, alles toll

Das Bett ist schmaler, die Stockwerkzahl höher. Meine Postleitzahl fängt mit 80 an. Das Bad ist größer, aber es hat kein getrenntes Klo. Die Dusche hat mehr Druck, kann aber nur knapp zu heiß und arschkalt. Dafür ist der Wasserdruck in der Küche gleich null, und wenn ich abwaschen will, brauche ich nur noch ein Tröpfchen Spülmittel, weil das Wasser eh nix aufschäumt. Ich habe von allem im Geschirrschrank nur vier Teile: Teller, Schälchen, Wassergläser, Besteck. Außer Weingläser, davon habe ich sechs. (Davon habe ich in Hamburg allerdings auch zwölf.) Der Supermarkt heißt Tengelmann statt Edeka, die Bushaltestelle Josephsplatz statt Kottwitzstraße. Dafür steige ich nicht irgendwo in Ottensen aus und denke über Autos nach, sondern an der Universität und denke über Bilder und Musik nach.

Und jedesmal, wenn mich irgendwas nervt (und im Moment nervt noch viel, weil ich völlig unterschätzt habe, wie viel Kleinscheiß ich für ein „Jetzt isses Zuhause“-Gefühl brauche), denke ich daran: Ich beschäftige mich mit Bildern und Musik. Es sind gerade acht Wochen, aber es kommt mir viel länger vor. Weil ich mich intensiver mit dem Thema auseinandersetze, weil alles neu ist, weil ich mich in alles reinkämpfen muss. Es fühlt sich allerdings überhaupt nicht nach reinkämpfen an; ich muss zwar dauernd nachschlagen, was jetzt noch mal der olle Sonatensatz* ist, den ich gerade in den ersten Sätzen der Beethoven-Klaviertrios suche, aber es fühlt sich wie Ostereiersuchen mit Weihnachtsgeschenkeauspacken an, wenn ich alles gefunden habe, was ich suche. Oder eben nicht, und dann fühlt es sich an wie „Wow, der olle Beethoven. Schon schlau.“

Ich sehe allmählich Dinge, die ich vorher nicht gesehen habe. Notenverläufe, die Dialoge zwischen Instrumenten darstellen. Fermaten, die keine schnöde Pause sind, sondern den Sänger oder die Sängerin flehend zurücklassen. Akkorde sind mehr als ein paar gemeinsame Noten, sie sind der Weg zur Auflösung oder zur völligen Verzweiflung, sie klingen nicht, sie leiten mich. Und bei Bildern ist es genauso: Die Romanik ist nicht mehr oll und platt, sondern eine faszinierende Vorstufe zur geliebten Gotik. Ich sehe ganz langsam die Kunstfertigkeit an den Reliefs, Kapitellen und Tympana, die ich vor gerade acht Wochen noch als naiv und unfertig empfunden habe. Inzwischen benutzte ich hemmungslos das schwärmerische Vokabular des Professors, dessen Vortragsstil ich immer noch anstrengend finde, aber ich spüre inzwischen, warum er so begeistert ist und uns ebenso begeistern will.

So wie bei der Eva, die sich ursprünglich im Türsturz des Nordportals von Saint-Lazare in Autun befand und heute im Musée Rolin zu bewundern ist.

(Klick!)

Die Skulptur wurde ungefähr um 1130 gefertigt, und wir wissen sogar, von wem, denn der Herr meißelte seinen Namen mal eben ins Portal. Es ist Gislebertus, einer der ersten Meister, die wir namentlich kennen. Was an an der Eva so faszinierend ist: Sie ist einer der wenigen Akte im Mittelalter, wo die Damenwelt sich eher bekleidet zeigte. Außerdem liegt sie, was einerseits ihrer Position zu verdanken ist – ein Türsturz ist nun mal eher breit als hoch –, aber was Gislebertus daraus gemacht hat, ist spannend. Erzählt wird, wie man leicht erkennen kann, der Sündenfall: Eva greift nach dem Apfel. Aber: Wo ist die Schlange, die sonst gerne abgebildet wurde? Ganz einfach: Eva verkörpert auch sie. Ihre liegende Haltung könnte nämlich auch so gedeutet werden, dass sie sich schlangengleich fortbewegt. Ihre Beine sind versetzt anstatt unbewegt hintereinander; sie scheint die Pflanzen vor sich wegzuschieben, die Halme werden von ihrem Oberkörper und Kopf gebogen. Dann: ihre Hand, mit der sie nach dem Apfel greift – sie sieht ein wenig wie das geöffnete Maul einer Schlange aus. Und schließlich ihre Haare, die sich feingliedrig an ihrer Schulter und ihrem Oberarm entlangzüngeln: Auch sie erinnern an der verführerische Kriechtier.

Auch der Rest des Türsturzes ist durchgestaltet: Pflanzen in verschiedenen Ausführungen umranken die Figur, durch die sie sich hindurchschlängelt. Ihre rechte Hand liegt sanft an ihrer Wange: Zweifelt sie? Zögert sie? Fast sieht es so aus, als würde ihre linke Hand gar nicht zu ihr gehören. Aber: Sie greift trotz allem nach dem unheilbringenden Apfel. Die Verführung der Schlange ist perfekt.

Und so sehe ich inzwischen fast alle Skulpturen. Ich sehe anders. Ich sehe genauer. Ich denke länger über Gesten nach, Motive, Gewandfalten, Hintergründe, Perspektiven. Und ich lasse mich gnadenlos und Hals über Kopf fallen in diese Schönheit, vergesse meine Coolness, meine Abgebrühtheit, meine Distanz, ich schwärme in meinen Protokollen genau wie im Blog und anscheinend klinge ich auch beim Referat so. (Jede/r sollte so klingen!)

Gestern fielen überraschenderweise die Kurse zur Messe in der Renaissance und zu den Beethoven-Trios aus, und anstatt zu denken, yay, nach Hause fahren und Serien gucken, dachte ich: Ach Mist. Ich hatte mich doch so auf euch gefreut.

* Exposition (Hauptthema, Überleitung, Nebenthema), Durchführung, Reprise, Coda.

< quote >

„Mein lieber Herr Kappus,

Ich will wieder eine Weile zu Ihnen reden, lieber Herr Kappus, obwohl ich fast nichts sagen kann, was hilfreich ist, kaum etwas Nützliches. Sie haben viele und große Traurigkeiten gehabt, die vorübergingen. Und Sie sagen, daß auch dieses Vorübergehen schwer und verstimmend für Sie war. Aber, bitte, überlegen Sie, ob diese großen Traurigkeiten nicht vielmehr mitten durch Sie durchgegangen sind? Ob nicht vieles in Ihnen sich verwandelt hat, ob Sie nicht irgendwo, an irgendeiner Stelle Ihres Wesens sich verändert haben, während Sie traurig waren? Gefährlich und schlecht sind nur jene Traurigkeiten, die man unter die Leute trägt, um sie zu übertönen; wie Krankheiten, die oberflächlich und töricht behandelt werden, treten sie nur zurück und brechen nach einer kleinen Pause um so furchtbarer aus; und sammeln sich an im Innern und sind Leben, sind ungelebtes, verschmähtes, verlorenes Leben, an dem man sterben kann. Wäre es uns möglich, weiter zu sehen, als unser Wissen reicht, und noch ein wenig über die Vorwerke unseres Ahnens hinaus, vielleicht würden wir dann unsere Traurigkeiten mit größerem Vertrauen ertragen als unsere Freuden. Denn sie sind die Augenblicke, da etwas Neues in uns eingetreten ist, etwas Unbekanntes; unsere Gefühle verstummen in scheuer Befangenheit, alles in uns tritt zurück, es entsteht eine Stille, und das Neue, das niemand kennt, steht mitten darin und schweigt.“

Rainer Maria Rilke, Brief an Franz Xaver Kappus, 1904

Dezemberjournal: Lesestunde (2)

„Im gotischen Dom ist ein Weltalter versteinert. Die ewigen Formen leben unter uns. Die ewigen Räume sind uns aufgetan. Noch tönt uns die Raum-Musik; noch glüht die Farbenmystik der Glas-Fenster; noch redet uns Goldgrund-Bild und Stein-Gestalt. Aber hinter diesen Räumen, Bildern und Gestalten ruht eine Welt der Dichtung und des Gedankens, die uns verborgen ist: die heiligen Sagen des Mittelalters sind verklungen, die heiligen Bücher sind verschlossen; Worte dringen nicht mehr an unser Ohr. Was in Steinen gedacht ist, steht fest und dauert, zu zeitloser Kunstgestalt erhöht. Was aber in Worten gedacht und gedichtet ist, das wird ins Schicksal der Begriffe mit hineingezogen; der Verstand anderer Zeiten fragt nach dem Falsch und Richtig; Sinn-Bilder des Geistes werden als Erkenntnis-Irrtum für Fabel und Aberglaube erklärt, verworfen, – vergessen.

Was wissen wir von dem Geist des Mittelalters? Ist er in den Bekenntnis-Streitigkeiten der Bischöfe und Äbte? Ist er im Haß der Kaiser und Päpse? Wird er erkannt im historischen Geschehen? Die Taten einer Zeit spiegeln den Geist nicht, sie sind aus irdischer Not geboren. In den Werken lebt der Geist wohl – er enthüllt sich aber dem nicht, der nur von ihnen weiß, der nur die Ergebnisse des Denkens und Betrachtens kennt, die Fortschritte und Errungenschaften oder Irrtümer, aus denen in unsern Lehrbüchern das Bild eines vergangenen Zeitalters zusammengestückt wird.

