Links vom 8. Februar 2014

Against Playing the Short Game: In Defense of Art History

Der Artikel von Tina Rivers passt hervorragend zu dem ersten Lesetipp von gestern. Auch hier wird eine Lanze für die Kunstgeschichte gebrochen – und zwar aus einem interessanten Grund (Hervorhebungen von mir):

„[T]hough our world used to be dominated by the dissemination of text, our society is increasingly dominated by visual modes of communication. In the coming years, it’s likely that visual literacy will become a key skill, alongside textual literacy, for workers throughout our economy. This is why it’s important for President Obama to understand that art historians don’t simply teach the historical development of artistic styles; more critically, we teach people how to look at images. I don’t think he would make a public statement against teaching our children to read … so why should he implicitly ridicule teaching people how to read images, when images are now as important as text in the construction of our common culture?“

Ich bin im bisherigen Studium bereits mehrmals über die Diskussion Kunstgeschichte versus Visual Studies (Bildwissenschaften) gestoßen. Welche Art der Lehre ist die heute angemessene? Muss sich die Kunstgeschichte mehr mit digitalen Bildern, Werbung, Comics und anderen modernen Bildelementen befassen, was aber den Terminus „Geschichte“ ad absurdum führen würde? Einer meiner Profs meinte mal scherzhaft, alles nach 1980 würde er ignorieren, das sei noch keine Geschichte. Im Gegensatz dazu beschäftigen sich die Visual Studies mehr mit heutigen Symbolen und Zeichen, die uns umgeben, aber vernachlässigen sie nicht genau die lange Historie, die hinter ihnen steckt? Müssen sich die zwei Fächer ergänzen, sollten sie verschmelzen, sollten sie sich noch strikter trennen?

Die Frage nach der heutigen bildlichen Darstellung berührt unter anderem die Gender Studies, die es inzwischen natürlich auch in der Kunstgeschichte gibt (Linda Nochlin* und Griselda Pollock** sei dank). Wir haben im letzten Semester den Text What do „Bildwissenschaften“ want? von Sigrid Schade gelesen, die ziemlich erbost darüber ist, dass die Kunstgeschichte sich erst jetzt mit dem feministischen Blick auf Bilder befasst, denn genau das tun die Visual Studies und die Genderforschung seit über 30 Jahren. Zusätzlich beklagt sie, dass die Kunstgeschichte, die traditionell eine männliche Wissenschaft über männliche Kunstwerke ist, weiterhin Exklusionsstrategien nutze, indem sie Erkenntnisse der Genderforschung nachträglich als ihre eigenen ausgebe.

* Hier steht Nochlins grundlegender Aufsatz Why have there been no great women artists? von 1971. Ich zitiere aus dem Dictionary of Art Historians zu ihrer Person: „Instead of attempting to elevate minor women artists to a status of males artists of the period, the article focused on the “feminist gaze,” and the coded, gender-biased reception [of] major art works, then and today.“

** Hier (Link startet pdf-Download) findet sich das gekürzte Vorwort von Pollock zu ihrem Buch Vision and Difference: Feminism, Femininity and the Histories of Art.

(Erster Link via coldethyl)

Recycled Beauty

Ignant präsentiert eine schöne Serie von Stillleben, die aus Weggeworfenem oder einmalig Benutzem zusammensetzen. Produziert wurden sie von Laurie Frankel und Diane Gatterdam.

Olympia-Ruinen in Sarajewo – Schanze im Minenfeld

Weniger Kunst, mehr Geschichte: Spiegel EinesTages guckt sich an, was aus den Sportstätten in Sarajewo geworden ist.

„Auch die Olympiaanlagen, auf die die Bevölkerung und die Welt jahrelang so stolz waren, wurden in den zerstörerischen Sog des Krieges hineingezogen. Aus der einst modernsten Bobbahn der Welt, in der DDR-Athlet Wolfgang Hoppe zweimal Gold holte, wurde ein Artillerieposten für serbische Freischärler. Das Kosevo-Stadion, in dem 1984 die pompöse Eröffnungsfeier stattfand, wurde von den Kämpfen schwer zerstört, seine Überbleibsel wurden zur Begräbnisstätte umfunktioniert. Und in der Zetra-Olympiahalle, wo Kati Witt ihre erste Goldmedaille gewann, lagerten neben Essensrationen der Luftbrücke bald auch Leichen. Es war einer der wenigen Orte in der Stadt, an dem es konstant kühl war. Nach einem Bombenangriff im Sommer 1992 brannte die Zetra-Halle komplett aus und lag in Schutt und Asche. Die Holzsitze des Stadions wurden laut “New York Times” als Material zum Zimmern von Särgen verwendet.“

Links vom 7. Februar 2014

How Art History Majors Power the U.S. Economy

Der Artikel ist schon etwas älter (2012), aber die Argumentation für das angeblich sinnlose, weil nicht-einträgliche Studium von Fächern wie Kunstgeschichte und Philosophie stimmt immer noch: Wenn alle nur noch BWL und Jura studieren, haben wir bald bergeweise arbeitslose BWlerInnen und JuristInnen. Deswegen sollte ruhig alle, die Lust dazu haben, Kunstgeschichte und Philosophie studieren. Das scheinen sowieso nicht allzu viele Menschen zu sein:

„According to the National Center for Education Statistics, humanities majors account for about 12 percent of recent graduates, and art history majors are so rare they’re lost in the noise. They account for less than 0.2 percent of working adults with college degrees, a number that is probably about right for recent graduates, too. Yet somehow art history has become the go-to example for people bemoaning the state of higher education.“ (…)

Contrary to what critics imagine, most Americans in fact go to college for what they believe to be “skill-based education.” A quarter of them study business, by far the most popular field, and 16 percent major in one of the so-called Stem (science, technology, engineering and math) fields. Throw in economics, and you have nearly half of all graduates studying the only subjects such contemptuous pundits recognize as respectable. (…)

