„Und, Anke, wie war so dein erstes Semester?“

Ich habe gelernt, dass es gar nicht schlimm ist, 20 Jahre älter zu sein als der Rest des Kurses, weil ich in so gut wie allen Kursen nicht die einzige meiner Altersklasse war – und in einigen Kursen gab es auch Vertreterinnen, die altersmäßig über mir lagen. Gasthörer und -hörerinnen gingen mir allerdings fast ausnahmslos auf den Keks, vor allem, wenn sie a) 70 Prozent aller Teilnehmenden ausmachten, b) sich mit genau diesen Prozent unterhielten und c) das direkt hinter mir, während ich versuchte, dem Dozenten zuzuhören. Trotzdem ahne ich, dass ich in 20 Jahren genau da sitzen werde wo jetzt meine Nervensägen sitzen und zwar in Germanistik- und Philosophieseminaren. Und dann erzähle ich auch allen, wie schön es 2025 in Florenz war.

Ich habe gelernt, wie entspannt ich bei Referaten, Protokollen und Klausuren bin. Ich kann vor Kunden reden, dann kann ich das auch vor Kommilitonen und Kommilitoninnen. Ich kann so ziemlich über alles schreiben, dann auch über Beethoven, den Sonatensatz und was E.T.A. Hoffmann Schlaues zum Trio Op. 70,2 sagt. Und ich löse freiwillig jedes Onlinequiz, das mir über den Weg läuft, dann ist der Schritt zur Klausur geistig auch nicht so groß. Ich war etwas nervös vor der ersten Klausur, weil ich ihre Form noch nicht kannte, die Art, wie gefragt wurde, aber das legte sich nach 30 Sekunden, und vor der zweiten war ich ziemlich tiefenentspannt. Außerdem bin ich, ganz genau wie vor 25 Jahren, immer noch viel zu früh fertig. In der Schule habe ich die Sechs-Stunden-Klausuren nach vier abgegeben, heute war ich mit der 30-Minuten-Klausur nach zehn durch.

Ich habe gelernt, dass die Generation der 20-Jährigen, die grad an der Uni sitzt, alles andere als doof und ungebildet ist. Manchmal ein bisschen verstrahlt, was Alltagsanforderungen angeht, aber wenn ich mir meine Twittertimeline angucke (auch meine eigene), ahne ich, dass das nie aufhört.

Ich habe gelernt, dass ich locker 90 Minuten lang jemandem zuhören kann, solange es hell und kühl genug ist. Falls das nicht der Fall ist und der Dozent dazu auch noch über relativ wenig Modulation verfügt, kann es sein, dass ich trotz allem Interesse am Stoff einschlafe. Aber nur kurz! Und nur einmal! (Wo wir grad dabei sein: Ich bin auch schon mal in der Oper eingeschlafen. Bei Wagner. Jetzt isses raus.)

Ich habe gelernt, wie vielfältig die Darstellungsmöglichkeiten eines menschlichen Gesichts sind und wie unterschiedlich die christliche Ikonografie sein kann. Ich habe meine Liebe zu Botticelli und Dürer vertieft und die zu van Eyck und Memling entdeckt. Ich wollte wegen der Renaissance studieren, aber als sie endlich in der Vorlesung dran war, wäre ich viel lieber in der Gotik geblieben. Ich weiß jetzt, dass die Romanik kein grober Klotz ist, sondern voll naiver Schönheit, dass die Gotik nicht nur riesengroß ist, sondern auch zart und filigran, dass sich Italien von den Niederländern doch noch ne Scheibe abschneiden kann und dass auch in Deutschland ganz hübsch gepinselt wurde.

Ich habe gelernt, Haydn und Mozart zu schätzen und stehe weiterhin fassungslos vor Beethoven. Ich kenne Septakkorde und weiß, dass die irgendwo hinwollen und finde Variationssätze toller als andere. Ich weiß jetzt, dass man auch im wissenschaftlichen Umgang mit Musik über Gefühle reden kann oder was Stücke mit einem machen. Ich weiß jetzt allerdings auch, wie mathematisch Musik ist, was sie mir einerseits unheimlich macht und andererseits total neugierig auf moderne Musik, denn die lässt sich ja von keinem Fach mehr was sagen.

Ich habe gelernt, dass mich alles interessiert, solange die richtige Person es mir erzählt. Ich habe im Vorlesungsverzeichnis fürs nächste Semester schon einige Kurse nach Dozent ausgesucht, weil mich der jeweilige Mensch und seine Vortragsweise so faszinieren, dass ich mir alles von ihm oder ihr anhören würde.

Ich habe gelernt, wie gerne ich lerne.

Die häufigste Frage, die ich von meinen Kollegen und Freundinnen in den letzten Monaten gehört habe, war: „Ist es so, wie du es dir vorgestellt hast?“

Und meine Antwort war nach einer Woche die gleiche wie jetzt nach vier Monaten: „Es ist genauso, wie ich es mir vorgestellt habe. Nur noch viel toller.“

Ein sächsisches Dankeschön …

… an @zwanzigtausend, der mich mit einem Dresdner Heft überrascht hat, genauer gesagt, dem Heft zu „Wagner in Dresden“. Rienzi und der Tannhäuser wurden in Dresden uraufgeführt, Wagner war Hofkapellmeister in der Stadt und erlebte den Revolutionsfrühling 1848 in ihr mit. Das Heft befasst sich außerdem mit Minna Wagner, der „unterschätzten Frau an Wagners Seite“, und lässt Christian Thielemann sowie Georg Zeppenfeld und Christa Mayer zu Wort kommen, die ich beide sehr schätze und schon ein-, zweimal in Bayreuth hören durfte (Zeppenfeld zusätzlich in, genau, Dresden). Vielen Dank für das Geschenk, über das ich mich besonders freue, weil es zwei Zustellversuche gebraucht hat.

Ein performtes Dankeschön …

… an Susanne, die mir Marco Anelli: Portraits in the Presence of Marina Abramovic geschenkt hat. Das Buch ist während der Ausstellung/Performance The Artist is Present entstanden, über die ich hier schrieb, und zeigt Menschen, die Marina Abramović gegenübergesessen haben – inklusive ihrer „Sitzdauer“. Es hat mich überrascht, einige Menschen zu finden, die ihr mehrere Stunden gegenübergesessen haben, genau wie es mich überrascht hat, dass ihr Ex-Mann es gerade fünf Minuten ihr gegenüber ausgehalten hat. Ein sehr schlichtes Buch, das aber genauso beeindruckt wie der Film bzw. das Werk, auf denen es beruht. Vielen Dank für das Geschenk, ich habe mich sehr darüber gefreut. (Und noch mehr über die wunderschöne Widmung. Dafür noch ein Extra-Dankeschön.)

(Ach, ihr Schnuffis.)

Twitterlieblinge Januar 2013


On this day 80 years ago

Ein Kunstprojekt, das aus Original-Briefen und Tagebucheinträgen eine Zeitleiste entstehen lässt – vom Tag der Machtübernahme der Nationalsozialisten bis … ich weiß noch gar nicht, wie lange das Projekt geht. Es ist gestern gestartet. Bitte mal reinschauen: On this day 80 years ago.

Marina Abramović: The Artist is Present (keine Filmkritik)

Marina Abramović: The Artist is Present, USA 2012, 106 min
Musik: Nathan Halpern
Kamera: Matthew Akers
Regie: Matthew Akers, Jeff Dupre

Trailer

Offizielle Seite

Keine Filmkritik, stattdessen das gerade bei mir übliche Rumsinnieren darüber, was Kunst mit mir macht, vor allem solche, mit der ich mich noch nicht intensiv auseinandergesetzt habe. Trotzdem kurz was zum Film.

