Beethoven in Bewegung

Der Kurs heißt „Werkhören“, und ich stellte mir darunter vor, dass wir brav an unseren Plätzen sitzen, Musik lauschen und am Ende des Semesters in der Lage sind, ein Barockstück von einem der Renaissance zu unterscheiden und vor allem begründen zu können, woran wir es erkennen. Umso größer war meine Überraschung, als ich am Mittwoch zur ersten Sitzung auflief. Ich kam ein paar Minuten zu spät, öffnete vorsichtig die Tür zum Seminarraum – und sah zehn Studis, die sich wild im Raum bewegten. Zwei Frauen saßen am Rand, ich fragte die eine ungläubig, ob das hier der Kurs Werkhören sei, und sie meinte laut-fröhlich: „Ja! Wunderbar! Hier ist Ihre Partnerin!“ Woraufhin die andere Dame und ich uns ebenfalls in die Mitte begaben und folgendes taten:

Sie war A, ich war B, A musste sich irgendwie im Raum bewegen und B musste ihm oder ihr alles nachmachen. Das tat ich für ein paar Minuten, und weil ich zu spät war und keinerlei Einführung mitbekommen hatte, tat ich das auch alles ohne den üblichen Grönerkopf („OMG was tue ich hier und wie sehe ich dabei aus?“). Nach ein paar seltsamen, aber durchaus unterhaltsamen Minuten kam eine neue Aufgabe: Dieses Mal musste B vorangehen und dabei Emotionen darstellen, die A wiederholen sollte. Also die Hände kevinmäßig verschreckt vors Gesicht legen. Oder Fußballstadionjubeln. Oder weinend auf dem Boden kauern.

Wir bewegten uns auf recht kleinem Raum, weswegen man dauernd mit jemand zusammenstieß, denn wir hatten auch Ballerinapirouetten, Speerwerfer und ähnliche Bewegungen dabei. All das nahm ich aber nur aus dem Augenwinkel wahr, denn ich war zu beschäftigt, innerhalb von wenigen Sekunden immer neue Emotionen zu finden, die ich darstellen konnte.

Nach wiederum ein paar Minuten, in denen wir konzentriert, aber mit viel Gelächter und „Oh, Entschuldigung“-Sagen arbeiteten, gab es wieder eine neue Aufgabe: Dieses Mal ging wieder A voran, und B musste alles, was A tat, völlig überzogen darstellen. Meine Kommilitonin schritt voran – ich marschierte. Sie klatschte in die Hände – ich flippte total aus vor Freude. Sie wischte sich ein paar Tränchen aus dem Gesicht – ich brach fast zusammen vor Schmerz.

Und dann kam endlich die Musik, genauer gesagt, der 2. Satz aus Beethovens Klavierkonzert Nr. 4 in G-Dur, Op. 58. Wir sollten uns zu neuen Pärchen zusammentun – „Vielleicht mal ein bisschen gemischter, Jungs mit Mädchen …“ –, woraufhin ich mit einem geschätzt 22-jährigen Theaterwissenschaftsstudi durch den Raum irrte. (Ich hatte den Herrn schon auf dem Fußboden vor der ausgefallenen Gehörbildungsstunde am Montag kennengelernt.) Dieses Mal lautete die Ansage: „Einer von Ihnen ist das Orchester, der andere das Klavier. Machen Sie mal.“ Und so trat mein Kommilitone orchestral-forsch und bestimmend auf, während ich erst mal piano-zaghaft vor ihm floh, dann versuchte, meinen Standpunkt klarzumachen; er widersprach, ich argumentierte, alles wortlos, alles ohne dass wir wussten, was der andere dachte, aber: Wir bewegten uns irgendwann aufeinander zu, gestisch, mimisch, um schließlich Rücken an Rücken stehenzubleiben. Ohne ein Wort miteinander gesprochen zu haben.