The argument that public policy should herd students into Stem fields is as wrong-headed as the notion that industrial policy should drive investment into manufacturing or “green” industries. It’s just the old technocratic central planning impulse in a new guise. It misses the complexity and diversity of occupations in a modern economy, forgets the dispersed knowledge of aptitudes, preferences and job requirements that makes labor markets work, and ignores the profound uncertainty about what skills will be valuable not just next year but decades in the future.“

Im Artikel wird auch angesprochen, dass viele Studierende sich überlegen, was sie verdienen wollen, bevor sie sich für ein Studienfach entscheiden. Das klingt sinnvoll, aber wer sich nur daran orientiert, was später auf der Gehaltsabrechnung steht, hat wahrscheinlich deutlich weniger Spaß am Job als die Menschen, die zuerst ihren Neigungen folgen und dann der Kohle. In einem Text über Frauenbildung der letzten 200 Jahre bin ich über eine Stelle gestolpert, die immer noch in mir grummelt. Dort wurde aufgedröselt, welche Fächer eher von Männern und welche eher von Frauen belegt werden. Die Antwort: Männer studieren Fächer, die Prestige und ein höheres Einkommen erwarten lassen, Frauen das, auf das sie Lust haben. Was in den leidigen Diskussionen um die Gender Pay Gap ja immer gerne vorgebracht wird: Würden wir Mädels mal so was Sinnvolles wie Wirtschaftswissenschaften studieren anstatt französische Literatur, würden wir auch mehr Geld verdienen.

Wie wäre es, wenn wir das umdrehen? Anstatt den Jungs weiter einzureden, sie müssten irgendwas Geldwertes studieren, damit sie brav eine Familie ernähren können, die sie nie sehen, weil sie bis 22 Uhr im Büro sitzen – wäre es nicht viel toller, wenn wir dieses Prestigedenken auf den Müllhaufen der Soziologie werfen und uns alle nur noch mit Dingen beschäftigen, die uns interessieren? So wie wir schlauen Frauen das anscheinend schon tun, dabei aber natürlich unseren Marktwert böse ignorieren – den wir übrigens auch auf irgendeinen Müllhaufen werfen können, wenn wir schon dabei sind.

Ja, naiver Vorschlag, ich weiß. Ich wollte ihn aber wenigstens loswerden, damit es nicht wieder heißt, dem Feminismus sind die Männer egal.

Kunst auf Armlänge: Jerry Saltz über Selfies

Das Monopol-Magazin (das übrigens das erste war, das ich auf meinem geliebten iPad mini abonniert habe) schreibt sehr ausführlich über Selfies aus kunsthistorischer Sicht:

„Auf gewisse Weise orientieren sich diese Selfies am alten griechischen Theaterkonzept der Methexis – ein Partizipationsmodell, in dem der Sprecher das Publikum direkt anspricht, ein wenig wie wenn Filmkomiker direkt in die Kamera grimassieren.

Schließlich und faszinierenderweise wurde das Genre nicht von Künstlern erfunden – sondern von uns allen. Man könnte das Selfie gewissermaßen als Folklore verstehen, und als solche hat es schon jetzt die Sprache und das Lexikon der Fotografie erweitert. Selfies dokumentieren das moderne Leben, wobei sowohl Akademie wie auch Kuratoren sie bisher weitgehend ignorieren. Das wird sich allerdings ändern: In hundert Jahren steht uns durch die gewaltige Menge von Selfies ein unglaubliches Archiv der kleinen Details des Alltags zur Verfügung. Man muss sich nur mal vorstellen, was es alles zu sehen gäbe, wenn man Millionen Selfies aus den Straßen des antiken Roms hätte. (…)

Im Gegensatz zur traditionellen Porträtkunst brauchen Selfies keinen hochtrabenden Überbau. Sie gehen einen anderen Weg – oder gar keinen. Theoretiker wie Susan Sontag und Roland Barthes erkannten in allen Fotographien Zeichen von Melancholie und Tod. Aber Selfies sind nicht für die Ewigkeit gedacht. Sie erinnern an den Hund aus dem Cartoon, der auf die Frage nach der Uhrzeit immer „Now! Now! Now“ kläfft.

Adererseits lassen sich durchaus Bausteine einer kunsthistorischen und visuellen DNA finden, aus denen die Strukturen und Wurzeln der Selfies entstanden sind. So gibt es ja zum Beispiel auch alte analoge Fotos, auf denen Leute Kameras vor sich hinhalten, um sich selbst zu fotografieren. (Beliebt war das Motiv zum Beispiel, um das letzte Bild einer Filmrolle zu verknipsen, damit man den Film zum Entwickeln geben konnte.) Aber als Genre blieb diese Art des Porträts undefiniert, verschwommen und uncodiert. (…)

Ich bin bei weitem nicht der Erste, der das Selfie für eine signifikante Gattung hält. Schon 2010 schrieb der Künstler und Kritiker David Colman in der „New York Times“, das Selfie sei mittlerweile „so allgemein verbreitet, dass es die Fotografie als solche verändert.“ Colman zitierte dabei seinerseits den Kunsthistoriker Geoffrey Batchen, für den sich im Selfie zeige, „wie sich die Fotografie von einem Medium der Erinnerung zu einem Kommunikationsmittel wandelt”. Mir wiederum gefällt am Selfie vor allem, dass wir nach dem Fotografieren noch etwas anderes damit anfangen: wir veröffentlichen es. Was wiederum ebenfalls so etwas Ähnliches wie Kunst ist.“

Zur Selbstporträt des Parmigianino, das dem Artikel voransteht, haben wir in Kunstgeschichte noch gelernt, dass das durchaus Absicht sein könnte, dass die Hand des Künstlers so deutlich sichtbar ist. Im 16. Jahrhundert nahmen sich KünstlerInnen erstmals als solche war und nicht nur als HandwerkerInnen, insofern ist es naheliegend, dass Parmigianino sein „Arbeitswerkzeug“, das, was ihn besonders macht und auszeichnet, so prominent darstellen wollte.