The Artist is Present ist ein Dokumentarfilm, der sich hauptsächlich mit der gleichnamigen Austellung und der dazugehörigen Performance im MoMA befasst. Die Ausstellung ist eine Retrospektive auf einige der Arbeiten von Marina Abramović, die sich im Film als die „Großmutter der Performance“ ansprechen lassen muss. Vielleicht stimmt das sogar; sie ist über 60 und setzt ihren Körper schon verdammt lange für die Kunst ein. Ein paar Beispiele stehen in der Wikipedia, und auch im Film sind sie zu sehen, denn für die MoMA-Ausstellung werden sie von jungen Künstlern und Künstlerinnen nachgestellt.

Im Mittelpunkt steht aber die aktuelle Performance, die genauso lang dauert wie die Ausstellung – drei Monate, acht Stunden ohne Pause an sechs Tagen in der Woche. Abramović sitzt im Atrium des Museums, vor ihr ein Tisch, ihr gegenüber ein weiterer Stuhl. Jeder, der mag, darf sich ihr gegenübersetzen, so lange das Museum geöffnet ist. Keine Berührungen, keine Gesten, nur ihr gegenübersitzen und sie anschauen, genau wie sie dich anschaut.

Klingt beängstigend simpel. Und ist unglaublich eindrucksvoll.

Schon nach wenigen Augenblicken im Film dachte ich innerlich, was für eine Präsenz mit Ausrufezeichen diese Frau hat. Sie war ja nicht einmal da, ich saß sicher und gemütlich in einem Münchner Kino, aber sie war vor mir auf der Leinwand, und das hat schon gereicht. Selbst durch den Umweg über ein unpersönliches Medium war jeder Atemzug von ihr körperlich spürbar. Deswegen konnte ich auch jeden Menschen nachvollziehen, der vor ihr saß und plötzlich zu weinen begann, denn mir ging es nicht anders. Das mag am berechnenden Soundtrack gelegen haben, aber der alleine hätte mich nicht so mitgerissen.

Was mich so fasziniert hat und noch Tage nach dem Film nachhallt: die Ruhe, die sie einem schenkt. Die Kraft, die man dadurch spürt. Oder genau das Gegenteil, die Schwäche, die einen kurz überfällt, die Schmerzen, die man sonst zudeckt, denn man hat ja Besseres zu tun. Indem man Abramović in die Augen schaut und den Tag mal kurz anhält, schaufelt man Dinge an die Oberfläche, die dort sonst nicht hingelangen, weil der Tag sonst eben weitergeht. Ich war in den letzten Tagen noch spröder als sonst, dünnhäutiger, vorsichtiger. Vielleicht habe ich deswegen in der Uni heulen müssen, als Beethoven erklang, vielleicht habe ich deswegen mehr getrunken als mir gut tat, als ich unter Menschen war. Vielleicht war der Film aber auch nur ein weiteres Puzzlestück zu den vielen anderen, die ich mir im Studium erarbeite. Mit jedem Seminar und jedem Buch und jeder Note enstehen neue Bahnen in meinem Kopf, neue Wege, auf denen Gedanken unterwegs sind, die bisher doof im Nichts verhallten oder schlicht gar keine Chance hatten, sich zu formulieren. Auf einmal mache ich aber auf, öffne Türen, schmeiße liebgewonnene, weil sicherheitspendende Vorurteile über Bord – “why is this art?” – und lasse mich auf Dinge ein, denen ich bisher naserümpfend ausgewichen bin. Performance Art hat sich mir nie erschlossen, und ich kann auch nicht mit allen Werken, die ich im Film gesehen habe, etwas anfangen, aber die meisten fand ich großartig. (Ja, ich bin sehr spät damit dran, Abramović für mich zu entdecken, ich weiß.)

Es hat mich schier überwältigt, dieser Frau zuzusehen. Wie sie bei einer Performance den Zuschauern die Macht über sich gibt und diese sie nicht nur streicheln, sondern verletzen, einfach weil sie es können. Wie sie ihrem damaligen Mann 2.500 Kilometer auf der chinesischen Mauer entgegenläuft, nur um sich danach von ihm zu trennen. Und wie sie jetzt allen Menschen gleichermaßen Aufmerksamkeit schenkt, weil sie vor ihr sitzen. Im Film wurde es meiner Meinung nach perfekt formuliert: Vor ihr sind alle gleich. (Der religiöse Bezug ist mir durchaus klar.) Und: Sie entschleunigt für viele Besucher die Zeit, ihr Denken und vielleicht ihre Ich-Bezogenheit. Abramović nannte es: „Irgendwann verschwinde ich, und die Menschen sehen nur noch sich selbst.“ Was für viele keine leichte oder angenehme Aufgabe ist.

Vielleicht ist das auch ein Grund, warum der Film so lange in mir rumort. Er zwingt mich dazu, mich anzusehen. Das meiste, was ich sehe, mag ich sehr, aber es gibt durchaus Dinge an mir, die ich gerne ändern würde und von denen ich weiß, dass ich sie nicht ändern kann. Ich kann hier nur sitzen und warten. Und ich weiß, dass es nicht aufhören wird, nur weil ein Museum schließt oder die Performance beendet ist. Ich werde weiterhin hier sitzen und mich anschauen.

#aufschrei

(wird laufend aktualisiert)

Maike auf kleinerdrei: Normal ist das nicht

Littlejamie: Ohne Worte. Ein #aufschrei

Antje Schrupp: Wie Lappalien relevant werden

Kaltmamsell: Es geht nicht um mich

Kiki: Hört auf damit! (In diesem Beitrag versteckt sich ein Zitat von spiegelkritik.de, das mich in seiner selbstgefälligen Ignoranz minutenlang sprachlos zurückließ.)

Journelle: Danke #aufschrei

Happy Schnitzel: Besser spät als nie – die Sexismus-Debatte

Natalie Sprinhart: Aufschrei-Argumente. Natalie nimmt die gefühlt am meisten getwitterten „Gegenargumente“ auseinander, von „Wehrt euch doch einfach“ bis „Das ist doch kein richtiger Sexismus“.

Helga Hansen: Wogegen ich mich wehre? „Wehrt euch.“

Dr. Mutti: Mein später Aufschrei

Habichthorn fasst gut zusammen: Meine 31 Cent zum Thema.

„Und am Ende bleibt man ein bißchen ratlos zurück. Wie soll man sich eigentlich verhalten? Darf man anderen Menschen gut gemeinte Tips geben? Macht man sich zum Opfer? Zum Täter? Darf man keine blöden Witze mehr machen? Und was hat das Ganze jetzt mit Feminismus zu tun? Wie kann man persönlich betroffenen Menschen helfen ohne aufdringlich zu sein?

Es ist wie so oft: Die Debatte ist zu komplex für eine simple Antwort oder gar eine Lösung. Letztendlich muss jede/r für sich selbst wissen, wie er/sie/es mit dem Thema umgeht und mit welchem Verhalten man am Glücklichsten ist. Niemand ist gleich ein Männerhasser, weil sie nicht von alten Mackern betatscht werden will. Niemand ist gleich ein widerlicher Sexist, weil er einer Frau schon mal zuerst auf die Brust und nicht in die Augen gesehen hat.“

Frequenzen: Dreh dich doch mal um.