Darum führt kein heutiges Lehrbuch mit noch so viel Daten und Schilderungen uns in den Geist des Mittelalters; sondern nur ein Buch jeder Zeit selbst, das wir lesen. Denn hier ist dieselbe Kraft am Werke, die die Dome gewölbt hat: im Zusammentragen unzähliger Materie, in der Freude am riesenhaften Aufbau, im Überspannen der Räume, in der Fähigkeit zum Bändigen, Abschließen, Krönen. Und bei allem Erkenntnisumfang ist diese Weltansicht kein Wissen gewesen, das etwa nur der Besitz einer abgesonderten gebildeten Kaste gewesen wäre: sie war Leben, täglich gegenwärtiges Leben; sie ward Gestalt für jeden Tag des Jahres; sie prägte sich jedem ein in dauernder Wiederkehr: durch die Feste und liturgischen Feiern des Kirchenjahrs. Das ist der Sinn des Heiligenkalenders gewesen: nicht nur das Gedächtnis einiger Märtyrer und Bekenner zu begehen; sondern die Seele des Menschen ewig in Berührung zu halten mit dem großen Heilsgeschehen, das sich von der Schöpfung an bis zum jüngsten Gericht symbolisch in dem Reich Gottes und des Teufels abgespielt hat und abspielen wird. Dazu gehört nicht nur die heilige Legende, sodnern auch die weltliche Sage; nicht nur die Lehre der Kirchenväter, sondern auch die Zauberei und verbotene Kunst der heidnischen Meister – Überlieferung aus allen Weltaltern: aber immer auf den einzelnen Menschen bezogen, immer aufs Heil seiner Seele gewendet.

Ein Buch, das diese ewige Vergegenwärtigung alles geistig und leiblich Vergangenen im kultischen und liturgischen Leben des Mittelalters darstellte, müßte uns wahrhaft in den Geist des Mittelalters führen. Ein solches Buch hat es gegeben: es ist die Legenda aurea des Jacobus de Voragine.“

Aus der Einleitung zur Legenda aurea in der Übersetzung von Richard Benz. Eine unserer Kunstgeschichtsdozentinnen hat uns diese Einleitung (die noch ein paar Seiten länger ist) zusammen mit einer der Heiligengeschichten als Hausaufgabe gegeben; es geht um den Umgang mit Quellentexten. Und anstatt mir darüber Gedanken zu machen, sitze ich mal wieder glücklich-grinsend vor einem Text, dessen Stil mir persönlich sehr zusagt, weil er Worte und meine frisch liebgewonnenen gotischen Kathedralen so schön verknüpft. Und natürlich weil er mich auf ein Buch aufmerksam gemacht hat, das ich nun dringend lesen will. Eine literarische Vorlage für Bilder aus knapp 1000 Jahren – wieso hatte ich bisher noch nie davon gehört?

Dezemberjournal: Lesestunde

„Keines der Wagnerschen Musikdramen endet, wie gesagt, in Moll, alle, von Rienzi bis zum Parsifal, schließen in Dur. Das darf man aber nicht zu eindeutig verstehen. Dur ist nicht einfach mit fröhlich gleichzusetzen und Moll nicht mit traurig. Eine Dur-Tonart (von lateinisch „durus“ = hart) hat im Gegensatz zu einer Moll-Tonart (von lateinisch „mollus“ = weich) schärfere Kanten und Konturen. Sie ist unmissverständlicher. Wenn Wagner seine Welten allesamt in Dur untergehen lässt, dann spricht das auch für die Klarheit seines Blicks. Mit dieser oder jener finalen Situation haben wir uns auseinanderzusetzen, da gibt es nichts zu deuteln und nichts zu bemänteln. Auch im Tristan nicht, der mit einem H-Dur-Akkord endet: fünf Kreuze (fis, cis, gis, dis, ais), eine Tonart, die von Hector Berlioz als „erhaben, sonor, strahlend“ charakterisiert wird. Ein helles, fast gleißendes Licht ergießt sich über die Szenerie, „Rührung und Entzückung unter den Umstehenden“ vermerkt das Libretto, und nach all den harmonischen Ambulanzen und konvulsivischen Taktwechseln des Liebestods kommt auch die Partitur zur Ruhe, „morendo“, „rallentando“, ersterbend, langsamer werdend. Drei Tote liegen auf der Bühne. Und Isolde? „Wie verklärt sinkt sie sanft in Brangänes Armen auf Tristans Leiche.“ Stirbt sie auch? Ist das die schiere Katastrophe oder glimmt am Ende nicht doch ein kleines Licht? (…)

f – h – dis – gis: ein unscheinbarer Vierklang, auf den ersten Blick. Und doch öffnen sich mit ihm im zweiten Takt Höllentor und Himmelspforte zugleich. Dieser Akkord, der sogenannte Tristan-Akkord, ist das Losungswort, der Code für die gesamte musikalische Moderne. Ein Akkord, der sich keiner Tonart zugehörig weiß. Ein Akkord an der Grenze zur Dissonanz. Ein Akkord, der für sich steht und schwebt und nirgendwohin strebt. Der Tristan-Akkord sucht sein Heil nicht in der nächstmöglichen Konsonanz, wie es die klassische Harmonielehre verlangt; der Tristan-Akkord ist sich selbst genug. Ganz wie Tristan und Isolde sich genügen und nichts kennen als ihre Liebe. Kein Eheversprechen, keine Treue, keine Vergangenheit, keine Angst, nicht einmal die vor dem Tod. (…)

Die Musikwissenschaftler sind in der Analyse und Exegese dieses Akkords bis heute zu keinem eindeutigen Ergebnis gelangt. Was soll er sein: ein alterierter Terzquartakkord, die Umkehrform eines Doppeldominantseptakkords mit tiefalterierter Quinte, ein Subdominantdreiklang mit sixte ajoutée oder gar ein verkürzter Dominantnonenakkord? Ich denke, dieses Stochern und Wühlen im theoretischen Werkzeugkasten zeigt vor allem eins: unsere Unzulänglichkeit. Und das gilt für die gesamte Tristan-Musik, die sich mit herkömmlichen Parametern kaum fassen lässt. Da existiert harmonisch keine Dur-Moll-Tonalität mehr und formal nicht der kleinste Rest der alten Nummernoper. (…) Stattdessen herrschen Chromatik und freier Kontrapunkt, und die Gesangsstimmen fügen sich fast instrumental ins symphonisch-opiatische Gewebe des Ganzen ein. Mit dem Tristan überschreitet Wagner eine Grenze, die erst ein halbes Jahrhundert später sichtbar wird. Der Tristan ist die Musik zu Freuds Psychoanalyse, zur Literatur Thomas Manns und die Initialzündung für das kompositorische Weiterdenken eines Gustav Mahler, Arnold Schönberg, Alban Berg oder Claude Debussy.“

Ich mag Christian Thielemanns Mein Leben mit Wagner sehr. Es klingt übrigens nicht immer so wie aus einem Musikwissenschaftskurs an der LMU; Thielemann erzählt kurz seinen Werdegang und erklärt dann sehr anschaulich, wie er als Dirigent in verschiedenen Orchestergräben klarkommt, wie er es schaffen muss, Sänger, Sängerinnen und das Orchester unter einen Hut zu bekommen und wo welche Wagner-Oper am besten klingt. Und natürlich plaudert er über Bayreuth, was ich besonders gern gelesen habe. Buchempfehlung für den Gabentisch.

Dezember-Journal: Singalong

Nach sieben Wochen Pause war ich gestern endlich mal wieder singen. Gesungen habe ich natürlich auch in München, aber ohne Zuhörer. Jedenfalls glaube ich, dass die Wände vom temporären Mitbewohner recht dick sind; ich habe von den Nachbarn nie was mitgekriegt. Falls ich doch etwas lauter war – Billy Joel kann niemand schlecht finden.

Gestern also, wie gesagt, mal wieder mit Lehrerin am Klavier und vor allem zum ersten Mal in einem größeren Raum, einem Studio, das schön hallt. Es fühlte sich so an, als würde ich mich zum ersten Mal selbst hören. Bei meinem ersten Lehrer vor 100 Jahren stand ich mit ihm in einem gefühlt zehn Quadratmeter großen Raum, in den gerade wir beide, ein Klavier und ein Tisch passten. Zudem war er schallgedämpft, weil um uns rum im Theater vom „König der Löwen“ noch genug andere Leute Singen geübt haben. Bei meiner Lehrerin stehe ich in ihrem Wohnzimmer, was auch nicht gerade riesig ist. Aber gestern stand ich zum ersten Mal in einem leeren, langen Raum mit Parkettfußboden und einer Akustik, die ihren Namen verdient. Ich habe ganz automatisch weniger gepusht und mich weniger angestrengt, weil meine Stimme auch so den Raum erfüllt hat, was ich sehr unheimlich und gleichzeitig sehr toll fand.

Nach zwei schmissigen Liedern zum Reinkommen lag dann mal wieder „Defying Gravity“ auf dem Klavier. Ich hatte gute Laune, wie überhaupt fast immer in den letzten Wochen (den üblichen „one of those days“ gibt’s ja immer), fing laut und sicher an – und kam genau bis zur siebten Zeile am Ende der ersten Strophe.

„Something has changed within me
Something is not the same
I’m through with playing by the rules
Of someone else’s game

Too late for second-guessing
Too late to go back to sleep
It’s time to trust my instincts
Close my eyes: and leap!“

Dann war mal wieder die Kehle zu und die Tränen flossen. Ich bin in diesen Momenten immer hin- und hergerissen zwischen „Oh wow, was Musik anrichten kann“ und „DAS NERVT!“ Meine Lehrerin sagt dann jedesmal, lass es kommen, das ist okay, das ist eine körperliche Reaktion, freu dich, dass Musik das mit dir macht und so weiter und so fort. Mich nervt es aber trotzdem, weil ich der Musik und vor allem dem Text so schutzlos ausgeliefert bin. Und es ist jedesmal ein anderer Text, dem ich ausgeliefert bin.

Als ich ein bisschen Herzschmerz mit mir rumschleppte, war „What I did for love“ aus „A Chorus Line“ eine ganz blöde Idee. Als mich die Wahl der richtigen Universität plagte, konnte ich kein „Yentl“ singen. Und jetzt, wo ich mir sicher bin, dass die LMU die richtige Wahl war, kommt so was. Ich habe meinen Instinkten getraut und nicht der Vernunft, die mir sagte, lass den Quatsch, bleib in deinem Job, bleib in Hamburg, verdien weiter Geld. Stattdessen räume ich gerade mein Tagesgeldkonto leer und führe eine Wochenendbeziehung – aber dafür bekomme ich in jeder Stunde an der Uni so unglaublich viel zurück. Und natürlich ist das immer noch ein großer Sprung ins Ungewisse: Wie läuft das mit der Arbeit nebenbei, wie gut komme ich mit dem Studium zurecht, wie gut verkraftet meine Beziehung die zeitweiligen Trennungen?