Twitterlieblinge Januar 2014

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Fischfilet à la Bordelaise

Lust auf Fisch gehabt. Fertigzeug im Supermarkt gesehen. Mich daran erinnert, dass Frau Elise ihre selbstgemachte Version neulich auf Twitter gepostet hatte. Seelachsfilet gekauft, Rezepte gegoogelt, mir die Zutaten rausgepickt, die ich hatte, und in 30 Minuten leckeres Futter auf dem Teller gehabt. Optisch allerdings noch etwas verbesserungswürdig. Nächstes Mal.

bordelaise

50 g weiche Butter mit
50 g Semmelbröseln,
1 Knoblauchzehe, fein gehackt,
1 EL Tomatenmark und
1/2 Bund Petersilie, fein gehackt, vermischen. Die Semmelbröselmenge ist geschätzt; ich hatte ungefähr 80 g und das war deutlich zuviel; deswegen sieht das auf dem Bild auch so brockig aus.

300 g Seelachsfilet in eine leicht geölte Auflaufform geben, salzen und pfeffern. Die Buttermischung entweder im Zerkleinerer pulverisieren oder, wenn man wie ich in München keinen Zerkleinerer hat, alles mit der Hand zu einer Kugel kneten und die dann flachpatschen. Egal wie – alles auf den Fisch geben und für 15 Minuten im auf 200° vorgeheizten Ofen backen. Bei mir gab’s noch Zucchini und Karotten aus der Pfanne dazu. Binsenweisheit zum Schluss: schmeckt natürlich besser als industriegefertigt, auch wenn’s nicht ganz so sexy wie auf ’ner TK-Packung aussieht.

„Und, Anke, wie war so dein drittes Semester?“

(Erstes, zweites Semester)

Ich habe gelernt, dass ich noch irrwitzig viel lernen muss und will. Ich begreife so langsam, was das Fach Kunstgeschichte alles zu bieten hat an Richtungen, Theorien, KünstlerInnen, HistorikerInnen, und ich weiß wirklich nicht, wer sich ernsthaft nach sechs popeligen Semestern hinstellt und sagt, klar bin ich KunsthistorikerIn. Ich kriege hier so viel Zeug vor die Nase und sauge es auf und wurste es in meinem Kopf durch, aber ich weiß jetzt, dass da draußen noch so wahnsinnig viel mehr rumliegt. Und wo ich im ersten Semester dachte, ach du Scheiße, drei Jahre Uni, denke ich jetzt, WAS, NUR DREI JAHRE UNI, DA SCHAFF ICH JA NIX!? Ich bin jetzt halb durch mit dem Bachelor und denke schon über den Master nach. (Und nicht über meinen Kontostand.)

Ich habe gelernt, wie schnell ich auch in wissenschaftlichen Diskussionen auf den Barrikaden bin. Mein liebster Geschichtskurs hieß Geschlecht im Zeitalter der Extreme 1900–1939 und befasste sich mit Männlichkeitsbildern, Frauengeschichte und dem Verhältnis der Geschlechter zueinander. Und egal um welches Thema es bei den Damen ging – ich habe es nicht geschafft, darüber sachlich und distanziert zu diskutieren. Zu merken, dass wir heute noch elende Diskussionen führen, die wir schon vor 50, 100 oder 200 Jahren geführt wurden, hat mich unglaublich genervt und müde gemacht. Zu lernen, dass die dusseligen Geschlechtszuschreibungen (Frauen sind so, Männer sind so, Natur, Biologie, isso, kannste nix machen) ein Konstrukt der Aufklärungszeit sind, das aber bedingt, dass Frauen sich heute noch rechtfertigen müssen, wenn sie beruflich arbeiten wollen und Männer, wenn sie lieber Gardinen aussuchen und Kinder großziehen möchten, regt mich seit der Unterrichtsstunde auf, in der wir darüber was gelesen haben. Ich hatte 25-Jährige neben mir, die sich „nur für sich schminken“ und aufbrezeln und verkennen, dass die eigentliche Freiheit, sich schminken zu dürfen, ohne für eine Prostituierte gehalten zu werden, sich irgendwann wandelte in einen Zwang, es zu müssen, wenn man als „weiblich“ gelten will, was auch immer das heißt. Ich habe darüber diskutiert, wie sehr Konsum weiblich konnotiert ist und warum das doof ist, weil Männer schließlich auch einkaufen. Ich habe dagegen anargumentiert, dass es eine tolle Möglichkeit ist, dass „wir Frauen“ unseren Typ ständig ändern können (heute verrucht, morgen der Kumpel), weil „die Männer“ locker auf diese angebliche Freiheit pfeifen und einfach immer sie selbst sind, ohne sich verrenken zu müssen und irgendwelchen Stereotypen genügen zu wollen. Ich habe versucht zu erklären, warum Kinder und Job zwar eine kleine Freiheit, aber gleichzeitig eine große Doppelbelastung für Frauen in den 1920ern war, weil damals das Konzept „Männerarbeit im Haushalt“ schlicht noch nicht angedacht war und dass sich nicht so irrwitzig viel geändert hat, auch wegen der oben angesprochenen Zuschreibungen, die beiden Geschlechtern schaden. Ich hatte des Öfteren den „Oma Gröner erzählt vom Krieg“-Tonfall drauf und war komplett von mir selbst genervt. Der Rest des Kurses, glaube ich, nicht, aber dafür hatten die Mädels meist den verklärten „Bei mir wird alles anders“-Blick drauf. Hmja. So hab ich mit 20 auch geguckt.

Learnings für das nächste Semester: nur noch Kurse belegen, die mich persönlich nicht betreffen. Wird super.

Ich habe gelernt, dass meine Toleranz für doofe Ausflüchte an der Uni ähnlich gering ist wie im Job, was aber damit zu tun hat, dass ich inzwischen beides kenne. Vor 20 Jahren habe ich ähnlichen Quatsch von mir gegeben und war total von der Richtigkeit desselben überzeugt. Sätze wie „Ich hab’s nicht geschafft, den Text zu lesen, ich hatte so viel zu tun“ ziehen automatisch meine Augenbrauen nach oben und ich denke dann, den Spruch solltest du mal im Arbeitsleben bringen, Hase. Im ersten Semester wollte ich noch Kontakte zu KommilitonInnen knüpfen, um mit Gleichgesinnten über Kunst reden zu können, aber ich merke jetzt doch, dass eine kleine Welt zwischen uns liegt, vor allem was die Herangehensweise an Arbeiten, Lesestoff und Deadlines geht. Ja, ich habe auch Texte fürs Dienstagsseminar manchmal erst Montag um Mitternacht gelesen, aber ich habe sie gelesen und mir nicht stattdessen eine Ausrede überlegt.