Inzwischen war ich etwas verschwitzt, aber – wie immer an der Uni – völlig hingerissen von dem, was ich da tat. Auch wenn ich nicht wusste, was ich tat. Wahrscheinlich genau deswegen. Jetzt setzten wir uns und sollten die Augen schließen. „Wir gehen jetzt auf eine Phantasiereise. Sie hören den Beethoven gleich noch mal, und Sie befinden sich unsichtbar in einem gläsernen Kubus. Im Kubus befinden sich außerdem zwei Personen und zwei Gegenstände. Gucken Sie einfach mal, was passiert und merken Sie sich die Geschichte.“

Und so saßen zwölf Studis stumm mit geschlossenen Augen da, hörten alle die gleiche Musik – und sahen Glasvitrinen, Stühle, Bambusstauden, Briefe, Väter, Kinder, Liebende, Könige. Woher ich das weiß? Wir sollten uns danach zu viert zusammentun und uns erzählen, was wir gesehen hatten, die interessanteste Geschichte auswählen und die nochmal interpretieren, wobei zwei die Darstellenden waren und zwei die Beobachtenden. In unserer Gruppe war ich die einzige, die zwei bekannte Personen gesehen hatte, die anderen hatte nur gesichtslose Menschen wie Mann, Frau, Vater, Sohn. Wir entschieden uns für die plakativste Geschichte, die zwei meiner Mitstudis nun noch einmal zur Musik darstellten, während Theatermensch (ich muss dringend anfangen, mir Namen zu merken) und ich ihnen zuschauten. Unsere Aufgabe war, uns drei Positionen der beiden zu merken, die am klarsten den Fortgang der Geschichte markierten. Diese Posen wurden dann dem Kurs gezeigt – und der hatte die Aufgabe, unsere Geschichte zu erkennen. Und was für mich unglaublich war: Das hat funktioniert. Wir haben alle die Geschichten der anderen wiedererkannt, vielleicht nicht in allen Feinheiten, aber was ungefähr gesagt werden sollte, war allen sofort klar.

Die Stunde war schon fast rum, als es endlich darum ging, warum wir diesen ganzen Kram veranstalten. Eigentlich ganz simpel: Als Musikwissenschaftler oder -wissenschaftlerin geht man eigentlich anders an Musik heran – mit einer Partitur vor der Nase, mit Vorwissen, mit einem Berg Literatur dazu und schließlich dem konzentrierten Hörerlebnis. Das hier war schlicht eine andere Herangehensweise – eine intuitive, emotionale. Ohne dass wir uns zum Beispiel in der zweiten Übung abgesprochen hatten, wusste jeder von uns ungefähr, was der andere „sagen“ wollte. Ein Kommilitone erzählte, so habe sich sein Musikleistungskurs öfter Musik erarbeitet, zu der man intellektuell keinen Zugang gefunden habe. Er erwähnte Schönberg, bei dem sein ganzer Kurs nach der üblichen und in diesem Fall erfolglosen Arbeit mit der Partitur gesagt habe, wir tanzen das jetzt. Dann taten sie genau das, was ich gerade getan hatte: Sie ertanzten sich einen Weg, mit der Musik klarzukommen.

Die Grundfrage war schlicht: Was will ich persönlich von Musik, was durchaus eine Frage ist, die man sich im Studium der Musikwissenschaft stellen sollte. Also: Will ich Musik emotionaler erfahren? Brauche ich dafür den intellektuellen Zugang? Oder erlange ich den vielleicht erst über den emotionalen? Lese ich mich erst in ein Stück ein oder erarbeite ich es mir, indem ich durch mein Wohnzimmer tanze?

Im Laufe des Kurses, so steht es jedenfalls auf dem Plan, lernen wir noch weitere Zugänge zur Musik, erfahren, wie Musik als Sprache funktioniert und beschäftigen uns auch mit der Didaktik des Musikvermittelns, woran ich noch nie einen Gedanken verschwendet habe. Dann mach ich das halt jetzt. Wie immer sehr freudig-hibbelig.

(file under #hach)