Aber tief in meinem Herzen weiß ich: Das war die richtige Entscheidung. Der Sprung war gut, und er wird sich lohnen. Wahrscheinlich nicht finanziell, aber diese Erfüllung hatte ich die letzten Jahre. Und genau diese Jahre ermöglichen mir jetzt das Studium.

Wenn da nicht der übliche nörgelnde Zweifel wäre. Den habe ich mir während meiner Diätjahre prima rangezüchtet, das ständige Selbstüberprüfen, das dauernde Vergleichen mit anderen, das ewige Runtermachen von eigenen Meilensteinen. Das hast du alles nicht verdient, denn du bist noch nicht dünn genug. Darüber darfst du dich noch nicht freuen, denn du bist noch nicht dünn genug. Dein Leben kann gar nicht großartig sein, denn du bist noch nicht dünn genug. Den Zahn habe ich mir eigentlich in den letzten Jahren gezogen, aber irgendwas ist da anscheinend immer noch in mir drin, dass mir sagt, dass ich es nicht verdient habe, mich über irgendwas zu freuen. Und deswegen werfen mich solche Songzeilen immer so um, weil ich mich ihnen ausliefere, ohne Schutzschild, ohne meine übliche distanzaufbauende Ironie – ich stehe in einem Raum und singe darüber, meine Instinkten zu trauen und einfach zu springen. Mein Kopf macht darüber sofort Witze, aber mein Herz weiß: Genau das hast du gerade gemacht, und darauf kannst du verdammt noch mal stolz sein. Aber das muss ich immer noch lernen: auf mich stolz zu sein. Mir selbst auf die Schulter zu klopfen und mich einfach mal machen zu lassen. Ohne die eigene, interne Scheißstimme, die mich runtermachen will, weil sie mich jahrelang runtergemacht hat.

Aber so langsam höre ich nicht mehr auf sie. Ich nehme mir ganz allmählich den Platz, der mir zusteht, anstatt mich in einer Ecke rumzudrücken. Ich mache in der Uni den Mund auf, genau wie im Gesangsunterricht. Ich bin laut. Und ich will noch lauter werden. Gesprungen bin ich schon. Mir kann überhaupt nichts mehr passieren.

“I’m through accepting limits
Cuz someone says they’re so
Some things I cannot change
But till I try I’ll never know

Too long I’ve been afraid of
Losing love I guess I’ve lost
Well if that’s love
It comes at much too high a cost

I’d sooner buy defying gravity
Kiss me goodbye, I’m defying gravity
And you can’t pull me down!”

Twitter-Lieblinge im November 2012

Hans Memlings Devotions- und Ehepaardiptychen

(Das war mein heutiges Referat bzw. das sind meine huschig ausformulierten Notizen. Die fortgeschrittenen oder schon fertigen Kunsthistoriker_innen überspringen dieses Erstsemestergeschwurbel besser. Oder lehnen sich gemütlich zurück und denken sich, ach ja, so klein war ich auch mal.)

Zur Erinnerung: Mein Kurs heißt „Die Anfänge der Porträtmalerei im 14. und 15. Jahrhundert“. Bisher haben wir unter anderem das vermutlich erste autonome Künstlerporträt kennengelernt. Die Referentin vor mir erzählte dann etwas über Petrus Christus, der mit seinem Porträt des Edward Grimston das erste Bildnis schuf, in dem ein klarer Raum erkennbar war. Vorher standen die gemalten Menschen unmotiviert vor diffusen, meist dunklen Hintergründen. Oder wir hatten das Stifterbild wie die Rolin-Madonna, in der sich die Porträtierten zwar in einem Raum befinden, aber der ist noch irreal. Zudem besteht eine klare Trennung zwischen der göttlichen und der profanen Sphäre.

Das änderte sich alles mit Memlings „Diptychon des Maarten van Niewenhove“.

Hans Memling wurde zwischen 1433 und 1440 in Seligenstadt bei Frankfurt geboren (die meisten Forscher tendieren eher zu später als zu früher), in Brügge ist er erstmals 1465 nachweisbar, gestorben ist er dort 1494. Er war einer der produktivsten Maler des 15. Jahrhunderts in den Niederlanden; es sind fast 100 seiner Werke erhalten, und davon waren ein Drittel Porträts.

Diptychen sind keine neue Erfindung, bereits im antiken Rom gibt es eine klappbare Schreibtafel namens „diptycha“. Diese Form des Gemäldes erfreute sich aber in der zweiten Hälfte des 15. sowie in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts großer Beliebtheit. Das hing mit der „Devotio moderna“ zusammen, der „modernen Andacht“. Sie stellte die private Andacht dem öffentlichen Gottesdienst gleich bzw. ermunterte die Gläubigen, sich auch privat mit ihrer Spiritualität zu beschäftigen sowie das Leben Jesu bzw. seine Menschlichkeit zu erforschen. Private Einkehr, individuelle Bibelstudien und Meditation schufen einen neuen, persönlichen Kontakt zum Göttlichen.

Dafür sind Devotionsdiptychen schlicht praktischer als Gemälde, die an der Wand hängen. Sie sind meist kleinformatiger; sie wurden auf Kissen gelegt, auf ein Pult gestellt oder in Familienkapellen genutzt, um zu beten. Das Diptychon des van Nieuwenhove hing (ja, eine Ausnahme, ich komme noch darauf, warum) in der Liebfrauenkirche in Brügge), wo die Familie eine Privatkapelle besaß.

Brügge war im 15. Jahrhundert ein wichtiger und wohlhabender Handelsplatz. Eine vermögende Mittelschicht aus Kaufleuten und Bankiers konnte es sich leisten, Gemälde, Porträts oder Diptychen anfertigen zu lassen. (In einem Buch fand ich das schöne Zitat „Die Kunst ist immer da, wo das Geld ist“, aber ich Nase habe mir natürlich nicht notiert, von wem der Satz stammt. Dieses wissenschaftliche Arbeiten muss ich noch üben.)

Bei den Devotionsdiptychen gibt es zwei Darstellungsweisen: einmal je einen oder eine Heilige/n pro Flügel oder das sogenannte Stifterbild: eine/n Heilige/n (meist die Madonna mit Kind) sowie den Stifter, das heißt, den Auftraggeber des Bildes.

Diptychon des Maarten van Nieuwenhove

(Klick macht groß)

1487
Öl auf Eichenholz
jeder Flügel 52 x 41,5 cm
Originalrahmen
Memlingmuseum, Brügge

Maarten van Nieuwenhove wurde 1463 in eine einflussreiche Brügger Familie geboren; einige Familienmitglieder waren bereits ranghohe Politiker im Stadtrat von Brügge oder in der Verwaltung von Burgund. Maarten strebte eine ähnliche Karriere an. Nach einigen Schwierigkeiten gelang ihm das auch: 1492 wurde er Ratsherr, 1497 Bürgermeister von Brügge, gestorben ist er 1500. Er ließ das Andachtsdiptychon allerdings bereits 1487 anfertigen, als er noch kein politisches Amt innehatte.

Bildbeschreibung

In der linken Hälfte sehen wir die Madonna mit Kind als Halbfigur, frontal, hinter einer Mauer oder einer Balustrade. Sie ist reich geschmückt und sehr elegant gekleidet. Neben ihr im rechten Flügel Maarten van Nieuwenhove, ebenfalls prächtig gekleidet. Er war offensichtlich gerade im Gebet versunken – sein geöffnetes Gebetbuch liegt vor ihm –, als ihm die Madonna erschien; sein überraschter Gesichtsausdruck kündet davon. Das Besondere bzw. der Unterschied zu den Räumen, in denen sich Stifter und Madonna bisher befanden: Diese beiden sind in einem echten Raum, keinem imaginären. Genauer gesagt, in Maartens guter Stube.

Mehrere Details weisen auf den Stifter hin: Auf dem linken Rahmen steht die (übersetzte) Bildunterschrift „Maarten van Nieuwenhove hat dieses Werk machen lassen im Jahre des Herrn 1487“, rechts steht „im Alter von 23 Jahren“. Hinter beide Sätze ist jeweils ein winziger Drache gezeichnet, dessen Bedeutung wir leider nicht kennen.

Im Fenster hinter der Madonna sind das Familienwappen sowie das -motto sichtbar („Il ya cause“, „nicht ohne Grund“). Außerdem erkennen wir vier Medaillons, auf denen eine Hand goldenen Samen aussät – eine klare Anspielung auf den Familiennamen, der übersetzt „neuer Hof“ bzw. „neuer Garten“ lautet. Ebenfalls hinter der Madonna: zwei vermutlich persönlich gewählte Schutzheilige von van Nieuwenhove, St. Georg sowie St. Christopherus.

Zusätzlich im Bild, direkt hinter Maarten: St. Martin, sein Namenspatron. Und noch etwas viel wichtigeres: der Mittler. Wenn sich ein/e Heilige/r und ein Mensch in einem Bild begegnen, geht das nicht ohne Mittler. Das ist normalerweise ein/e andere/r Heilige/r oder ein Engel. Memling, der schlaue Fuchs, wollte sich aber nicht seine schöne Bildkomposition mit den zwei Porträtierten ruinieren lassen, und so nutzte er den Hl. Martin schlicht als großes Fensterbild, um ihn als Mittler im Bild zu haben, ohne dass er groß auffällt. (Das ist übrigens ein klassisches Beispiel für den sogenannten disguised symbolism“ von Erwin Panofsky, also ganz simpel: Eine Pfeife ist manchmal mehr als eine Pfeife.)