Ich habe gelernt, dass das Leben an zwei Orten gleichzeitig manchmal Vorteile hat. Gut, die Nachteile überwiegen – anderthalbfache Miete, Flugkosten, Fernbeziehung, mein Lieblingsshirt liegt grundsätzlich am anderen Ort und ich weiß nie, wo was im Kühlschrank vorrätig ist –, aber ich kann nicht nur in einer, sondern in zwei Staatsbibliotheken Bücher ausleihen. Ha!

Ich habe gelernt, dass ich stolz auf meine Leistungen bin und freiwillig viel für gute Noten tue.

Ich habe gelernt, dass ich immer weniger Verständnis für die Beschränkung von Wissen habe. In meinen ersten beiden Semestern Kunstgeschichte habe ich mich, warum auch immer, um Zeitschriftendatenbanken etwas herumgedrückt; in meinem wirklich grandiosen Basiskurs Geschichte wurde ich allerdings liebevoll gezwungen, mich da mal durchzuwühlen. Und, man glaubt es kaum, so ein Aufsatz ist echt schneller durchgelesen als ein Buch! Wer hätte es gedacht. Und es gibt zu jedem noch so obskuren Thema jemanden, der sich schon mal darüber Gedanken gemacht hat, damit ich sie zitieren kann. Aber: Man kommt nicht an alle Gedanken ran. Viele Zeitschriften sind noch nicht digital erhältlich (warum, wenn sie gedruckt irgendwo rumliegen?) und viele andere befinden sich hinter Bezahlschranken. Selbst die Journale, für die meine wunderbare Institution einen Zugang übers Uninetz bereitstellt, geben manchmal erst Artikel raus, die vor, sagen wir: 2008 erschienen sind. Hallo? Ich kann verstehen, dass die HerausgeberInnen dieser Magazine ihre neuen Ausgaben nur gegen Geld zur Verfügung stellen, aber hey: Fünf Jahre alte Artikel für wissenschaftliche Zwecke nicht umsonst abrufbar zu machen, ist einfach lächerlich. Gilt auch für nicht-wissenschaftliche Zwecke, wenn ich’s mir recht überlege. Was nützt das ganze Wissen, wenn niemand rankommt? Ich hätte meiner geschätzten Leserschaft in den letzten Monaten gerne alles verlinkt, was ich lese, because awesome. Geht aber nicht, außer diese Leserschaft ist selbst in irgendwelchen Uninetzen unterwegs. Doof, das. Ändert das!

Ich habe gelernt, dass ich wissenschaftliche Texte inzwischen wie Literatur verschlinge. (Okay, bei Kunstgeschichte sind auch ne Menge bunte Bilder in den Büchern, das hilft.) Ich lese den Kram so unglaublich gerne, dass es mich selbst immer wieder verblüfft. In jedem Text stecken so viele neue Gedankengänge, denen ich folge, über die ich nachdenke, während der Text weiterfließt, und am Ende tauche ich aus den Buchstaben genauso neu auf wie nach einem Ausstellungsbesuch oder einer guten Vorlesung. Ich nehme aus jedem Text so viel mit und kann es beim nächsten Text, im nächsten Seminar, bei der nächsten Hausarbeit anwenden. Klingt simpel, aber in den letzten Jahren war ein Buch für mich ein abgeschlossener Kosmos, der damit endete, dass ich den Band zurück ins Regal stellte. Jetzt wirken Seiten, Sätze, Worte viel länger nach und auf einmal ergibt vieles Sinn, dem ich vor anderthalb Jahre noch schulterzuckend oder ratlos gegenüberstand. Ich glaube, ich habe das Konzept „Wissenschaft“ verstanden.

Ich habe erleichert festgestellt, dass der Fachwechsel von Musikwissenschaft zu Geschichte eine sehr gute Idee war. Geschichte ergänzt mein geliebtes Hauptfach deutlich besser als die Musik, auch wenn die Kurse in Musik viel emotionaler und puscheliger waren und ich mich immer sehr gefreut habe, in ihnen zu sitzen. In Geschichte ist es weniger innerer Jubel, aber dafür, genau wie im Hauptfach, irrsinnige Neugier, über die ich mich manchmal wundere, die ich aber gleichzeitig freudig zur Kenntnis nehme. Selbst aus dem Kurs, dessen Dozentin ich eher so meh fand, der sich etwas zog und ein extrem undiskussionsfreudiges TeilnehmerInnenfeld hatte, selbst aus dem bin ich jedesmal rausgekommen mit dem Gedanken, ach guck, was du jetzt wieder weißt und gelernt hast und was du mit anderen Dingen in Verbindung bringen kannst. Der Kurs ging über Zeitschriften und Journale der Aufklärungszeit, und ich glaube, ich habe diese Zeit noch nie so gut verstanden wie jetzt. Denn lustigerweise puzzelt mein Kopf nicht nur die kunstgeschichtlichen Entwicklungen in den historischen Ablauf, sondern auch die alten Kenntnisse aus der Musikwissenschaft und der Fortentwicklung der Klassik von Haydn über Mozart zu Beethoven passen auf einmal. Haben sich die zwei Semester Müsique dann doch gelohnt.