„So wenig ich glaube, dass jede Form von Sexismus und sexueller Gewalt gleichzusetzen sind, so sehr bin ich davon überzeugt, dass sie in einer fundamentalen Beziehung zueinander stehen. Ich meine damit genau diesen gesellschaftlichen Mechanismus, der uns dazu bringt, zu schweigen, wegzusehen, uns nicht zu solidarisieren. Der Mechanismus der uns dazu bringt, vielleicht kurz empört zu sein, aufzuschreien und dann zur Tagesordnung überzugehen. Ich meine das Schweigen, die Angst, die Scham, die Verunsicherung. Ich meine ein gesellschaftliches Machtverhältnis, das sich in unsere Körper eingeschrieben hat, in unsere Art und Weise zu leben, miteinander umzugehen, die Art wie wir Politik machen. Ich meine Privilegien: welche Position sprechen kann, gehört und ernst genommen wird und welche nicht.“

Die Stattkatze hat eine sehr andere, schmerzhafte Sicht auf das Hashtag: Protection Tweet. Long Play.

„Ich weiß, was ihr wollt. Es ist richtig, was ihr wollt.

Es ist nur so unendlich falsch, was ihr tut. Für mich.

Weil ihr mich seit zwei Tagen verletzt, mit jedem Satz, jedem Tweet, jedem Hashtag. Schlimmer, als es meine Erinnerungen tun. Weil ich nicht vorbereitet war. Ich hasse Überraschungsparties.“

A. Stefanowitsch: Sagt ihnen nicht, dass sie sich hätten wehren sollen.

„Wer sagt, dass sie Situationen meiden sollen, die zu sexuellen Übergriffen einladen, erwartet, dass sie sich aus dem öffentlichen Leben zurückziehen, denn Situationen, in denen es nicht zu sexualisierten körperlichen Übergriffen kommen kann, sind äußerst selten.

Und bei allem Verständnis für vereinfachtes und weltfremdes Denken, diese Erwartungen an Frauen sind tief gestört. Sie sind ein Symptom für eine Einstellung zu sexualisierter Gewalt, die alle Verantwortung weg von den Tätern, weg von möglichen Zeugen, weg von der Gesellschaft schiebt und sie allein den Betroffenen auferlegt.

Und das gilt nicht nur dort, wo es um sexualisierte körperliche Gewalt geht, es gilt auch dort, wo es „nur“ um sexualisierte verbale Übergriffe von „ungeschickten Versuchen, mit einer Frau ins Gespräch zu kommen“ über „dumme Spüche“ oder „Herrenwitzchen“ über massive sexualisierte und sexistische Beleidigungen bis zu verbaler Nötigung geht. Und sie ist dort genauso falsch.“

Lena Jakat rezensiert in der SZ die Jauch-Sendung zum Thema: Mit flachen Witzen gegen den #aufschrei

„Und als Alice Schwarzer die 60.000 Tweets ansprach, in denen seit Donnerstagnacht Frauen von sexistischen Erlebnissen berichten und fragte “Wollen wir das nicht mal ernst nehmen?”, sagte Frau Bruhns: “Nein.” Ihre Antwort wird von Beifall der Zuschauer fast verschluckt. Ihr Lächeln blieb.“

Melanie Mühl in der FAZ rezensiert ebenfalls: #Dirndl bei #Jauch

„Alice Schwarzer hatte mit ihrer Feststellung recht, dass das Problem vieler junger Frauen darin bestehe, dass ihnen stets suggeriert worden sei, sie lebten in einer Welt, in der Männer und Frauen gleichberechtigt sind und Erfolg nur eine Frage des Willens und des Fleißes ist. Bis es ihnen wie Schuppen von den Augen fällt. Bis sie erkennen, dass, so formulierte es Alice Schwarzer, „diese alte Kacke immer noch dampft“. Damit meinte sie nicht brüderlehaftes Schäkern an einer Bar, sondern perfide Machtausübung in Form von Sexismus, beispielsweise, wenn es um die Verteilung von Jobs geht. Leider wollte Jauch davon nichts wissen. Er wollte lieber weiter über Brüderle und darüber reden, ob er Anne Wizorek nun eigentlich noch sagen dürfe, dass sie ein schönes Kleid trage.“

notaperecorder: Vom Überleben mit Twitter

„Dass es im alltäglichen Miteinander zwischen Männern und Frauen ständig zu Missverständnissen über gegenseitige Sympathie und Paarungsbereitschaft käme, ist einfach nicht wahr. Die Grauzone ist an dieser Stelle verschwindend klein und nicht die Frauen müssen darüber aufgeklärt werden, wie sie aus der Grauzone herauskommen. Wenn es nach denen geht, die solche Argumente vertreten, dann ginge das ohnehin nur indem sie sich zu Hause einschlössen. Anders hätte sich der größte Teil der #aufschrei-Erlebnisse nämlich nicht verhindern lassen.

Können wir bitte endlich aufhören so zu tun als hätten wir es hier mit subtilen Nuancen der ach so ambiguen menschlichen Kommunikation zu tun und das Problem dort lokalisieren wo es liegt, nämlich darin, dass Menschen in bestimmten Situationen einfach den Willen und die Äußerung des Gegenübers ignorieren. Das nämlich ist tatsächlich nicht von vornherein gegendert. Das können (und tun) Frauen ebenso wie Männer und dann ist es ebenso falsch. Der Unterschied ist nur, dass die Machtverhältnisse eben so sind, dass Männer häufiger als Frauen in der Position sind, das zu tun.“

Curi0us: Was mich so aufregt

„Irgendwie hab ich seit Beginn der Diskussion immer wieder das Bedürfnis, den Frauen in meiner Umgebung zu sagen, dass „wir“ gar nicht alle so eingeschränkt/blöd/ahnungslos sind. Das faszinierende ist aber: Die wissen das!

Großer Unterschied irgendwie. „Die“ sind in der Lage, uns nicht alle in einen Topf zu stecken. Einige (viel zu viele) von „uns“ schaffen das dummerweise nicht …“

Christian Fischer: Es sind die anderen. (Ja?)

„Zuerst war da der #aufschrei. Und als »guter« Mann, denn natürlich bin ich ja überzeugt ein solcher zu sein, dachte ich so etwas wie: »Ja, super, die unterdrückte Frau bekommt eine Stimme« (also nicht wortwörtlich, aber … Sie verstehen schon …)

Dann entwickelte so ca. zehn Minuten später der #aufschrei diese ungeheure Wucht und ich erschrak. Zwischen dem Wissen über nackte Zahlen inklusive ihrer Dunkelziffern und dem Erschrecken darüber, dass quasi jede Frau, die ich so in meiner Timeline kenne, etwas eigenes zu berichten hatte – da ist es ein großer Schritt. Ein Schritt mit viel Erschrecken, kein schöner Schritt – und Johannes hat, ich verlinkte es ja schon, da schon sehr passend etwas zu geschrieben.
So Zahlen und Statistiken, das sind ja irgendwie immer die anderen und der #aufschrei brachte den Alltagssexismus viel näher an mich heran. »Lernerfolg eins: Deswegen heisst er ja auch Alltagssexismus, stupid«, dachte ich mir.“

Tillmann Allmer: Ich finde …

„Mittlerweile habe ich mich an Alltagssexismus in meinem Alltag gewöhnt und ich sage meistens nichts mehr. Dadurch bin ich Teil davon. Das möchte ich nicht.