Eine weitere Besonderheit: die Landschaft. Sie ist klar als ein Blick über den Brügger Minnegarden identifizierbar. Auch hier: Wir befinden uns nicht in einer imaginären Fantasiewelt, sondern mitten im Leben. Zudem stimmt die Perspektive. Wenn ihr dieses Bild mit der Rolin-Madonna vergleicht, wird klar, was ich meine. Rolin und seine Heilige befinden sich in einer Höhe über der Landschaft, die damals nicht möglich war. Hier sieht alles deutlich realer aus.

Das liegt auch an Memlings Stil, den Dirk de Vos, Konservator im Groeningemuseum in Brügge, als „skulptural“ bezeichnet. Während van Eyck noch sehr „malerisch“ arbeitete, also mit dramatischem Licht und großer Geste, wo Memlings Lehrherr Rogier van der Weyden noch stark an die Fläche gebunden malte und seine Figuren sehr linear aussahen, wirken Memlings Menschen fast dreidimensional. de Vos schreibt, man könne Memlings Figuren ohne Probleme als Skulptur nachbilden, was vorher bzw. bei anderen Malern vor ihm eher selten der Fall war.

Diese Dreidimensionalität versucht Memling auch auf andere Weise zu erzielen: Kleine Trompe-l’oeil-Effekte lassen das Bild plastischer wirken. Hier wirft das Kissen, auf dem das Jesukind ruht, einen kleinen Schatten auf den Rahmen, und auch der Mantel der Maria geht über die reine Bildfläche hinaus.

Was man in diesem Ausschnitt ebenfalls sieht: die Aufhebung der Trennung zwischen Weltlichem und Göttlichem. Der orientalische Teppich auf der Balustrade geht vom linken in den rechten Flügel über, genau wie der Mantel der Madonna – auf dem Maarten sogar sein Gebetbuch ablegt. Und noch ein wichtiges Detail informiert über die Trennung: der kleine konvexe Spiegel hinter der von uns aus linken Schulter der Madonna.

Das Spiegelbild zeigt Stifter und Madonna im gleichen Raum. Maarten kniet neben der Madonna, neben der noch ein aufgeschlagenes Buch liegt. Hinter ihnen (also eigentlich vor ihnen) befinden sich zwei Fenster – und das sind genau die „Fenster“, durch die wir auf die beiden blicken, nämlich die Rahmen des Diptychon. Leon Battista Alberti schrieb 1440, dass ein Bild ein Fenster sei, das unseren Blick öffne. Die Idee, mit einem Spiegel eine Perspektive zu zeigen, die sonst nicht von uns einsehbar wäre, ist nicht neu. Das bekannteste Beispiel ist sicherlich van Eycks Arnolfini-Hochzeit, in dessen Spiegel sich der Maler selbst verewigt hat. Auch Memling nutzte in anderen Bildern den Spiegel, genau wie Petrus Christus, der in einem Bild eine Ladenzeile zeigte, in der ein Spiegel steht, der uns den Blick auf die Straße vor dem Laden freigibt. (Nebenbei: Der Flachspiegel war noch nicht erfunden, daher hängen in diesen ganzen Bildern Konvexspiegel. Wenn man sich die „Fischaugenoptik“ vergegenwärtigt, ist es noch beeindruckender, dass van Eyck sich selbst malte, indem er in einen dieser gekrümmten Spiegel blickte.)

Ich erwähnte oben, dass dieses Diptychon vermutlich an der Wand hing anstatt Maarten auf einem Plüschkissen beim Gebet zu unterstützen. Das hängt mit dem Bild und dem Stifter selbst zusammen, denn es erfüllt zwei Funktionen. Es sollte sicherlich auf die eigene Frömmigkeit hinweisen, aber: Es ist gleichzeitig eine ziemlich unverhohlene Wahlwerbung. van Nieuwenhove wusste genau, warum er seine Insignien so deutlich kommunizierte und das Bild vor allem in der öffentlich einsehbaren Familienkapelle platzierte: Weil er jeden darauf hinweisen wollte, aus welch guter Familie er stammte und über welchen sozialen Status er verfügte.

Der zweite Teil meines Referats beschäftigte sich (deutlich kürzer) mit den Ehepaardiptychen von Memling.

Bildnis eines alten Ehepaars, um 1470–75
Mann: Berlin, Staatliche Museen, 36,1 x 29,4 cm, Öl auf Eichenholz
Frau: Paris, Musée de Louvre, 35,4 x 29,3 cm, Öl auf Eichenholz

Ehepaarporträts waren meist Hochzeitsporträts und hatten einen dokumentarischen Charakter. Sie waren sehr privat und wurden nicht herumgezeigt oder ausgestellt. Die Funktion dieses Bilds ist unklar; die beiden sind zu alt, um frisch verheiratet zu sein. Es könnte ein schlichtes Erinnerungsbild sein. Beim Adel waren Porträts schon länger bekannt, auch um fernen Verwandten klarzumachen, wie der Enkel eigentlich aussieht oder die kleine Infantin, die diesen Enkel eines Tages heiraten könnte.

Im Bürgertum waren Porträts noch nicht so lange gang und gäbe, und deswegen ist dieses Bild so interessant. Es ist ein Diptychon – aber auch hier wird die Trennung zwischen den beiden Figuren aufgehoben. Die Balustrade, vor der die beiden sitzen, verbindet die Hälften, genau wie die Landschaft im Hintergrund (die übrigens auch wieder perspektivisch korrekt ist und keine Fantasiegefilde zeigt). Der einzige Grund, warum Memling ein Diptychon malte: Er wusste es nicht besser. Es gab zu diesem Zeitpunkt noch kein einziges Ehepaarporträt in Halbfigur, das die Dargestellten auf einer Tafel zeigte. Also nutzte er, wie immer, zwei.

Und das sind die kleinen Details, die für mich die Kunstgeschichte so spannend machen: Was war bekannt, was wurde gerade erst erarbeitet? Woher kamen die Inspirationen? Was änderte sich wann und warum? Alleine bei der Recherche zum Maarten-Diptychon bin ich über so viele Fragestellungen gestolpert, dass ich es kaum erwarten kann, meine Hausarbeit darüber zu schreiben.

Literatur (Auswahl):
Belting, Hans; Kruse, Christiane, „Die Erfindung des Gemäldes“, München 1994
Beyer, Andreas, „Das Porträt in der Malerei“, München 2002
Borchert, Till-Holger (Hrsg.), „Hans Memling – Portraits“, Stuttgart 2005
de Vos, Dirk, „Hans Memling – das Gesamtwerk“, Stuttgart 1994
Dülberg, Angelica, „Privatporträts – Geschichte und Ikonologie einer Gattung im 15. und 16. Jahrhundert“, Berlin 1990
Hand, John Oliver (Hrsg.), „Prayers and Portraits – Unfolding the Netherlandish Diptych“, Washington 2006
Lane, Barbara G., „Hans Memling, Master Painter in Fifteenth-Century Bruges“, London 2009
Winkler, Friedrich, „Die altniederländische Malerei“, Berlin 1924

Audi-Fahrhilfen: Maria Kühn, Gerd Schönfelder, Vico Merklein

(Alle Fotos stammen von Jo Magrean und ich veröffentliche sie hier mit hoffentlich freundlicher Genehmigung der AUDI AG. Ehrlich gesagt warte ich seit Wochen auf eine Ansage, weswegen ich das Risiko mal eingehe, sie vielleicht doch wieder von der Seite nehmen zu müssen, aber jetzt ist der Katalog frei und erschienen und jetzt darf ich endlich über ihn schreiben. Dann mach ich das natürlich auch. Die Vorgeschichte zu diesem Katalogtext steht übrigens hier.)

„Ich mache alles mit links.“

Der Alpin-Skifahrer Gerd Schönfelder wurde am 2. September 1970 geboren und lebt in Kulmain/Bayern. Er fährt einen daytonagrauen Audi A6 Avant S line mit dem Multifunktionsdrehknauf.

Jahrelang beherrschte Gerd Schönfelder die Alpinski-Szene der behinderten Athleten, nahm an sechs Paralympics teil und gewann dort 16 Gold- sowie einige Silber- und Bronze-Medaillen. Aber wenn es um Sport geht, bekommt er nie genug: „Ich spiele Tennis, Fußball und Golf, gehe schwimmen, radfahren und Inline-Skaten. Zuhause habe ich ein Quad, und demnächst würde ich gerne Kitesurfen. Kajakfahren steht auch noch auf dem Plan; es gibt Boote, die man mit den Füßen antreibt.“ Warum das wichtig ist: Schönfelder verlor bei einem Unfall vor über 20 Jahren seinen rechten Arm samt Schulter sowie einige Finger der linken Hand. Das hindert ihn aber nicht daran, diverse Sportarten auszuüben: „Der Körper ist sehr flexibel. Und notfalls nutzt man eben Hilfsmittel. Golf spiele ich mit einer Manschette, die ich am Handgelenk befestige. Ohne die würde ich bei jedem Schwung den Schläger weiterschlagen als den Ball“, lacht Schönfelder.