Ich habe wiederholt festgestellt, wie sehr ich es mag, in Bibliotheken zu sitzen. Das wird immer toller, weil ich allmählich weiß, wo überall die Uni München welche hat, in welcher ich lieber bin als in anderen (bessere Stühle, bessere Luft, besseres Licht, größere Auswahl an freien Plätzen) und vor allem: wie gut ich dort arbeiten kann. Mit dem neuen Fach kam auch eine neue Bibliothek ins Spiel, nämlich die im Historicum, die die größte geschichtswissenschaftliche Bibliothek Deutschlands ist. Und so gerne ich unsere überschaubare KuGi-Bib mag – die Historicums-Bibliothek hat sofort den ersten Platz in meinem Herz erobert. Fünf Stockwerke voller Bücher und Zeitschriften winseln in Freistunden um meine Anwesenheit, und ich gebe jedesmal nach, obwohl ich in acht Minuten mit dem Fahrrad zuhause sein könnte. Aber zuhause gucke ich eh bloß Serien weg, während ich in der Bibliothek auch gerne mal was für eine Automarke texte, Magazinartikel für einen neuen Kunden verfasse oder ohne Plan an das Regal mit den Zeitschriften gehe (mein Liebling: das Archiv für Kulturgeschichte) und mich irgendwo festlese.

Ich habe in meiner Lieblingsvorlesung über Ausstellungskonzepte der letzten 60 Jahre gelernt, dass Kunst nicht nur aus Werken besteht, sondern aus Ideen und Positionen. Es geht in der zeitgenössischen Kunst nicht mehr um das Bild oder die Skulptur, die vor mir steht, sondern um den gedanklichen Prozess, der in sie eingeflossen ist. Es geht nicht mehr um den Geniebegriff, den wir seit der Renaissance mit uns rumschleppen und der jahrhundertelang einen großen Künstler oder eine große Künstlerin definiert hat. Der Weg von Alleskönner Leonardo zu Beuys, der bekanntlich sagte, jeder wäre ein Künstler, ist mir zum ersten Mal klargeworden. Ich habe gelernt, dass Kunst nicht im luftleeren Raum entsteht und/oder zeitlos ist, dass sie nicht nur einen Geistesblitz braucht oder ein einmaliges Talent. Ich habe gelernt, dass Kunst bedeuten kann, sich mit dem Selbst, der Umgebung, dem politischen Klima oder anderer Kunst zu befassen und das alles seine Richtigkeit und Wertigkeit und Sinnhaftigkeit hat, wenn man sich darauf einlässt. Diese Vorlesung war ein größeres Geschenk als die Dozentin wahrscheinlich ahnt.

Ich habe mal wieder festgestellt, dass ich für alles zu begeistern bin, wenn es mir anständig präsentiert, erklärt, vorgesungen, vorgemacht wird. Das ist einerseits toll, andererseits doof, weil: Vor dem Studium so RENAISSANCE RULES! Nach dem ersten Semester so GOTISCHE KATHEDRALEN, BITCHES! Nach dem zweiten ALTER, SKULPTUREN! Und nach dem dritten ZEITGENÖSSISCHE KUNST WHERE HAVE YOU BEEN ALL MY LIFE?

Ich muss im vierten Semester meine Vertiefungskurse wählen und ich habe nicht den Hauch einer Ahnung, was ich vertiefen will. Und „Hauch einer Ahnung“ ist schon ein Euphemismus.

< quote >

„Sie verdrängte all die erbärmlichen „Das ist das Letzte, was ich riechen werde“-Gedankenschleifen. Joelle wird sich hier Zuviel Spaß genehmigen. Mehr als alles andere war es am Anfang so viel Spaß. Orin hatte weder gewettert noch mitgemacht; sein Urin war wegen des Footballspielens ein aufgeschlagenes Buch. Jim hatte weniger gewettert als leeres Desinteresse gezeigt. Sein Zuviel war purer Bourbon, er hatte das Leben in vollen Zügen genossen und sich dann trockenlegen lassen, immer wieder. Das war einfach Zuviel Spaß gewesen, zu Beginn. Sogar noch viel besser als den Stoff durch einen zusammengerollten Geldschein hochzunäseln, auf den klaren bitteren Tropfen im Rachen zu warten und die neue geräumige Wohnung, dann bis in die letzte Ecke zu putzen, während die Mundwinkel unter dem Schleier ungebeten zucken und zittern. Crack befreit und verdichtet, es komprimiert die ganze Erfahrung zur Implosion einer schrecklichen verheerenden Spitze der Kurve, ein inspirierter Orgasmus des Herzens, durch den sie sich wahrhaft attraktiv fühlt, geschützt von Grenzen, entschleiert und geliebt, beobachtet, allein, fähig und weiblich, erfüllt, gleichsam einen Augenblick lang von Gott gesehen. Nach dem Inhalieren, genau auf der Kuppe, an der Spitze der Kurve, sieht sie aus unerfindlichen Gründen immer Berninis „Verzückung der heiligen Theresa“, hinter Glas, in der Vittoria, die rücklins in Ohnmacht fallende Heilige, deren fließendes Steingewand der Engel mit der einen Hand anhebt, während er in der anderen einen Pfeil hält, im Begriff, ihr Allerheiligstes zu durchbohren, die Beine der Heiligen in leichter Öffnung erstarrt, im Ausdruck des Engels keine Barmherzigkeit, sondern das vollkommene Laster stachelspitzer Liebe.“

David Foster Wallace (Ulrich Blumenbach, Übers.) – Unendlicher Spaß,* Köln 2011, S. 337 (von 1899, keine Ahnung, wie man vernünftig aus eBooks zitiert).

* Affiliate Link

Total subtile Aufforderung zum Bloggen an einem zehnten Jubiläum

Der Kerl und ich schenken uns heute Rosen oder gehen fein aus oder lungern im Schlafanzug den ganzen Tag auf dem Sofa rum und bestellen Pizza, mal gucken. Aber weil’s so schön ist, gibt’s zur Feier des Tages noch mal meinen Blogeintrag zum Einjährigen von 2005. Stimmt immer noch so gut wie alles, sogar das mit den zwei Kühlschränken, wobei die gerade in zwei verschiedenen Städten stehen. Aber spätestens zum Zwölfjährigen hat sich das dann auch wieder erledigt.

Falls jemand mich/ihn/uns noch nicht so lange liest: Wir haben uns über unsere Blogs kennengelernt. Ich sag’s nur so.

Kunst gucken: Unpainted 14, Postpalast München

(Dieser Eintrag steht auch in meinem Zweitblog, in dem die Videos eine anständige Größe haben.)