Wir Menschen lernen voneinander. Wir müssen uns ständig neu eineichen. Wenn eine/r oder auch mal zwei.drei in diesen Runden nicht mitlachen (oder schweigen!), sondern laut aussprechen, warum das überhaupt nicht witzig ist, dann lachen sicher auch gleich zehn nicht mit und der blöde Arsch steht da.“

Johannes Mirus: #aufgewacht

„Ich las sehr viel in den letz­ten Tagen und es hat mich schwer erschüt­tert. Fast alle Frauen haben meh­rere eigene Geschich­ten, einige, die ich schon sehr lange kenne, erzähl­ten Geschich­ten, die mein Welt­bild ins Wan­ken brach­ten. Ich war ver­wirrt, konnte das nicht in Ein­klang mit mei­ner Rea­li­tät brin­gen. Zu der Ungläu­big­keit mischte sich mehr und mehr Trau­rig­keit, aber auch ganz viel Hilf­lo­sig­keit und auch Wut. Wut, weil ich so lange ahnungs­los war, weil ich nichts tun kann, weil ich glaube, mich immer rich­tig ver­hal­ten zu haben und mich jetzt irgend­wie unschul­dig mit­schul­dig fühle.“

mequito: (ohne titel)

„Mir macht #aufschrei ja gute Laune. Ich glaube, es wurde der richtige Ton getroffen. Die tausenden Beispiele, mal dramatisch, mal traurig, mal krass, aber immer bäh. Wie eine unendliche Playlist der Arschlocherei. Es gefällt mir, wie wuchtig das Thema im Mainstream aufgeschlagen ist und die Meinung ist ja durchaus einhellig, die Kritiker haben sich schnell deklassiert. Ich finde das super, ich finde das zivilisatorisch total super.“

Malte Welding: Männer, gebt die Herrschaft auf!

„Wenn eine Frau sagt, wenn hundert, wenn tausend, hunderttausend Frauen sagen, dass sie belästigt, bedrängt, geschlagen, bespuckt, vergewaltigt und weggeworfen wurden, dass sie sich nicht allein im Dunklen auf die Straße trauen und sich in Aufzügen, Parkhäusern, Innenhöfen fürchten, dann ist die richtige Reaktion nicht: Aber als Mann kann einem ja auch was passieren. Und nicht: Ich mache doch nichts. Und auch nicht: Dann muss man halt aufpassen. Sondern man muss Antworten auf die Frage finden: Wie bringt man Männern bei, Frauen keine Angst zu machen?“

In der Uni

Ich habe gestern zwischen meinen Seminaren spontan das iPhone gezückt und ein bisschen rumgeknipst; ich möchte das nicht „fotografieren“ nennen.

Mein Musikgeschichtskurs und das Seminar „Die Messe in der Renaissance“ finden im gleichen Hörsaal statt. Auf dem Weg in den nächsten Raum nehme ich immer den Umweg, der mich an dieser Fensterfront entlangführt, von der aus man auf die Ludwigstraße guckt.

Der Fenstergang und der nächste Hörsaal werden durch einen modernen Gebäudeteil verbunden.

In diesem Gang befindet sich mein Lieblingsklo (Auswahlkriterien „Alter der sanitären Anlagen“, „Frischluftzufuhr“ und „Wartezeit“) und er ist meist sehr ruhig, weswegen ich hier gerne recht langsam entlangschreite, bevor mich das Gewusel aus hunderten von Menschen wieder hat.

Und dann ist man wieder im alten Gebäude, das ich sehr gerne mag. Auch wenn der Weg in den zweiten Stock sich für mich so anfühlt wie in den fünften zuhause. (Sehr. Lange. Treppen.) Da links die Räume, da findet meine Übung in Musikwissenschaft statt, und hinter mir liegt der Riesenhörsaal, in dem ich Kunstgeschichte lerne und den ich in diesem Eintrag schon mal vorgezeigt habe. Und immer wenn ich diesen Gang langgehe, denke ich, KreuzgrAtgewölbe wie in der RomAnik, nicht KreuzrIppengewölbe wie in der GotIk.

Runter in den ersten Stock zur Romanikvorlesung oder links um die Kurve in die Bibliothek der Musikwissenschaft.

Romanikvorlesung it is. Das belegte, ausgeklappte Tischchen deutet auf einen Senior oder eine Seniorin hin, der oder die sich sicherheitshalber einen Platz reserviert hat. Wir haben ja auch nur 200 Sitze für 100 Leute. Meist setzen sie sich mit ausgebreiteter SZ ganz nach außen und gucken angenervt, wenn man es wagt, an ihnen vorbeizuwollen. Ja, ich bin latent nölig, und ja, ich werde mit 65 auch so sein. Die Stühle sind übrigens weitaus bequemer als sie aussehen. Ich persönlich mag sie jedenfalls deutlich lieber als diese blöden „amerikanischen“ Tisch-Stuhl-Kombinationen, auf denen ich schlechtgelaunt im kunsthistorischen Institut kauere.

Der Lichthof, in dem die Geschwister Scholl ihre Flugblätter auslegten, ist seit Längerem eine riesige Baustelle. Ich hoffe, ich bekomme ihn mal durchlichtet zu sehen, bevor ich meine BA-Arbeit schreibe. (Ich kann mich an diesem Gebäude nicht sattsehen, überall Bögen und Säulen und Zeug! Okay, und jetzt gerade eben auch Baugerüste.)

Aus dem ersten Stock ins Erdgeschoss in Richtung Unibibliothek, kurz vorher rechts in den Innenhof abbiegen. Im Herbst habe ich in diesem Pavillon immer entspannt meinen Pausenjogurt verspeist; momentan mache ich das lieber drinnen im Warmen. Ich freue mich schon sehr aufs Sommersemester.

Durch den Innenhof, fünf Stufen runter in den kleinsten Raum, in dem ich je Unterricht hatte. Aber wir sind im Beethoven-Kurs nur zu fünft, deswegen lässt es sich sehr gut aushalten.

Und außerdem steht ein bisschen was rum, auf dem der Dozent gerne mal ein paar Akkorde anschlägt. Oder nach ihnen sucht: „In as-Moll ist kein d, oder? Oder?“

Den Pavillon rechts liegen lassen und durch den nächsten Innenhof.

Und schon steht man wieder außerhalb des Unigeländes und wartet auf den Bus, der einen in zehn Minuten bis fast vor die Haustür fährt.

Womit mein Lieblingsprofessor gestern seine Musikgeschichtsvorlesung begann


(Auch deswegen ist er mein Lieblingsprofessor.)

Links vom 23. Januar 2013

Diskothek auf SRF2

Ein toller Tipp von Stromzufuhr:

„In der Diskothek geht es jede Woche um ein anderes Werk. Im Studio finden sich neben einer ModeratorIn noch zwei Studiogäste ein, Menschen die richtig Ahnung von Musik haben, weil sie selbst professionelle MusikerInnen sind, selbst den Dirigentenstab schwingen, oder sich wissenschaftlich mit Musik auseinandersetzen. Dann hören sie sich gemeinsam einen Ausschnitt des Werkes an. Allerdings fünf mal, in fünf verschiedenen Aufnahmen, der gleiche Ausschnitt, wobei nicht verraten wird, um welche Interpreten es sich jeweils handelt. Blindes hören. Zwischendurch vergleichen und bewerten die Studiogäste. Wo liegen die Unterschiede, woran hört man, das Aufnahme 2 auf historischen Instrumenten eingespielt wurde, weshalb gefällt uns die Fermate in Aufnahme 4 so gut?“

Ich habe mir natürlich erstmal die Folge mit Richard Wagners Tannhäuser runtergeladen, konnte sie aber gestern abend nicht mehr hören, weil ich Dschungelcamp gucken für die Klausur lernen musste. Klingt aber großartig.

How movies teach manhood

Sehr spannender und nicht allzulanger TED-Talk über Lehren, die Jungs aus Filmen ziehen können. Colin Stokes, Vater einer Tochter und eines Sohns, erzählt und schlägt den Bogen vom Wizard of Oz zu Star Wars, dem Bechdel-Test und sexueller Gewalt. Danke an @kasimon für den Hinweis.