Seine positive Grundhaltung ist bei allem spürbar. Er bewegt sich lässig und entspannt, lacht viel, albert beim Fotoshooting gut gelaunt vor der Kamera herum. Sein Optimismus half ihm auch nach dem Unfall, der alles veränderte. „Zunächst war es natürlich schlimm – aber ich kann gut verdrängen. Ich sagte mir, alles zu seiner Zeit, ein Schritt nach dem anderen. So habe ich mir alles zurückerkämpft: essen, sich alleine anziehen, den Alltag eben. Ich bin relativ erfinderisch – ich überlege mir, wie etwas werden muss, und dann versuche ich, es umzusetzen.“

Das ist ihm sehr erfolgreich gelungen. Schon ein halbes Jahr nach dem Unfall stand er wieder auf Skiern, die ihn seit Kindertagen begleiten. „1990 waren das Material und die Technik anders als heute; es gab noch keine Carving-Ski, nur die normalen langen Latten. Es wurde viel aus dem Oberkörper heraus gefahren, weniger mit Stockhilfe. Das kam mir zugute. Und: Man stellt sich relativ schnell auf das Handicap ein. Ich war Rechtshänder und schreibe jetzt halt mit links – was bleibt mir übrig? Ich mach‘ jetzt alles mit links.“

„Behindert ist man nur, wenn man sich behindern lässt.“

Der Weg zurück in die Öffentlichkeit fiel zunächst schwer. Anfangs trug Schönfelder eine Prothese, um, wie er sagt, nicht aufzufallen. „Aber mich hat das Ding gestört, das war ein Fremdkörper ohne Funktion. Deswegen habe ich sie ziemlich schnell wieder abgelegt.“ Schönfelder weiter: „Ich fühle mich nicht behindert. Behindert ist man nur, wenn man sich in seinem Tun einschränken lässt. Wenn du alles machst, was du machen willst, bist du nicht behindert. Und ich mache alles.“ Er überlegt kurz und grinst dann: „Okay, Klavierspielen wär‘ schwierig.“

Schönfelder beendete seine aktive Laufbahn Anfang 2012 und arbeitet nun unter anderem als Honorartrainer für die Behinderten-Ski-Nationalmannschaft. Zusätzlich ist er in seinem bayerischen Heimatdorf Kulmain als Jugendbeauftragter tätig und sitzt im Kreistag von Tirschenreuth. Eines seiner Anliegen ist die Behindertenförderung. „Es ist mir sehr wichtig, Menschen den Sport näherzubringen. Gerade für Behinderte ist es wichtig, den Körper fitzuhalten, weil man so das Handicap besser kompensieren kann. Wenn du nicht mal alleine ins Auto kommst, zum Beispiel aus einem Rollstuhl heraus, ist das schon ein großer Verlust an Lebensqualität und Freiheit.“

Sein Auto ist ein daytonagrauer Audi A6 Avant S line mit quattro-Antrieb. Als Wintersportler ist er sehr oft auf Schnee und in den Bergen unterwegs – „da brauche ich ein zuverlässiges Auto, auf das ich keine Ketten ziehen muss. 2011 beim Training hat es in Innsbruck geschneit ohne Ende. Ein Kombi mit Anhänger, auf den ein Quad geladen war, blieb liegen und blockierte die Straße. Ich habe den Fahrer gefragt, ob ich helfen kann und dann das Auto samt Anhänger zehn Kilometer den Berg raufgeschleppt. Er meinte, er sei den Berg noch nie so schnell raufgekommen.“

„Ich glaube nicht, dass mein Leben besser wäre, wenn der Unfall nicht passiert wäre.“

Auch mit den Audi Fahrhilfen ist Schönfelder sehr zufrieden – selbst wenn er sie nicht mehr so oft einsetzen muss. „Mein erstes Auto musste ich umbauen lassen, habe alles auf die linke Seite gebracht und das Licht mit dem Fuß bedient. Das ist heute nicht mehr nötig; mir kommt die technische Weiterentwicklung sehr entgegen. Mein A6 Avant verfügt über ein Automatikgetriebe und adaptive light mit gleitender Leuchtweitenregulierung – eigentlich macht das Auto alles für mich.“

Auch wenn Schönfelder im sportlichen Ruhestand ist, hat er noch genug zu tun. Neben seiner Tätigkeit als Trainer und Politiker hält er Vorträge, arbeitet als Motivationscoach und ist als Markenbotschafter für Audi unterwegs. Trotzdem bleibt endlich mehr Zeit für die Familie: „Meine Frau hat die letzten Jahre für mich zurückgesteckt, das mache ich jetzt wieder gut. Und ich freue mich darauf, auch bald mit meinen beiden Kindern Sport zu treiben.“

Sport ist für Schönfelder, wie er sagt, lebenswichtig. „Nicht nur für mich, sondern auch für die Inklusion – also die uneingeschränkte Teilnahme von Behinderten an der Gesellschaft. Gerade durch den Behindertensport ist die Wahrnehmung der nicht-behinderten Bevölkerung anders geworden. Die Leute wissen mittlerweile, was wir für Leistungen bringen. Wie Oscar Pistorius, der Weltrekordläufer. Das macht schon einen Rieseneindruck, wenn du mit Prothesen schneller bist als mit Beinen.“ Es kann allerdings auch zu ungewöhnlichen Begegnungen führen. Nach einem Wettkampf saß Schönfelder mit seinen Mannschaftskollegen am Flughafen Hamburg – „da waren zwei Rollis, zwei Unterschenkelamputierte mit ihren Krücken und ich … und da fragte eine Frau mich ganz leise, welchen Sport wir machen, dass wir so viele Verletzte haben.“

Schönfelder lacht herzhaft und wird dann still. Er sinniert: „Wenn mich jemand fragen würde, ob ich zwei Arme haben möchte, würde ich natürlich ja sagen. Aber ich glaube nicht, dass mein Leben besser wäre, wenn der Unfall nicht passiert wäre. Was ich erlebt habe, ist schon Wahnsinn.“

„Jetzt erst recht.“

Die Rollstuhl-Basketballerin Maria Kühn wurde am 14. Februar 1982 geboren und lebt in Stuttgart/Baden-Württemberg. Sie fährt einen gletscherweißen Audi A1 Sportback S line mit dem Handbediengerät classic für Bremse und Gas, dem Lenkraddrehknauf und der Pedalabdeckung.

„Eigentlich habe ich Ballsportarten gehasst!“

Ingolstadt, die Neuwagenabholung bei Audi. Maria Kühn, 30, steigt gerade von ihrem Rollstuhl das erste Mal in ihren neuen Audi A1 Sportback um. Wo ihr Lächeln schon vorher jeden Umstehenden bezaubert hat, gibt es jetzt kein Halten mehr: Sie klatscht lachend in die Hände, quietscht vergnügt vor sich hin und stellt erst einmal Fahrersitz und Spiegel mit geübten Handgriffen ein. Vor dem A1 war ein Audi A4 Avant ihr zweiter fahrbarer Untersatz: „Ich dachte, ich bräuchte wegen des Rollstuhls so viel Platz. Aber es passt auch alles bequem in den A1.“ Sie klappt den Monitor des MMI (Multi Media Interface) hoch, fährt mit den Händen liebevoll über Dekoreinlagen und das Lenkrad. Ihr neues Nummernschild begeistert sie ebenfalls, denn es trägt ihre Initialien – „das musste sein.“ Auch in anderen Lebensbereichen achtet sie auf Optik: Ihr türkisfarbenes Shirt lässt ihre blauen Augen noch mehr strahlen, und an ihrem Rollstuhl klebt ein kleines Glückskleeblatt.

Der Reitunfall, der sie zur Rollstuhlfahrerin machte, passierte, als Kühn 20 Jahre alt war. Nach dem Sportabitur arbeitete sie ein Jahr als Au-pair und gönnte sich im Anschluss daran noch einen Monat Urlaub an der Westküste der USA. Bei einem Ausritt im Monument Valley wurde ihr Pferd unruhig und stürmte los. Kühn wurde abgeworfen und ist seitdem ab dem 5. Brustwirbel abwärts gelähmt. Selbst als sie diese Geschichte erzählt, muss sie lachen: „Ich hatte vorher nie etwas! Keinen Kratzer, keine blauen Flecken – und dann das.“ Sportlich war sie immer, aber: „Eigentlich habe ich Ballsportarten gehasst! Für mein Abitur musste ich Volleyball spielen und fand es fürchterlich.“ Ironie der Geschichte: Heute ist Maria Kühn Mitglied der erfolgreichen Rollstuhlbasketball-Nationalmannschaft der Frauen. Mit ihren Kolleginnen wurde sie 2011 zum wiederholten Male Europameisterin. Zudem gewannen sie bei den Paralympics in London 2012 die Goldmedaille.

Rollstuhlbasketball – das geht ganz schön zur Sache.

Dreimal die Woche fährt sie von ihrem Wohnort Stuttgart nach Frankfurt, wo sie bei den Mainhattan Skywheelers spielt. Davor hat sie bereits den ganzen Tag gearbeitet – seit Oktober 2011 ist Kühn bei der Stuttgarter Prüf- und Sachverständigenorganisation GTÜ in der Personalabteilung tätig. „Mein Arbeitgeber kommt mir sehr entgegen: Wenn ich wegen der Nationalmannschaft reise oder länger trainieren muss, treffen wir kurzfristige Abmachungen. Aber ich muss schon sehr oft früher kommen oder länger arbeiten, um meine 40 Stunden zu erfüllen und gleichzeitig mein Trainingspensum zu halten.“

Im Training baut Kühn zunächst Ausdauer auf. „Das heißt, ich fahre ein paar Runden, stoppe die Zeit und versuche, sie auf den nächsten Runden zu unterbieten. Außerdem mache ich natürlich Wurftraining und arbeite an meiner Kraft und Fitness. Und die Chair Skills kommen auch nicht zu kurz.“ Der Basketballrollstuhl verlangt eine etwas andere Bedienung. Er wiegt mehr als der zehn Kilo leichte Alltagsrollstuhl, seine Räder sind angeschrägt und er verfügt über einen Rammschutz. „In der Bundesliga spielen wir mit Männern zusammen im Verein – das geht ganz schön zur Sache. Deswegen sind wir beim Spiel sogar angeschnallt.“

Wie ist sie überhaupt zum Basketball gekommen, wenn sie Ballsportarten doch nicht mag? Kühn lacht wieder: „Eigentlich wollte ich überhaupt nicht in eine Behindertensportgruppe. Ich habe gedacht, die bemitleiden sich da bloß alle gegenseitig. Ist natürlich Quatsch. Meine erste Idee war Rollstuhltanz. Das ging aber gar nicht – da tanzt ein Fußgänger um dich herum, während du dich ab und zu mal drehen darfst. Das war so albern! Aber in Ludwigsburg, wo ich das Tanzen ausprobierte, gab es auch Basketball. Da ging ich einfach mal vorbei – und bin begeistert geblieben.“