Ich klaue mal von der offiziellen Website: „Die UNPAINTED media art fair ist Münchens erste Messe für digitale Kunst und Medienkunst.“ Heißt im Klartext: relativ wenig Raum für relativ viele Kabel, Monitore, Festplattenrecorder, DVD-Player und Ausstellungsstücke. Im runden Postpalast konnte man in der Mitte halbwegs ordentlich um die Kunstwerke rumgehen oder auch mal Abstand zu ihnen gewinnen; in den umliegenden Kabinetten war das manchmal etwas schwerer, weil die gerne sehr voll waren und gefühlt zehn Quadratmeter pro Kabinett eben schnell voll sind. Daher sind mir auch mehr im Innenraum Werke aufgefallen, weil ich bei denen nicht ständig das Gefühl hatte, irgendwem im Weg zu stehen.

Meine erste Entdeckung ist schon über 20 Jahre alt, aber das würde ich mir sofort an die Wand hängen: Die Serie Leaving Shadows (1989–97) von Stephan Reusse hat mir sehr gefallen. Am ersten Bild stand noch nichts von den Schatten dran, daher habe ich mir selbst zusammengereimt, dass das wohl Wärmespuren sind oder einfach gefakte Hinterlassenschaften eines Menschen, der jetzt nicht mehr da ist. Mir gefiel es sehr, einen Gegenstand zu sehen, der noch menschliche Spuren trägt, eine Erinnerung, eine Anmutung – ein totes Objekt zeigt ein lebendes. In der Ausstellung hingen unter anderem der Blue Chair (siehe Link) und der Thonet Chair, der leider nicht online ist, aber für 5.400 Euro meiner gewesen wäre.

Ebenfalls auf meiner Einkaufsliste hätten die Aluminium-Captchas von Aram Bartholl gestanden (Serie Are You Human? (2009–13), die ich schlicht clever finde. Beim Durchblättern des Ausstellungskatalogs fiel uns auf, wie viel man von Bartoll kennt: Map zum Beispiel, die Dead Drops oder How to Build a Fake Google Street View Car – alles Werke, die man durch Twitter oder Blogs mitbekommen hat, was für mich schön die Vernetzung von Netzkunst zeigt.

Sehr gut unterhalten hat mich Uterus Man (2013), ein Anime von Lu Yang, der netterweise komplett online steht (ihr könnt euch also die 15 Euro Eintritt sparen, aber die Ausstellung läuft eh nur noch heute). Ich mochte die Idee sehr, dass eine ureigene weibliche Eigenschaft als Superkraft interpretiert wird, was sie ja auch ist – da können wir mal etwas, was wirklich noch kein Mann jemals hinbekommen hat. Bis Uterus Man kam, der die Nabelschnur als Peitsche benutzt, eine Monatsbinde als Skateboard und das Baby als Waffe. Ist übrigens sehr interessant, wie er das Baby zur Welt bringt. Ich stand elf Minuten gut unterhalten im Kabinett.

Uterus Man full version 2013 finally released !!! by LuYang from LuYang on Vimeo.

Ich verweilte noch bei Sabine Pigalle, deren Dutch Last Supper (2012) mir natürlich gefallen hat, weil es so viel verbindet: ein klassisches Motiv (Abendmahl) mit klassischen Stilrichtungen (Stillleben) und der feministische Blick, indem die Männer aus dem Original zu Frauen wurden. Ihre Timequakes von 2011 und 2012 haben sich mir allerdings erst nach dem Blick auf ihre Website erschlossen: Eigentlich fand ich die Idee, moderne Menschen in alte Gemälde zu platzieren, eher so meh. Wenn man allerdings weiß, dass die Hintergründe die flackernden Lichter von Tokio sind, wo Pigalle sich während eines Erdbebens aufhielt, werden die Bilder plötzlich geerdet. Plötzlich hält man sich wieder an Althergebrachtem fest, während einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird.

Dann lungerte ich bei Jacques Perconte rum, der es geschafft hat, dass mich zeitverzögerte Pixel an Monet erinnern. Sein Santa Maria Madalena (2013) ließ mich an die Zeit denken, als ich noch mit meinem 14.000er-Modem die Telefonkosten in die Höhe jagte, um mir dreiminütige Filmclips anzuschauen, die eine Stunde zum Laden brauchten und dann gerne mal so verzerrt waren wie Percontes Videos. Künstlerisch kann ich zu den Werken nichts sagen, außer dass sie mir persönlich gefallen habe, weil sie so schön in meine Biografie passen. Einer der ersten Maler, die ich mir gemerkt habe, war Monet mit seinem Seerosenteich, der in meinem liebsten Kinderkunstbuch abgebildet war. Dann wurde ich erwachsen und sprang ins Internet, und 20 Jahre später studiere ich Kunstgeschichte, stehe auf einer Kunstmesse und werde gleichzeitig an meine 20er und meine Kindheit erinnert. Well done, Jacques.

Jacques Perconte – Santa Madalena Rocha (madeira) – Enregistrement n°1 from Galerie Charlot on Vimeo.

Mein Liebling im Gewusel war ein Künstler namens Quayola. Er bezog sich auf die Werke Michelangelos (schon gewonnen). Seine Kunststoffskulpturen Captives (2013) reflektierten die Unfertigkeit vieler Stücke, die Michelangelo nie vollendet hatte. Die waren spannend, aber was mich wirklich begeistert hat, war eine Serie, die leider nicht online ist und deren Titel ich mir bräsigerweise auch nicht gemerkt habe. Man sah zwei Rahmen, in denen eine Skulptur von Michelangelo von einer sich ständig bewegenden Flüssigkeit überspült war – die Skulptur war nie ganz zu sehen, immer nur als Fragment. Ich mochte die Auseinandersetzung mit dem Wesen der Skulptur, die mir durch ihre Dreidimensionalität eine vollständige Ansicht gewährt – ich kann um sie herumgehen und sie mir von allen Seiten betrachten. Hier war sie auf einmal zweidimensional und nie ganz zu sehen, was mich gleichzeitig irre und sehr neugierig gemacht hat.