(Direktlink)

Ein Nachruf auf Beate Sirota Gordon

Der Economist erzählt mir mal wieder etwas über jemanden, von dem ich noch nie gehört habe. In diesem Fall ist es eine junge Amerikanerin, die 1946 damit beauftragt wird, Frauenrechte in die japanische Verfassung zu schreiben. Gordon starb mit 89 Jahren im Dezember 2012. Danke an @dogfood für den Hinweis.

„Japanese women, for example, never came to her mother’s parties. Only the men came. Japanese women would serve their husband’s friends dinner, then eat alone in the kitchen. In the street they always walked three or four paces behind the men. They were usually married to men they did not know, could inherit nothing, and could even be bought and sold, like chattels. (…) There was plenty more, as she warmed to her mission: women’s right to paid work, to custody of children, to equal education. Much of it was stripped out, because it made the men’s eyes water on the American side as much as the Japanese. A kindly colonel pointed out that she had put in far more rights than were in America’s constitution. She fired back that that wasn’t hard.“

Haydn hören

Von den drei Wiener Klassikern bin ich am meisten in Beethoven verknallt, dann kommt mit großem Abstand Mozart, und zu Haydn hatte ich bisher nicht mal wirklich eine Meinung außer „mir egal“. Ihr ahnt schon, was kommt: Zwei Stunden mit meinem Schnuffelprofessor haben gereicht, um mir diese Meinung auszutreiben.

Eckdaten: Joseph Haydn, 1732–1809, galt ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als der wichtigste Komponist für Instrumentalmusik und hat sich diesen Ruf zwei Jahrhunderte lang bewahren können. Heute nennen wir eher Mozart den big shot, aber wie immer bei Genies: Sie stehen schon auf den Schultern von Giganten. Mozart wäre ohne Haydn nicht der, der er war, und Beethoven auch nicht. Was an ihm neu und besonders war: Er verweigerte sich der Nebenbeimusik des galanten Stils (über den schrieb ich hier schon mal). Seine Musik sollte herausfordern, sie verlangte nach einem aktiven Zuhörer. Das ist für uns heute nicht mehr so recht nachzuvollziehen, weil wir schon sowas Herausforderndes wie Zwölftonmusik kennen, aber wenn man sich das hübsche Geplänkel des galanten Stils anhört, wird klar, was Haydn wollte.

Während seines recht langen Lebens komponierte er neben anderen Wundertüten 106 Sinfonien – zum Vergleich: Mozart komponierte rund 60, Beethoven neun – und 68 Streichquartette; er gilt als Begründer dieser Art der kammermusikalischen Darbietung. Bis 1900 nannte man Streichquartette die anspruchsvollste musikalische Gattung, und nicht jeder kam gut mit ihr zurecht. Sowohl Mozart als auch Beethoven taten sich ein bisschen schwer mit diesem Ding, und wenn man sich Mozarts KV 589 anschaut – ein Quartett, das sich auf Haydns Opus 33,2 bezieht –, dann merkt man schon, dass er sich anstrengen musste, um seinem „Lehrmeister“ Paroli bieten zu können. Und den Schluss, auf den ich noch genüsslich zu sprechen komme, konnte selbst er nicht übertreffen.

Haydn verbrachte fast sein gesamtes Komponistenleben am Hof des Fürsten Eszterházy, wo er unbeeinflusst von anderen musikalischen Strömungen ausprobieren konnte, was ging und was nicht und so seinen eigenen Stil entwickelte. Und der war, wie erwähnt, eine Ansage. Haydns Art zu komponieren, lässt sich am besten mit „ökonomisch“ umschreiben. Er nutzt wenige motivische Bausteine, die sich in einem folgerichtigen, logischen Prozess stimmig entwickeln. Seine Quartette haben einen konsequenten, fast zwingenden Charakter. Um das einzuordnen: Mozart folgt auch einem Schema, dengelt aber gerne noch eine Runde Verzierungen an alles dran, während Beethoven, das enfant terrible, gleich ganz die strenge Sonatensatzform zertrümmert – die Haydn entwickelt hatte, die aber erst nach 1800 überhaupt einen Namen bekam.

Hören wir doch mal in seine kleinen Spielereien rein, die er betrieb, um die Zuhörer bei der Stange zu halten. Oder: sie überhaupt vom Billardtisch, dem Kaffeekränzchen oder dem neuesten Klatsch aus der Hofburg wegzukriegen.

Im Streichquartett 25 in C-Dur von 1771 (Opus 20,2) eröffnet zum Beispiel nicht die erste Geige das Quartett, wie sich das gehört. Statt dessen ist es das bis dahin total egale Cello, das sonst nur als „Grundlage“ diente (Stichwort „Generalbass“). Was für ein Opener, wenn man diesen Klang als Soloinstrument nicht gewohnt war! Außerdem spielt das Cello in einer sehr hohen Lage, was es fast nach Bratsche klingen lässt: Es entsteht eine bis dahin ungehörte Klangfarbe. Und wenn man die Hörer schon mal hat, kann man ihnen auch gleich noch mehr zumuten: Der vierte Satz ist in Fugenform geschrieben, was sich eher weniger nebenbei weghören lässt. (O-Ton Professor: „Außer Sie sind unmusikalisch, dann ist das super.“)

Opus 20 „schlug den Weg frei“, wenn man Haydn glauben mag, zu Opus 33 von 1781, das als erstes großes Werk der Wiener Klassik gilt. Opus 33,5 (Streichquartett Nr. 29 in G-Dur) überraschte auch schon mit den ersten zwei Takten: Sie waren nämlich im pianissimo zu spielen. Normalerweise fehlte jede Dynamikangabe in den Noten, weil allen klar war: Wir fangen entspannt in Zimmerlautstärke an. Nicht so hier: Die ersten Takte haben fast den Charakter eines kleinen „Pssst, es geht los.“ Und wer sich mal die Noten anschauen mag: Der kleine Reinkommer ist zudem noch ein ziemlich wichtiger Baustein in der Melodieentwicklung, denn er beendet in Takt 9/10 das Hauptthema des Satzes. Es schließt sich ein für damalige Zuhörer erkennbarer Kreis.

Opus 33,3 (Streichquartett Nr. 32 in C-Dur, „Vogelquartett“) fängt ebenso seltsam an: mit der Begleitung. Hört man, sieht man in den Noten aber auch schön: Die zweite Geige und die Bratsche begleiten ein Thema, das noch gar nicht da ist, und als es dann endlich kommt, klingt es wie sinnlos rumzwitschernde Vögel. Oder wie unser Professor es nannte: „Eigentlich sind das bloß G’s mit Zeug dazwischen.“

Mal kurz weg von den Streichquartetten: In seiner 60. Sinfonie in C-Dur erklingt im Finalsatz etwas, das jeder wiedererkennt, der schon einmal ein Streichinstrument gespielt hat. Wenn Sie mal reinhören möchten? Dauert nur ein paar Sekunden, bis der Effekt kommt. Bitteschön. Für alle Nicht-Streicher_innen: Nach wenigen satten Akkorden, die so richtig schön klassisch nach brachialem Finalsatz klingen, ertönen die charakteristischen Quinten, die man hört, wenn man seine Geige, sein Cello oder ein ähnliches Instrument stimmt. Die zweite Geige darf sogar mit einer Sexte beginnen, so dass es wirklich so klingt, als hätten die Musiker_innen vergessen, ihre Instrumente zu stimmen – oder als ob sie lieber noch mal nachprüfen, ob auch alles seine Ordnung hat. In der Wikipedia sieht man das hübsche Notenbild dazu. Der Beiname dieser Sinfonie lautet übrigens „Der Zerstreute“.