Als Hobbys gibt Kühn reisen, shoppen und ihre Familie an – auch wenn die inzwischen meist zu ihren Spielen kommen muss, um sie zwischen Arbeit und Leistungssport überhaupt noch zu sehen. Auch Kühns Lebensgefährte spielt bei den Skywheelers. „Er fährt einen Audi RS 3. Einmal habe ich den Wagen heimlich gefahren, das gab fast einen Beziehungskrach.“ Deswegen wird er wohl auch nicht ans Steuer ihres A1 S line dürfen. „Ich freue mich so sehr über dieses Auto. Mit den Fahrhilfen zu steuern, ist anders als die gewohnte Art, Auto zu fahren, aber eigentlich sogar leichter. Man hat eine einzige Fahrstunde. In der wird aber eher darauf geachtet, ob du die nötige Kraft hast. Einige Rollstuhlfahrer können ihren Trizeps nicht richtig einsetzen, aber dieses Problem habe ich glücklicherweise nicht. Es ist ein bisschen wie Motorradfahren – man macht eben alles mit der Hand.“

Wenn sie nicht selbst aktiv ist, schaut Kühn sich auch gerne Sport im Fernsehen an: Fußball oder Formel 1, wobei da Sebastian Vettel ihr Favorit ist. Treibt sie denn auch Sport in ihrer wenigen Freizeit? „Ja, ich fahre gerne Rad oder gehe schwimmen. Was ich auch unbedingt noch machen will, ist Fallschirmspringen oder Bungeejumping“. Sie überlegt kurz und meint dann lächelnd: „Meine Risikofreude hat nach dem Unfall eigentlich sogar noch zugenommen: Ich will mir selbst beweisen, was alles geht. Ich wäre auch ohne Rollstuhl auf die Idee gekommen, Fallschirmspringen zu wollen. Aber jetzt will ich es erst recht.“

„Steck‘ niemanden in eine Schublade.“

Der Handbiker Vico Merklein wurde am 12. August 1978 geboren und lebt in Babenhausen/Hessen. Er fährt einen Audi A6 Avant in Eissilber metallic mit dem Handbediengerät classic für Bremse und Gas sowie dem Lenkraddrehknauf.

Vico Merklein bringt seine Freundin Nancy mit zum Fotoshooting, die sich auch nach einem Jahr Beziehung immer noch über die ersten Reaktionen ihrer Familie amüsiert, als sie einen Rollstuhlfahrer als ihren Lebensgefährten präsentierte. „Sie haben sich krampfhaft Formulierungen wie ,Wo geht ihr denn noch hin?‘ oder ,Wie läuft‘s denn?‘ verkniffen bzw. mitten im Satz umformuliert in ,Was macht ihr denn noch?‘ Aber das hat sich inzwischen gelegt.“

Auch Merklein, als Handbiker Marathonsieger in Hamburg 2012 und Berlin 2011 und Silbermedaillengewinner in London 2012, hat früher Menschen in Fußgänger und Rollstuhlfahrer unterteilt. Heute denkt er nicht mehr darüber nach. Aber das hat eine lange Zeit gedauert.

Merklein war knapp 20, ein Draufgänger – „ich war auch mal jung und wild“ – und fuhr Motorrad. Bis ihn ein Unfall zum Rollstuhlfahrer machte. „Die erste Zeit habe ich versucht, das zu ignorieren. Es hat vier Jahre gedauert, bis ich das verarbeitet hatte. Davor habe ich sehr gehadert: Mir geht‘s so schlecht, und nur mir geht‘s so schlecht. Ich hörte nicht mehr auf meinen Körper, war verzweifelt, dass er nicht mehr das konnte, was ich von ihm gewohnt war. Ich verlor jeden Rhythmus, war morgens um 3 wach und nachmittags um 5 müde – von nichts.“ Bis ihm eines Tages ein Mann im Rollstuhl mit einem sogenannten Vorschnallbike begegnet. Merklein ist sofort begeistert, kauft sich für 1.300 D-Mark ein solches Fahrrad, das man mit der Hand bedient anstatt mit den Beinen und beginnt seine erste Ausfahrt. Ganze fünf Kilometer schafft er, bevor er ausgepowert wieder nach Hause kommt – und sofort ins Bett fällt.

20.000 Kilometer mit der Hand.

Heute, mit 32, fährt er bis zu 20.000 Kilometer im Jahr, jeden Tag, auf der Straße, dem mechanischen Trainingsbike zuhause, in der Höhenkammer, die 2.000 Meter über Null simuliert, ein Rennen nach dem anderen, bis die Saison vorbei ist – und die nächste wartet. 30 bis 35 Stunden pro Woche liegt Merklein in seinem Handbike. „Anders kommst du nicht auf das Level, das heute nötig ist. Ich fahre schließlich nicht zu den Rennen, um Zweiter zu werden.“

Denn obwohl Merklein zu den Ausnahmeathleten seiner Disziplin gehört – die Konkurrenz schläft nicht. „Früher musste man einmal im Jahr, zu Saisonbeginn, ein paar Wochen Grundlage fahren. Das heißt, Ausdauer trainieren, einfach Kilometer runterreißen. Heute mache ich das vier- bis fünfmal im Jahr. Wenn ich dann trotzdem noch ein Rennen verliere, kann ich mir wenigstens nicht vorwerfen, nicht genug getan zu haben. Dann kann ich auch locker dem Sieger gratulieren – der hat noch mehr geackert, und ich habe es ihm ordentlich schwer gemacht.“

Der durchtrainierte Sportler sprüht vor Ehrgeiz. Gleichzeitig schafft er sich Ruhezonen, selbst mitten im Training. „In Lanzarote gibt es einen Berg, da fahre ich jedes Mal rauf. Von Playa Blanca und zurück sind es ungefähr 120 Kilometer, die ich zurücklegen muss. Wenn ich kurbele, höre ich nur dem Wind zu, ich habe keine Musik dabei. Und dann bin ich oben auf dem Berg und gucke 800 Meter weit runter: Da ist das Meer, und bei gutem Wetter kann man bis Playa Blanca sehen. Das ist so surreal. Ich könnte da stundenlang stehen und gucken.“

Bei den Rennen fährt Merklein ein maßangefertigtes Handbike, das gerade einmal 13,8 Kilogramm auf die Waage bringt. Das Sportgerät aus Aluminium und Carbon liegt acht Zentimeter über der Straße, und Merklein treibt es auf bis zu 80, 90 Stundenkilometer, wenn er bergab fährt. Das erste professionelle Rad kaufte ihm seine Oma für 3.700 Euro; sein jetziges Gefährt kostet um die 12.000 Euro. „Und alle zwei Jahre braucht man ein neues.“

„Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal etwas vermisst habe.“

Wenn er nicht im Fahrrad liegt, nutzt er einen Audi A6 Avant. „Einfacher geht‘s gar nicht. Ich fahre einen A6 mit Automatikgetriebe, das heißt, ich muss mit dem Handbediengerät nur Gas geben und bremsen. Und mit dem zusätzlichen Knopf am Lenkrad kann ich ganz ohne Kraft steuern. Der Audi liegt so ruhig auf der Straße, da merkt man gar nicht, wie schnell man ist. Aber ein Raser bin ich nicht. Ich fahre zügig, aber nicht rasant.“ Er lächelt verschmitzt: „Die Zeiten sind vorbei.“

Kann man sagen, dass der Sport ihn verändert hat? Merklein antwortet in seinem charmanten Mix aus Berlinerisch und Hessisch: „Absolut. Der Sport hat mein Leben um 180 Grad gedreht. Auch weil ich meinen Körper wieder benutze und ihn nicht mehr ignoriere. Ich lebe im Hier und Jetzt – ich kann mich wirklich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal dachte, dass ich etwas vermisse.“ Dadurch hat sich auch die Blockade gelöst, die er jahrelang nach dem Unfall geistig empfand. Hilfe anzunehmen, fiel ihm schwer, er fühlte sich von allen beobachtet. „Das ist heute anders. Wenn ich Hilfe brauche, dann frage ich danach. Macht man als Fußgänger ja auch.“

Diese Hilfestellung gibt Merklein weiter. Manchmal lässt er lokale Favoriten in seinem Windschatten fahren – „ist ja seine Strecke, dann soll er auch gewinnen“ –, mal engagiert er sich für andere Behinderte. So erklärte er bei einem Aktionstag Kindern im Rollstuhl, wie ein Vorschnallbike funktioniert und wie sie damit sogar schneller sein können als ihre nichtbehinderten Freunde auf Inline-Skates. Einige der Kinder, die begeistert mit ihm um die Wette fuhren, hatten Lernschwierigkeiten. „Da dachte ich schon, na, ob das klappt, ihnen was zu erklären … aber genau die waren dann die Besten. Ich habe früher anderen vorgeworfen, mich abgestempelt zu haben – und jetzt erwische ich mich manchmal selbst dabei. Dann muss ich mir selber sagen, was ich auch von anderen erwarte: Steck niemanden in eine Schublade. Auch dich selbst nicht. Ich setze mir immer wieder neue Ziele, von denen ich nicht weiß, ob ich sie überhaupt erreichen kann. Aber wenn ich es nicht versuche, werde ich es nie wissen.“

Drei Shootings und der Katalog, der daraus entstand

Wie die meisten meiner geschätzten Leser_innen wissen, schreibe ich beruflich am liebsten Autokataloge. (Ich schreibe auch alles andere, aber in den Katalogen ist jedesmal Herzblut drin.) Mein Hauptarbeitgeber ist die Agentur, in der ich als piepsige Juniortexterin angefangen habe, in die ich nach einem kurzen Abstecher zur Konkurrenz und Mercedes-Benz als Seniorin zurückkam, um mich irgendwann selbständig zu machen und wieder gebucht zu werden. Immer für einen Kunden, der bis heute mein liebster ist und es wohl auch immer bleiben wird: Audi.

Audi baut nicht nur schöne Autos, sondern stattet sie auch auf Wunsch mit Fahrhilfen für Menschen aus, die körperlich eingeschränkt sind. Genau für diese Zielgruppe produzierten wir in den letzten Monaten einen Katalog, den ich ausnahmsweise nicht nur auf meine Arbeitsseite packe, sondern auch hier im Blog vorstellen möchte. In meiner persönlichen Hitliste kommt er direkt nach meinem Lieblingskatalog über die 24 Stunden von Le Mans, den ich bereits 2003 geschrieben habe.