Online und mein Favorit von gestern: Strata #1 (2008) – von Strata gibt es mehrere Versionen, und überhaupt solltet ihr euch einfach die ganze Website anschauen. Ich kann gar nicht genau sagen, was mich so an diesem Video fasziniert hat – vielleicht ist es schlicht der Kontrast aus dem ewigen Kunstwerk mit den 500 Jahre alten, exakt komponierten Farben, aus dem plötzlich eben diese Farbtöne vorwitzig ausbrechen und sich neu und individuell arrangieren, sich zu neuen Konstellationen verbinden, neue Formen einnehmen und dazu auch noch einen schönen Soundtrack haben. Auch im Hinterkopf: der Anspruch der Kirche auf die einzig seligmachende Wahrheit, an dem plötzlich gerüttelt wird, Kunst, die sich gegen Dogmen stellt usw.

Strata #1 from Quayola on Vimeo.

Es gab noch viel mehr – viel zum Anfassen und Rumspielen, Werke, die plötzlich Töne von sich gaben oder sich veränderten, je näher man ihnen kam, alles hübsch, alles bunt, aber die obenstehenden Werke waren die, die mich wirklich beeindruckt haben. Einziger Wermutstropfen: Jetzt, wo ich Kunstgeschichte studiere, um mir den ganzen modernen Kram anständig erschließen zu können, habe ich keine Werbungshonorare mehr, um mir den ganzen modernen Kram auch leisten zu können. Irgendwo ist da immer noch ein Fehler in der Matrix.

Links vom 12. Januar 2014

„In einer Mannschaft sind Spielsüchtige normaler als Schwule“

Corny Littmann, der ehemalige Präsident vom FC St. Pauli, schreibt in der ZEIT darüber, dass nicht die Fans das Problem für homosexuelle Fußballer sind – wobei er in seiner Argumentation auch nicht ganz vorurteilsfrei arbeitet, soweit ich das beurteilen kann:

„Bei den Mitspielern fängt das Problem an. Eine Fußballelf besteht aus Männern verschiedener Nationalität, aus Männern mit verschiedenen kulturellen Hintergründen. Und manch Kroate oder Serbe sieht das mit der Homosexualität nun mal anders als der liberale Westeuropäer. Auch manch Russe, selbst wenn er nicht so reaktionär wie Putin ist. Ich will das Phänomen aber nicht auf Osteuropa beschränken.

Als Schwuler gilt man in einer Fußballmannschaft als merkwürdig. Ich kenne einige schwule Spieler im deutschen Fußball. Viele haben eine hysterische Angst davor, an Kleinigkeiten erkannt zu werden, daher geben sie sich extrem heterosexuell, härter als die Kollegen. Ich sage immer: Wer wissen will, wer schwul ist, sollte auf die Spieler schauen, die die meisten Gelben Karten kriegen. Ist natürlich übertrieben und kein völlig zuverlässiges Indiz.“

Struktur und Methode: Das Problem mit @1914Tweets

Moritz Hoffmann alias HelloJed, einer der Mitbegründer des großartigen Twitteraccounts @9nov38, schreibt nachvollziehbar, was ihn an den Tweets aus dem „Weltkriegsjahr“ 1914 stört:

„Die Beschaffung und Sichtung von Quellen ist nur der erste Schritt – die richtige Arbeit beginnt mit der Auswahl der relevanten Informationen, um überzeugende Belege für eine These oder ein Narrativ zu finden. Dieses Narrativ benötigt zugleich eine Kontextualisierung seiner Inhalte, eine Erklärung des historischen Vorgangs in seiner Welt und seinen Rahmenbedingungen.

Das ist das größte Problem von @1914Tweets: Bislang ist nicht einmal im Ansatz ein Narrativ erkennbar. Jeder Tweet für sich alleine könnte Teil eines großen Ganzen sein, zusammen ergeben sie ein vermeintlich gegenwartreproduzierendes Chaos.“

Die Rückkehr der vertriebenen Töchter

In der FAZ schreibt Swantje Karich über die Doppelausstellung von Eva Hesse und Gego, die ich mir auch angeschaut habe:

„Die Hamburger Kunsthalle nimmt mit den Ausstellungen „Eva Hesse. One More than One“ und „Gego. Line as Object“ eine historische Setzung vor, auf die man hier lange warten musste. Das Ausstellungshaus kämpfte in den vergangenen Jahren mit unerfreulichen Meldungen. Der Ungers-Anbau der Galerie der Gegenwart ist ja schon unabhängig von Querelen eine kuratorische Herausforderung. Nun aber ist den Leiterinnen Brigitte Kölle und Petra Roettig ein Auftritt gelungen, der das Haus überzeugend nutzt.

Die beiden ausgestellten Künstlerinnen verbindet das Erleben einer Vertreibung – und ein Leben für die Kunst, die Linie, die Form, den Raum.“

Hat nichts mit dem Artikel zu tun, aber: Seit wann trennt die FAZ ihre Posts in Einzelseiten? Das mochte ich bei den Damen und Herren aus Frankfurt immer sehr gerne, dass sie nicht diese össelige Seitenschinderei betreiben. Nervt.

Nachtrag

Ich habe meinen Eintrag zur Stillleben-Sendung auf BBC4 (nur noch heute im iPlayer!) um ein paar Zeilen ergänzt. Wenn Sie da mal runterklicken würden?

Salat mit Kürbis, Quinoa und Zitronen

Kann man warm essen, schmeckt kalt aber besser. Mehr habe ich zu meinem neuen Lieblingsessen nicht zu sagen. #nofilter

quinoa_kuerbis_zitrone

500 g Butternusskürbis schälen, in mundgerechte Stücke verwandeln, in einer Schüssel mit
1 EL Olivenöl (bei mir mehr because I can) und
2 TL Ras el Hanout mischen, auf ein Backblech umsiedeln und im auf 220° vorgeheizten Ofen für 20 bis 25 Minuten backen. Ras el Hanout kann man selber machen oder, wer hätte es gedacht, als fertige Mischung kaufen. Ich hab’s bei Kaufhof entdeckt. Ach ja, und mein Butternusskürbis war gestern zum Fototermin ein Hokkaido. (Leider, denn mit Butternuss schmeckt’s deutlich besser.)