Und als Rausschmeißer, der mich wirklich verzückt hat, noch schnell den vierten Satz von Opus 33,2 (Quartett Nr. 30 in Es-Dur). Er überrascht mit einem Schluss, den unser Professor als einen der „schönsten und zwanglosesten Schlüsse in der Musikgeschichte“ bezeichnete. Wenn Sie sich diese drei Minuten mal aufmerksam gönnen würden? Es lohnt sich. Der Hörsaal lauschte jedenfalls ziemlich begeistert und konnte sich irgendwann ein zufriedenes Lachen nicht verkneifen. Kein Wunder, dass dieses Quartett im englischen Sprachraum den Beinamen „The Joke“ trägt. (Ein Hinweis – ich kenne euch ungeduldige Internetleute doch: nicht zu früh weghören.)

De rouille et d’os

In De rouille et d’os (Der Geschmack von Rost und Knochen) zieht Ali (Matthias Schoenaerts) mit seinem kleinen Sohn zu seiner Schwester und ihrem Mann in Antibes. Als ehemaliger Boxer und Thai-Boxer heuert er bei einem Sicherheitsdienst an, der unter anderem auch den Einlass zu einer Diskothek leistet. Dort trifft er eines Nachts Stéphanie (Marion Cotillard), die sich mit einem Mann streitet und dabei von ihm blutig geschlagen wird. Ali bringt sie nach Hause und hinterlässt seine Telefonnummer. Stéphanie nutzt diese Monate später – als sie in ihrer neuen, kleinen Wohnung lebt und im Rollstuhl sitzt. Durch einen Unfall bei ihrem Job in einem Freizeitpark, wo sie mit Walen arbeitete, verlor sie beide Beine knapp über dem Knie.

Beide Hauptfiguren scheinen zunächst nur aus ihren Körpern zu bestehen: Seiner strotzt vor Kraft und Adrenalin, will dauernd laufen, boxen, ficken. Ihrer tanzt und schwimmt und genießt die Blicke, die er aktiv herausfordert. Der Film bleibt zunächst bei der Körperlichkeit und ist dabei netterweise keiner der üblichen „Wir kommen dann mal eben mit einem ungeplanten Leben klar“-Filme. Natürlich muss sich Stéphanie umstellen, natürlich hat sie Momente der Verzweiflung, aber sobald sie zum Telefon gegriffen hat, um Ali anzurufen, scheint sie wieder zu bemerken, was ihr Körper noch kann. Die erste Begegnung der beiden nach der Nacht in der Disko führt sie ans Meer, wo Stéphanie sich ins Wasser tragen lässt – und dort tiefe Seufzer des Wohlbefindens ausstößt, als sie wieder in ihrem Element ist. Auch das hatte sie vergessen, und auf einmal weiß sie wieder, was ihr guttut.

Alis Körper wird im gleichen Maße zum Schlachtfeld, in dem Stéphanies Körper heilt: Er tritt zu illegalen Boxkämpfen an, um Geld zu verdienen. Der Film hat noch weitere Ebenen – die Arbeiterklasse, die sich gegen „die da oben“ zur Wehr setzt, die Beziehung zwischen Vater und Sohn und natürlich die Liebesgeschichte, die vom ersten Treffen der beiden unausweichlich ist – und einige von ihnen hätte ich gerne etwas kürzer gehabt, weil sie das eigentliche Thema eher verwässern, aber trotzdem fand ich De rouille et d’os fast hypnotisch in seiner Ausstrahlung. Und dass ich ausgerechnet bei Katy Perrys Firework heulen würde, hätte ich vorher auch nicht gedacht.

Der Bechdel-Test:

1. Es müssen mindestens zwei Frauen mitspielen, die
2. miteinander reden
3. und zwar über etwas anderes als Männer.

Stéphanie spricht ab und zu mit ihrer Freundin, ihren Kolleginnen oder Alis Schwester, die ebenfalls ein, zwei Sätze mit ihren Kolleginnen wechselt, aber das sind wenige Momente, die kaum den Namen Dialog verdient haben. Daher:

Test bestanden? Eher nein.

Skyfall

Ja, ich bin etwas spät dran, aber besser spät als nie, um laut kundzutun, dass mir Skyfall sehr gut gefallen hat – mein bisher liebster Craig-Bond.

Schon die Anfangssequenz legt die Messlatte so richtig schön hoch: Wir sehen eine Verfolgungsjagd mit dem Auto, auf einem Motorrad, einem Zug und wenn man’s genau nimmt, auch noch einem Bagger, und zwar nicht irgendwo gemütlich auf der Landstraße in Hintertupfingen, sondern im belebten Istanbul, genauer gesagt, ich zitiere: “They seem to be on top of the bazaar.” Genau. Hervorragendes Tempo, aber nie so schnell, dass man nicht mehr mitkriegt, wer jetzt gerade gemein zu wem ist. Außerdem lernen wir eine neue Agentin kennen, was ich persönlich ja grundsätzlich nett finde, wenn nicht nur die üblichen Klischee-Bond-Girls dabei sind, sondern auch Mädels, die ein bisschen was in der Birne und nicht nur in der Bluse haben.

Schon vor dem Vorspann gibt’s die erste Überraschung, und so geht der Film auch weiter: Immer wenn ich dachte, so, jetzt kommen wir langsam zum Ende, legte Skyfall noch ein Schippchen drauf. Das hat allerdings manchmal ein bisschen genervt; das Finale war einen Hauch zu lang, wenn auch hübsch elaboriert, und den Pseudo-Showdown mit Bösewicht Javier Bardem (JAVIER FUCKING BARDEM!) hätte man etwas kürzen können, genauso wie die komplette Szene davor im Casino, wo das bereits angesprochene Bond-Girl entsetzlich beknackte Dialogfetzen in verführerischem Timbre von sich geben darf. Nochmal zu JAVIER FUCKING BARDEM: Ich habe seine Frisur und seine Outfits gehasst, aber die eine lange ungeschnittene Sequenz, wo er aus der Tiefe des Raums auftaucht und langsam, gemächlich und offensichlich durchgeknallt auf Bond zugeht, bis er schließlich vor ihm steht – die war großes Kino. Ein klassischer Bond-Schurke wie er im Buche steht.

Und wo wir schon bei Klassik sind: Skyfall bietet schönes neues Zeug, greift aber gleichzeitig tief in die Traditionskiste – und ich habe es geliebt. Der wunderschöne Aston Martin aus Goldfinger taucht auf, gefühlt alle 20 Minuten sprach irgendwer davon, es “the good-old fashioned way” zu machen, wir erfahren etwas über Bonds Kindheit, und gefühlsmäßig gehört auch meine liebste Verfolgungsjagd in die gute alte Zeit: Anstatt mal wieder die üblichen Coupés über malerische Serpentinen zu jagen, muss Bond in der Tube rumsprinten – eben nicht irgendwo auf der Welt, sondern in der Stadt, in der alles begann: London. In den letzten zehn Filmminuten gibt’s dann noch mehr aus den Anfängen der Serie; das will ich aber nicht spoilern, auch wenn ich mit einer dieser dramaturgischen Entscheidungen überhaupt nicht glücklich bin. (Wer den Film gesehen hat, müsste wissen, was ich meine.) Trotzdem: eine Story, der man nach dem Totalausfall von Quantum of Solace mal wieder folgen wollte, tolle Darsteller_innen, viel Bond, wie man ihn kennt und vor allem: viel Bond, den man besser kennenlernen will. So frisch und gleichzeitig charmant altmodisch kann sich also diese Filmreihe anfühlen.