Was ihn für mich so besonders macht, ist die Herangehensweise. Ich schrieb nicht über die üblichen Themen, die ich sonst liebevoll im Katalog abfiedele, den Motor, das Design, den Innenraum, die Neuheiten, die das Fahrzeug hat. Dieses Mal schrieb ich stattdessen über die Menschen, die mit dem Fahrzeug unterwegs sind.

Unsere Konzeptidee war, drei Sportler_innen vorzustellen, die die Audi-Fahrhilfen nutzen: Maria Kühn, Rollstuhl-Basketball, Vico Merklein, Handbike, und Gerd Schönfelder, Alpinski. Dafür wurden drei Low-Budget-Shootingtage geplant, eher spontan on location anstatt große Studioproduktion, und ausnahmsweise war ich dabei. Als Texterin sitze ich eigentlich brav in der Agentur, während die Art-Fraktion unter Palmen drei Wochen lang ein Auto fotografiert. Dieses Mal guckte ich meiner Art Direktorin und dem Junior-AD dabei zu, wie sie mit dem Fotografen und seinem Assistenten Bilder komponierten. Während sie sich zwischen den Aufnahmen über die Digitalkamera beugten und die nächsten Einstellungen diskutierten, grätschte ich kurz dazwischen und stellte unseren Modellen zwei, drei Fragen. Und während die anderen Mittagspause machten, schnappte ich mir die Sportler_innen und hatte jeweils eine gute Stunde Zeit, um sie mal in Ruhe auszuquetschen, wobei mir da Jo Magrean, der Fotograf, gerne über die Schulter guckte und die Menschen fotografierte, während sie mit mir redeten. Am Anfang war ich etwas skeptisch, ob wir uns nicht ständig in die Quere kämen, aber schon nach wenigen Stunden des ersten Tages war ich begeistert von dieser Art des Arbeitens.

(Junior-AD, Art Direktorin, Vico, Jo, Nancy, Kundin beim ersten Blick auf die Bilder, alles beim Staatstheater Darmstadt, wo wir zuerst fotografierten.)

Das hatte zum einen mit Jo zu tun. Meine Art Direktorin hatte ihn ausgewählt, weil ihr seine Art, Menschen zu fotografieren, so gut gefallen hat: Jedes Bild sieht persönlich aus, ungestellt, schlicht. Weit weg von der üblichen Hochglanzwerbeknipsigkeit, die wir bei diesem Projekt nicht haben wollten. Sein Assistent Matthieu ist Franzose und lebt in Spanien; mit ihm radebrechten wir auf Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch, Jo sprach stets Französisch mit ihm, dann unwillkürlich auch mit uns, was seltsamerweise meist funktionierte, es war an allen Shootingtagen richtig warm, wir haben in Hessen und dann in Bayern unter einem stahlblauen Himmel geshootet, und so fühlte es sich ein winziges bisschen wie Urlaub an, den man mit entspannten Freunden verbringt. Denn was Jo für mich so großartig gemacht hat, war seine Art, die Menschen vor der Kamera innerhalb von unglaublichen fünf Minuten locker zu kriegen.

Wir hatten gerade erst Hallo gesagt, da quatschte er Maria Kühn schon in ein Schwimmbad und Vico Merklein in die Sauna. Der einarmige Gerd Schönfelder flachste in Minutenschnelle zurück, als er die Ansage bekam: „Lass den einen Arm ruhig aus dem Autofenster hängen.“ – „Den anderen auch?“, Maria tauschte zwischen den Aufnahmen Shoppingtipps mit der Audi-Vertreterin am Set aus, und Vico knutschte seine Freundin Nancy, sobald kurz mal niemand was von ihm wollte. Die Atmosphäre war von Anfang an gut gelaunt und vertrauensvoll, und ich glaube nicht, dass ich das so hervorragend hinbekommen hätte wie Jo. Das Blöde ist: Ich weiß bis heute nicht, was er genau gemacht hat, denn er hat sich an jedem Shootingtag die jeweilige Hauptperson geschnappt und ist mit ihm oder ihr vom Rest der Gruppe weggegangen. Bei Maria und Gerd nahm er auf dem Beifahrersitz Platz, während wir zum ersten Shootingort fuhren, bei Vico bestand er darauf, ihn kurz alleine fotografieren zu dürfen. Und als wir wieder alle zusammen waren, hatte ich das Gefühl, wir seien auf einmal beste Freunde.

Und das war das zweite Tolle am Job: die Menschen, die ich kennenlernen durfte. Bei keinem war auch nur ein Hauch Arroganz oder Langeweile zu spüren – „Meh, schon wieder so ein oller Termin, den ich wahrnehmen muss“ –, ganz im Gegenteil. Vico hat mich mit seiner absoluten, fast zen-gleichen Ruhe beeindruckt. Egal ob er über seinen Unfall, seinen Sport, seine Familie sprach – er wirkte, als ob ihn nichts und niemand erschüttern kann. Umso spannender fand ich es, von ihm zu hören, dass er scheinbar am meisten von den dreien mit seinem neuen, anderen Körper nach dem Unfall zu kämpfen hatte. Maria hingegen ist ein Bündel von guter Laune; sie hatte einen Tag mit circa 33 Grad erwischt und musste mehrere Stunden lang in praller Sonne agieren. Das schien ihr alles nichts, aber auch gar nichts auszumachen, sie lächelte und lachte zu jeder Sekunde, und natürlich ist es ein Foto von ihr geworden, das auf dem Titel des Katalogs landete. Bei Gerd brauchte es nur ein Grinsen, und meine Art Direktorin und ich schmolzen dahin (wie bei Vico auch). Gerd ist ein Charmeur und Showman wie aus dem Bilderbuch, und das weiß er auch. Hier habe ich vor allem die stillen Momente genossen, die ich alleine mit ihm hatte. Jo und Matthieu bereiteten die nächsten Aufnahmen vor, das Art-Team war mit der Kundin verschwunden, und ich saß mit Gerd in Jos Hotelbett und quatschte, als ob wir uns schon 20 Jahre lang kennen würden. Irgendwann kam Jo dazu und fotografierte, und das Foto ist auch mein liebstes von Gerd im Katalog, wo man ihn im Profil sieht, mit mir nachdenklich sprechend, das dunkle Holz des Hotelbetts im Hintergrund, das weiche Mittagslicht.

(Jo und Matthieu fotografieren Maria vor dem Römer-Kelten-Museum in Manching.)

Beim Schreiben hatte ich die Seite Leidmedien im Hinterkopf, die netterweise gerade online ging, als ich mit dem Texten begann. Ich hoffe, mir ist nichts Blödes durchgerutscht, keine Menschen, die an den Rollstuhl „gefesselt sind“ oder „ihr schweres Schicksal meistern“. Unsere drei Sportler_innen haben die Texte vor der Veröffentlichung natürlich abgenickt und ich freue mich sehr darüber, dass sie nichts daran zu bemängeln hatten. Jedenfalls an der 24-seitigen Version, die Audi gedruckt hat. Intern haben wir eine 32-seitige Fassung erstellt, weil wir a) so viel zu erzählen und b) so viele schicke Bilder hatten. Auf meiner Arbeitsseite steht der 24-Seiter, und in einem weiteren Blogeintrag steht der Text, der in der 32-seitigen Broschüre gestanden hätte, zusammen mit ein paar Fotos. Im Blogeintrag fehlt die „Verkoofe“, also die Seite, auf der die Fahrhilfen zu sehen sind. Auch das war etwas, was mich am Projekt begeistert hat: dass wir eben kein Hardselling machen mussten und auf jeder Seite das Produkt zu sehen sein musste. Natürlich wird Audi erwähnt – he, es ist immer noch Werbung –, aber ich finde, es liest sich trotzdem wie eine Reportage. Zumindest hoffe ich das.

(Gerd schreibt schnell noch ein paar Autogramme, nachdem wir ihn durch Bayreuth und in einen Badesee gejagt haben.)

Bei Interesse: Hier steht der veröffentlichte 24-Seiter, und hier geht es zum Blogeintrag, aus dem leider kein 32-Seiter geworden ist.

November-Journal, 22. November 2012

Morgens nicht aus dem Bett (beziehungsweise vom Sofa runter-) gekommen. iPhone klingelte um 8, ich wischte wieder und wieder über die Snooze-Funktion, und als es fast 9 war, sagte ich mir, wenn du jetzt nicht aufstehst, stehst du nie auf. Schließlich wartete um 10 mein Lieblingskurs mit dem Lieblingsdozenten, mit dem mich Frau Kaltmamsell verkuppeln will, weil ich nur schwärmerische Tweets über ihn bzw. seinen Kurs absetze. Was das Aufstehen nicht leichter, aber sinnvoller machte.

Gestern war wieder so eine Sternstunde: Ich lernte die metastasianische Oper kennen (nach ihrem bedeutendsten Librettisten, Pietro Metastasio). Extrem gerafft: Metastasio schrieb 27 Dramen, genauer gesagt, dramma per musica, die vertont wurden – klingt erstmal nicht außergewöhnlich, aber: Diese Dramen folgten immer den gleichen Gesetzen und sie wurden teilweise 50 bis 90 Mal von über 300 Komponisten vertont, von manchen gleich mehrmals. Diese Art der Oper hatte ihren Ursprung in Italien und verbreitete sich im 18. Jahrhundert wie ein Lauffeuer durch fast ganz Europa; der Balkan mochte nicht mitspielen, weil er gerade türkisch besetzt war, und die Franzosen wollten, naturellement, nicht Italienisch singen und hatten daher wie immer ne Extrawurst. Der Rest von Europa verfiel aber dem Schema der zwei Paare, die sich im Laufe der Oper kriegen, natürlich nicht, ohne wildeste Verwicklungen hinter sich zu bringen. Und mit „wildeste“ meine ich „wildeste“. Ich verstehe jedenfalls selten die Inhaltsangaben in Opernführern oder der Wikipedia, wenn ich versuche, die Handlung nachzuvollziehen – der letzte Versuch war Händels Xerxes – und war deshalb sehr froh zu hören, dass ich damit nicht alleine bin.

Der Dozent versuchte, uns die Handlung von Vivaldis L’Olimpiade per Schaudiagramm aufzuzeichnen, musste aber selbst dauernd nachgucken, wer jetzt mit wem verwandt ist, wer wen umbringen will und warum und wer sich zum Schluss kriegt („Die beiden sind sich eigentlich treu, werden aber durch die Umstände daran gehindert. Und die Dame ist seine Zwillingsschwester, aber das wissen beide nicht, und schon sind wir im ARD-Vorabendprogramm.“). Die Handlung ist stets dramatisch, das Ende so gut wie immer glücklich, und neben einer (oder zwei) angedeuteten Hochzeit(en) gibt es eine große Geste der Vergebung. Denn die Opern waren Auftragswerke der Fürstenhöfe, die sich mit diesen Werken ein bisschen selbst bepuschelten, weswegen auch immer ein Herrscher mitspielte, der die Vergebungsgeste ausführte.

Wir wollten gerade quengeln, dass das doch langweilig sei, immer die gleichen Storys zu hören, als der Dozent die Stichworte „romantic comedy“ und „Rosamunde Pilcher“ in den Raum warf, worauf wir brav verstummten. Überhaupt Film: Die Stars der Oper waren Stars wie heute die Jungs und Mädels aus Hollywood oder Fußballspieler. Sie verpflichteten sich für eine Saison an einem Hof, zogen dann an einen anderen weiter und wurden, bei gewissem Ruf, überall bewundert. Der Dozent beschrieb es so: „Die überregionale Wirkung der Opera seria kann mit heutigen Hollywoodfilmen oder Fußball verglichen werden. Da spielen Kastraten aber keine so große Rolle.“

Auch neu für mich war der irrwitzige Output. In Italien wurden 80 bis 100 Opern pro Jahr neu komponiert und aufgeführt, manche bis zu 30 Vorstellungen lang. Dann flogen sie vom Spielplan, und die nächste Premiere stand an. Und das Publikum war da: Es war völlig normal, so oft wie möglich in die Oper zu gehen, gerne auch in das gleiche Stück und gerne in alle 30 Vorstellungen. „Heute machen das ja nur noch verzweifelte Singles, so oft in die Oper gehen …“ *Murren im Saal* „… nicht Sie, dass Sie nicht so oft in die Oper gehen, merke ich, wenn ich das Repertoire abfrage.“

Ich hätte wie immer noch viel mehr zu erzählen, denn der Dozent hat ja auch viel mehr zu erzählen, und ich schreibe mit wie doof und freue mich nach jeder Stunde schon auf die nächste. Ich ahne, dass man das meinen Tweets anmerkt.

In der Vorlesung zur Kunstgeschichte sprinteten wir noch einmal durch die Gotik; wo ich mich letztes Mal in die Kathedralen von Chartres, Amiens und Reims verliebt hatte, durfte ich mich gleich noch mal verlieben, denn dieses Mal kamen die Portale und damit die ganzen Figuren und Figürchen dran, die so an den Eingängen rumlungern. Seit 800 Jahren, die Armen. Dafür sehen sie teilweise aber noch grandios aus. (Auf der Website von Reims gibt’s ein paar Alben zum Durchklicken.) Und die lustigen Zierblümchen auf den Wimpergen (ja, wieder was gelernt) heißen allen Ernstes Krabben. Ich kann mir immer nur die beknackten Worte merken, weil sie so beknackt sind.

Kein Anruf der Spedition, wann sie gedenken, mir meine Möbel zu liefern. Ich hab keine Nummer, unter der ich sie erreichen könnte, ich hab ja nicht mal einen Namen. Heute mal bei einer der drei Ikea-Nummern anrufen, die ich bis jetzt sammeln konnte, vielleicht wissen die, wer das erledigt.

Zum Trost vom temporären Mitbewohner mit Lauchsuppe bekocht worden. Musste mir anhören, dass ich ein spoilt brat sei, weil ich seinen Soave okay, aber nicht super fand. Seit wann ist „okay“ ein Schimpfwort? Okay ist okay. (Aber nicht super. Hm. Na gut.) Trauere meinen Weinvorräten in Hamburg nach. Da fällt mir ein: Ich hab hier noch kein Weinregal. Aber ich hab ja auch noch nix anderes. Seufz.

November-Journal, 21. November 2012

(Edit: Bildlinks aktualisiert; die führten zu einer Datenbank, zu der man anscheinend eine Registrierung braucht. Aus unserem Uni-Net brauche ich das nicht. Sorry, nicht nachgedacht.)

Um acht Uhr morgens den iPhone-Wecker ausgemacht und bis kurz vor zehn geschlafen. Luxus.

Im Porträtkurs viele spannende Dinge über Jan van Eycks „Mann mit dem roten Turban“ gelernt – zum Beispiel, dass das Ding kein Turban ist, sondern ein Chaperon, eine durchaus gängige Kopfbedeckung im Flandern des 15. Jahrhunderts. Noch viel spannender ist natürlich die Tatsache, dass dieses Bild vermutlich das erste autonome Selbstporträt eines Künstlers ist.

Das zweite Referat handelte ebenfalls von einem van-Eyck-Gemälde – das Bildnis des Kardinal Albergati –, wobei das Besondere hier war, dass wir noch die Vorzeichnung davon haben, die ein bisschen weniger gefällig und glattgebügelt aussieht. Die Vorzeichnung zeigt einen leutseligen Kerl, das fertige Bild repräsentiert eher als dass es emotional anspricht. Das war wohl auch der Plan, aber ich mag den Mann auf der Vorzeichnung lieber. Zwischen der Zeichnung und dem Bild liegen übrigens drei Jahre.

Am Ende der Stunde probierte ich, ob mein neu erworbener Adapter ans MacBook Air bzw. den Beamer passt (passt), damit ich nächsten Dienstag mein erstes Referat halten kann. Blöd, dass ich der Dozentin noch eine Frage dazu stellte, denn jetzt muss ich meinen Plan fast komplett umschmeißen, das Referat teilweise neu aufbauen und vor allem: alles noch mal üben und die blöde Keynote-Präse anpassen. „Sie haben die undankbare Aufgabe, ein Fazit zu ziehen über den Stand der Porträtmalerei in den Niederlanden des 15. Jahrhunderts.“ (Was frag ich auch.)

Dementsprechend den Nachmittag nicht in der Bibliothek der Musikwissenschaften verbracht, wo ich endlich mal länger verweilen wollte als es dauert, die Handapparate zu kopieren, sondern erneut durch die Regale der Kunstgeschichte gestöbert. Verstörende Jesusbilder entdeckt.

Etwas kopfschmerzig nach Hause gekommen, mehr schlecht als recht durch Beethovens Klaviertrio Op. 1, Nr. 2 gehudelt; nur einmal gehört, noch keine Notizen gemacht, erledige ich heute während des Schalke-Spiels, denn gestern spielte ja Bayern. Anstatt den temporären Mitbewohner in die Kneipe zu begleiten, blieb ich auf dem Sofa, wo ich mir die Lautstärke (leise statt LAUT), die Essensbegleitung (Schokolade statt Bier) und die Pausengestaltung (Bloggen statt Klo) selbst aussuchen konnte.

November-Journal, 20. November 2012

Der Plan war: um 10.30 Uhr in München landen, um 12 in der Wohnung sein, ab 14 Uhr meine Ikeamöbel geliefert und aufgebaut zu bekommen, abends endlich in der eigenen Wohnung kochen und im eigenen Bett schlafen. Endlich richtig ankommen.

Stattdessen flogen wir verspätet ab, konnten wegen Nebel nicht in München landen, flogen nach Nürnberg, weil wir nicht genug Sprit hatten, um 45 Minuten über München zu kreisen, wurden betankt, flogen zurück, kreisten noch ne Runde und landeten fast drei Stunden zu spät. Dann wartete ich noch eine weitere Stunde auf den Koffer und gerade, als ich in die S-Bahn kletterte, die gut eine Stunde von meiner Wohnung weg war, klingelte das Handy, die Ikeajungs wären dann vor Ort, wo ich denn sei?

Seufz.

Ich hatte so sehr gehofft, dass ich endlich eine eigene Bleibe hätte. Nicht dass es beim temporären Mitbewohner nicht nett wäre, aber mich macht es fünf Wochen im Semester schlicht wahnsinnig, dass ich keinen Arbeitsplatz habe. Klar könnte ich jeden Abend am Küchentisch des Mitbewohners sitzen, aber das lindert mein Genervtsein nur wenig. Ich brauche einen Platz für meine Notizen, meine Ausdrucke, meine Fachbücher. Ich brauche Arbeitsmittel wie Hefter und Locher und Aktenordner und Zeug; ich bin eine ganz fürchterliche Streberin, wenn es um einen Arbeitsplatz geht. Der ist bei mir immer aufgeräumt und übersichtlich, und genau das fehlt mir. In meinem hysterischen Erstsemesterkopf sehe ich immer mehr Lernstoff von mir wegtreiben, anstatt ihn in Aktenordnern und auf Karteikarten zu erfassen, abzulegen, zu ordnen, im Blick zu haben.

Und ich würde wirklich gerne endlich richtig ankommen. Das fühlt sich schon wie meine Stadt an, aber eben noch nicht so ganz. Es ist immer noch ein Übergangsstadium, und wer mich kennt, weiß, dass ich mit so was überhaupt nicht klarkomme. Es muss schwarz oder weiß sein, an oder aus, aber nicht so ein diffuses Mittendrin. Deswegen belastet mich die temporäre Wohnsituation auch mehr als gedacht. Bei aller Nettigkeit ist es eben nicht meins. Und ich brauche immer einen Ort oder etwas oder jemand, der oder das meins ist, sonst ist es nicht Zuhause.

Ich hatte gehofft, ab Montag abend ein Zuhause zu haben, und dass ich jetzt noch nicht einmal einen neuen Liefertermin für mein Zuhausezubehör habe, macht mich mehr fertig als ich dachte.

Gut, dass ich heute wieder in der Uni sitze und mir den Kopf mit alten Bildern vollstopfe. Dann hat die Realität nicht mehr so viel Platz.