Der Bechdel-Test:

1. Es müssen mindestens zwei Frauen mitspielen, die
2. miteinander reden
3. und zwar über etwas anderes als Männer.

Drei Frauen haben Sprechrollen: M, die Agentin und das Bond-Girl, aber die Damen reden nie miteinander.

Test bestanden? Nein.

Unfertiges Rumsinnieren über moderne Kunst oder: Ein Blogeintrag mit vielen Vielleichts

Der charmante Begleiter gestern so im Haus der Kunst: „Einmal für Ends of the Earth, bitte.“

„Das macht zehn Euro.“

Ich so: „Gibt’s Ermäßigung für Studierende?“

„Ja, das wären dann sieben Euro.“

„Gibt’s noch nen Bonus, wenn’s Kunstgeschichte ist?“

„Gibt’s, dann kostet es gar nichts. Aber der Herr ist normal, ja?“

Das muss ich mir jetzt wahrscheinlich ewig anhören, dass man als Kunstgeschichtsstudi nicht normal ist. Aber darum soll’s mir gar nicht gehen.

Die Ausstellung „Ends of the Earth“ beschäftigt sich mit Land Art, genauer gesagt, mit Land Art in der Zeit der sechziger Jahre bis 1974. Ich zitiere zur Einführung kurz von der oben verlinkten Website, die man sich gern komplett durchlesen darf:

„Als erste große Museumsausstellung über Land Art liefert „Ends of the Earth“ den bisher umfassendsten Überblick über die Kunstbewegung, die die Erde als Material benutzte und das Land als Medium. (…) Anfang der 1960er-Jahre begannen Künstler an verschiedensten Orten der Welt, mit Erde als Material zu arbeiten und sich mit der Beschaffenheit der Erde als Planet auseinanderzusetzen. (…) Oft operierten die Künstler der Land Art direkt unter freiem Himmel. Dass die freie Natur andere Bedingungen für die Lebensdauer eines Werkes vorgab als geschlossene Räume, nutzten die Künstler produktiv. Manche Werke existierten nur für die kurze Zeit ihrer Ausführung (…)[.] Bei der Entstehung und Entwicklung der Land Art spielten Sprache, Film und Fotografie eine zentrale Rolle. Magazine und Fernsehsender gaben künstlerische Arbeiten in Auftrag, veröffentlichten sie als Erste und leisteten so einen wichtigen Beitrag zur Distribution der Werke. (…) Zahlreiche Künstler der Land Art beschäftigen sich mit den Wunden und Narben, die der Mensch dem Planeten Erde zufügt, sei es durch Kriegsmaschinerie (Robert Barry, Isamu Noguchi), Diktaturen (Artur Barrio), Atomtests (Heinz Mack, Jean Tinguely, Adrian Piper) oder Besiedelung (Yitzhak Danziger); sie forderten ein verstärktes Bewusstsein für die Bedingungen von Produktion, Präsentation und Verbreitung von Kunst und verliehen in ihren Werken den technologischen, gesellschaftlichen und politischen Bedingungen der Zeit Ausdruck.“

Ich gebe das nur zögernd zu, aber ich werde mit vielem aus der modernen Kunst nicht so recht warm. Vor den meisten Werken oder Installationen ploppt in meinem Kopf ein großes Fragezeichen auf. Wenn die Beschriftung der Werke mir dann auf die Sprünge hilft, macht es manchmal klick und ich grinse und freue mich über eine gute Idee oder ein spannendes Konzept. Wenn es nicht klickt, wird das Fragezeichen zu einem Achselzucken.

In der gestrigen Ausstellung habe ich sehr oft gegrinst und weniger die Achseln gezuckt, was mich sehr gefreut hat, denn natürlich weiß ich, dass ich (noch) eine sehr bornierte Haltung zur Kunst habe – „italienische Renaissance und das 19. Jahrhundert in Deutschland und dann ist gut“ –, und mein Studium dient nicht nur dazu, meine Midlife-Crisis abzuwenden, sondern auch dazu, von diesem Standpunkt runterzukommen und mir die Augen zu öffnen für Epochen und Künstler_innen, die ich bisher noch nicht kannte oder verstanden habe.

Genau über den Begriff des Verstehens habe ich gestern länger nachgedacht. Da liegt vor mir ein vier mal vier Meter großes Erdquadrat von Kristján Gudmundsson, auf das ich mir keinen Reim machen kann. Es ist einfach nur Erde, denke ich – und dann lese ich den Begleittext:

„Die Arbeit ist eine minimalistische Skulptur aus herkömmlicher Erde; eingefügt ist ein Dreieck aus geweihter Erde. Für den Betrachter lässt sich jedoch kein sichtbarer Unterschied ausmachen; er kann nur an die Existenz des geistigen Inhalts glauben.“

Und schon ist das nicht einfach nur Erde, die da vor mir liegt, sondern eine total schlaue Idee. Aus dem Fragezeichen wird ein Grinsen, aber gleichzeitig denke ich das, was ich immer bei moderner Kunst denke: „Wenn’s mir keiner erklärt, kapier ich’s nicht.“ Der nächste Gedanke ist dann immer das selbstgefällig hinterhergeschobene „Das ist bei alten Bildern ganz anders, da weiß ich ja, was ich sehe.“ Und gestern ist mir zum ersten Mal aufgefallen, dass das Blödsinn ist.

Wenn ich vor irgendwelchen Heiligenbildern aus dem Mittelalter stehe, erkenne ich einen Menschen, vielleicht seine Funktion. Aber das war’s dann auch. Ich lerne gerade, welche/r Heilige/r welches Attribut mit sich herumschleppt, damit er oder sie schön identifizierbar ist; aber selbst wenn ich mir gemerkt habe, Sebastian ist der mit den Pfeilen und Katharina ist die mit dem Rad, bringt mich das nicht die Bohne weiter, wenn ich die Geschichten hinter den beiden nicht kenne. Dann sehe ich weiterhin nur irgendeinen Menschen, vielleicht mit Pfeilen oder einem Rad, aber das ist ungefähr das gleiche wie ein vier mal vier Meter großes Stück Erde zu sehen.

Vielleicht muss man Kunst nicht verstehen, damit sie zu einem spricht; ich verwende hier bewusst die Metapher, von der ich vorgestern schrieb, dass sie nicht ganz passend ist, denn ich möchte, dass die Dinge, mit denen ich mich beschäftige, zu mir sprechen, damit ich mich mit ihnen auseinandersetzen kann. Einen Film sehe ich nicht passiv, ich folge der Handlung, überprüfe meist sofort, ob sie sich mir erschließt oder einen Sinn ergibt, und nach dem Abspann formuliere ich innerlich (oder im Blogeintrag), was ich gesehen habe – und vor allem, was es mit mir gemacht hat. Genauso bei Büchern, die mich in Welten führen, zu denen ich sonst keinen Zutritt habe.

Wie gehe ich mit Kunst um? Vielleicht greife ich bei ihrem Konsum unbewusst auf die Mechanismen zurück, die ich bei Filmen und Büchern und im Umgang mit Menschen gelernt habe: Ich will sie verstehen. Aber vielleicht muss ich Kunst gar nicht verstehen. Vielleicht muss ich nur würdigen, dass sie da ist? Aber kann ich etwas würdigen, das mich nicht bewegt, nicht erreicht, nichts mit mir macht, weil ich es nicht verstehe? Und da knackt es schon wieder: Es gibt genug Dinge oder Ereignisse, die etwas mit mir machen, gerade weil ich sie nicht verstehe. Mir fallen spontan nur die Klassiker ein: menschliche Grausamkeiten, politische Entscheidungen, verhängnisvolle Beziehungen usw. Vor vielen dieser Dinge stehe ich hilf- und ahnungslos, aber: Sie machen etwas mit mir.

Viele Werke der modernen Kunst machen auch etwas mit mir, ohne dass ich sagen kann, was genau. Wenn ich meine raffael‘schen Schnuffis angucke, merke ich, dass es mir besser geht, weil mich ihre Schönheit erfreut. Wenn ich Wilhelm Leibls Bilder betrachte, merke ich, dass sich Bewunderung regt. Aber was genau eine Mondrian‘sche Komposition mit Rot, Schwarz, Blau und Gelb oder ein Erdquadrat in mir auslösen, kann ich nicht in Worte fassen. Oder vielleicht doch: Sie werfen Fragen auf, die ich nicht formulieren kann. Und deswegen habe ich auch keine Antwort.

Edit: Agnes Martin hat dazu etwas sehr Schönes gesagt: “Art is the concrete representation of our most subtle feelings.

(via Brainpickings, die 2013 eine tolle Serie beginnt: The Reconstructionists.

„It can be extraordinarily challenging to write about notable women without ghettoizing it as “women’s issues,” and yet some of the most remarkable hearts and minds to drive humanity forward have come equipped with two X chromosomes. It gives me enormous pleasure to announce a new collaboration with artist Lisa Congdon, titled The Reconstructionists — a yearlong celebration of remarkable women across art, science, and literature, both famous and esoteric, who have changed the way we define ourselves as a culture and live our lives as individuals of any gender.“

< quote > vl;ra/Very long, read anyway

„Wir haben oben schon darauf hingewiesen, dass das Kunstwerk im Gegensatz zur face-to-face-Kommunikation eine asymmetrische Kommunikation auslöst. Diese Feststellung ist eine relative, denn totale Asymmetrie kennt die Kommunikationstheorie nicht – immer muss ein Gegenüber anerkannt werden, immer muss ein gemeinsamer Bezugsrahmen angesprochen sein. Im Falle der ästhetischen Kommunikation erweist sich die relative Asymmetrie als Antrieb, den Betrachter nicht nur zu disponieren – durch äußere Vorgaben, deren Berücksichtigung vorausgesetzt wird –, sondern auch zu stimulieren, zu aktivieren, am Aufbau des Werks zu beteiligen. Dies geschieht durch die Art und Weise, wie der Betrachter an der innerbildlichen Kommunikation beteiligt ist. Genauer: Wie er an einer Kommunikation teilnimmt, an der er nur als Betrachter, nicht als Akteur beteiligt sein kann. Die innere Kommunikation, das, was wir häufig Darstellung, Komposition, Handlung nennen, besteht aus „Menschen, die sich Zeichen geben […], Dinge[n], die Zeichen sind […], Vorgänge[n], die selbst schon Kommunikation sind oder zumindest von Kommunikation begleitet werden oder aber der Gegenstand von Kommunikation sind, die von den Menschen im Bild gemacht wird.“(1) Im Unterschied zu den meisten Formen der Alltagskommunikation ist für die innerästhetische Kommunikation wesentlich, dass sie unter den Augen von Betrachtern stattfindet. „In das Medium sind bestimmte Formen eingelegt, die die Wahrnehmung der Zuschauer, die Weise, in der sie auf die innere Kommunikation schauen, organisieren; die innere Kommunikation wird präsentiert, und zwar so, dass sie nicht nur das bedeutet, was sie ohne Zuschauer für die beteiligten Akteure der inneren Kommunikation bedeuten würde, sondern dass sie eine zusätzliche Bedeutung hat, die gerade aus dem Umstand der Anwesenheit von Zuschauern resultiert.“(2)“

(1) Bitomsky, H.: Die Röte des Rots von Technicolor. Kinorealität und Produktionswirklichkeit, Neuwied/Darmstadt 1972, S. 30.
(2) ebd., S. 105.

Kemp, Wolfgang: Kunstwerk und Betrachter: Der rezeptionsästhetische Ansatz, in: Belting, Hans u.a. (Hrsg.): Kunstgeschichte: Eine Einführung, Berlin 1985, 7. überarbeitete Auflage 2008, S. 252/253.

Ich bin sehr in das Buch verliebt, wie man vielleicht merkt. Es reißt so viele Themen an, die unbewusst mitschwingen, wenn ich mich mit Kunst auseinandersetze, die ich aber noch nie in Worte gefasst gelesen habe. Und es zeigt mir gleichzeitig viele neue Perspektiven und Denkansätze auf, die bisher noch nicht in meiner Wahrnehmung stattfanden. Zum Beispiel, dass Bildbeschreibungen ein bisschen wie Architekturtanzen ist:

„Interpretationen werden gesprochen oder geschrieben, die Werke der bildenden Kunst sind aber gezeichnet, gemeißelt, gegossen, gemalt, gebaut, montiert; und die Schrift ist nicht ihr Darstellungsmittel, auch wenn sie in Signaturen und Inschriften auftritt. Wir neigen dazu, die Unterschiedlichkeit der Darstellungsmittel zu verwischen mit einer Reihe von Metaphern: Wir sprechen vom Lesen oder von der Lektüre der Bilder, als wären sie Texte, wir lesen von „architecture parlante“ und von „peinture parlante“. Wir sprechen von der Aussage eines Bildes, als könnte es die sprachliche Darstellung eines Sachverhaltes sein, und wir bemerken, dass ein Bild uns „nichts sagt“, wenn wir meinen, dass es uns gleichgültig sei. (…) Mit der Metaphorik vom Sprechen der Werke, die auf die Antike zurückgeht, äußern wir den Wunsch, das Kerygma, die an uns gerichtete Botschaft der Werke, zu entziffern und zu hören – kühler gesagt, ihren „Appell“ zu erfahren. (…)

Das Verstehen der Werke setzt die Unterbrechung der flüchtigen Wahrnehmung und des alltäglichen Gebrauchs der Werke voraus und kommt in Gang durch die Feststellung der Unverständlichkeit der Werke.

(…) Wir erkennen im „Appell“ oder in unserem Unverständnis die Aufforderung, mit der Tätigkeit des Verstehens zu beginnen. Wir können das Verstehen von Werken der bildenden Kunst allgemein als jene Tätigkeit umschreiben, durch die wir unser Unverständnis beseitigen wollen. Wir unterscheiden den „Appell“ der Werke, der sich an unser Verstehen richtet, von der Aufforderung an unser Verhalten, die z.B. von Plakaten ausgeht und zum Konsum von diesem oder jenem Bier leiten will. Ich glaube auch, dass wir einen Unterschied machen müssen zwischen dem Verstehen von Werken der bildenden Kunst und dem Verstehen beim Lesen von Texten. Klaus Weimar hat das Verstehen beim Lesen (den Vorgriff auf die folgenden Sätze und den Rückgriff auf das Gelesene) als einen „geistigen Reflex“ bezeichnet: Das Verstehen beim Lesen kann man nicht willentlich unterdrücken, es sei denn, man hört auf zu lesen.(3) Dagegen kann man Werke der bildenden Kunst gebrauchen oder wahrnehmen, ohne die Tätigkeit des Verstehens zu beginnen.“

(3) Weimar, Klaus: Enzyklopädie, §§ 285–297

Bätschmann, Oskar: Anleitung zur Interpretation: Kunstgeschichtliche Hermeneutik, in: Belting, Hans: ebd, S. 201/202.