125 g Quinoa waschen und nach Packungsbeilage zubereiten.

Das Rezept hätte jetzt gerne noch 1 EL eingelegte Zitronen. Die hatte ich nicht und habe sie auch nirgends gefunden (vulgo: war zu faul, lange zu suchen). Stattdessen habe ich eine Biozitrone genommen, davon die Schale abgerieben und die Frucht in Scheiben verwandelt. Diese für wenige Minuten mit Olivenöl und einer guten Prise Salz anbraten, dann ein paar Esslöffel Wasser drauf und die Pfanne für zehn Minuten zum Kürbis in den Ofen schieben. Der weiße Rest der Schale wird dadurch weich und verliert seine Bitterkeit, die Zitrone ein bisschen ihre fiese Säure. Aus dem Ofen nehmen, in kleine Stücke hacken, ab zur Zitronenschale in die Salatschüssel. Dazu noch

2 EL Zitronensaft und
frischen Koriander, so viel man will.

Quinoa dazu, Kürbis dazu, salzen, nicht ganz so viel pfeffern, abkühlen lassen, fertig. Milder Kürbis, frischer Koriander, spritzige Zitrone, nussiger Quinoa, Urlaubsgewürz, lecker, toll, alles, basta.

Psychologie gestern

erfahrungsseelenkunde

Der Text stammt aus dem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte, das als erste psychologische Zeitschrift Deutschlands gilt. Gegründet wurde es 1783 von Karl Philipp Moritz, von dem viele wahrscheinlich durch Anton Reiser in der Schule mal was gehört haben. Das Magazin erschien zehn Jahre lang, und genau diese zehn Jahre sind als Bände erhältlich. Oder – wie sich’s gehört – online (hier als Faksimile bei meinen Lieblingen der Bayerischen Staatsbibliothek). Das Magazin wurde von prominenten Vertretern der Berliner Aufklärung, z.B. Moses Mendelssohn oder Marcus Herz, unterstützt bzw. geschrieben und versuchte, psychologische Probleme zu erörtern. Leser sandten Traumerfahrungen oder Kindheitserinnerungen ein, und deren Fälle wurden besprochen. Ist ein bisschen wie Oliver Sacks, nur eben 200 Jahre älter.

(File under: Was ich mir aus meinen Geschichtsseminaren so nebenbei merke. Das aus dem Handgelenk gemachte Foto war übrigens nur deshalb möglich, weil unsere Dozentin zu jeder Stunde einen Stapel Bücher mitschleppt und uns vorstellt. Großartige Sache.)

Stillleben

Eigentlich wollte ich zu dem Thema noch ein bisschen mehr schreiben (vielleicht editiere ich hier noch mal rum), aber jetzt gerade drängt die Zeit etwas, daher der fast kommentarlose Hinweis auf eine wunderbare Sendung bei BBC4 über die Geschichte der Stillleben. Mit meinem Liebling Juan Sánchez Cotán. Noch für fünf Tage im iPlayer zu sehen.

Fra Juan Sánchez Cotán 001

Juan Sánchez Cotán: Stilleben mit Quitte, Kohl, Melone und Gurke (ca. 1602), Öl auf Leinwand, 68,9 x 84,5 cm, San Diego Museum of Art. Bildquelle: Wikimedia Commons.

Zum oben stehenden Stillleben hat Ori Gersht eine filmische Variante geschaffen. Pomegranate von 2006 ist hier in einem längeren Ausschnitt zu sehen. Oder etwas kleiner gleich hier:

Ori Gersht, Pomegranate, 2006 from Noga Gallery of Contemporary Art on Vimeo.

Im Film kommt außerdem der Philosoph Alain de Botton zu Wort, der aus seinem Buch Wie Proust Ihr Leben verändern kann* zitiert. Es geht um einen traurigen jungen Mann, den Marcel Proust kurzerhand zu den Stillleben Jean Chardins im Louvre schickt. Das Artblog hat den längeren Abschnitt, aus dem de Botton im Film zitiert, veröffentlicht. Ich fasse mich kurz, aber ich empfehle euch wirklich, da mal rüberzuklicken – ihr findet eine sehr schöne Beschreibung der Kunst Chardins:

„After an encounter with Chardin, Proust had high hopes for the spiritual transformation of his sad young man.

‚Once he had been dazzled by this opulent depiction of what he called mediocrity, this appetizing depiction of a life he had found insipid, this great art of nature he had thought paltry, I should say to him: “Are you happy?”‘

Why would he be? Because Chardin had shown him that the kind of environment in which he lived could, for a fraction of the cost, have many of the charms he had previously associated only with palaces and the princely life. No longer would he feel painfully excluded from an aesthetic realm, no longer would he be so envious of smart bankers with gold-plated coal tongs and diamond-studded door handles. He would learn that metal and earthenware could also be enchanting, and common crockery as beautiful as precious stones. After looking at Chardin’s work, even the humblest rooms in his parents’ flat would have the power to delight him.“

Der Künstler Mat Collishaw (den ich nebenbei mal wieder in einer Vorlesung kennengelernt habe und zwar mit seinem Werk Bullet Hole, das in der wichtigen Ausstellung Freeze von 1988 zu sehen war) nutzte die alte Technik des Stilllebens für ein makrabes und gleichzeitig faszinierendes, fotografisches Arrangement: Er inszenierte die letzten Mahlzeiten von Menschen kurz vor ihrer Hinrichtung. Auf seiner Website finden sich die Bilder von Last Meal on Death Row, Texas (2011).

Ich finde die Stelle im Film leider nicht mehr, aber einer der Kunsthistoriker, die zu Wort kommen, erwähnt Rachel Ruysch, eine der wenigen weiblichen Künstler, die in der Sendung erscheinen. (Wenn ich mich richtig erinnere, hängt auch in der Hamburger Kunsthalle ein Bild von ihr.) Er erklärt, dass Frauen eher Stillleben malten als figürliche Darstellungen, einfach aus dem Grund, weil sie in der Akademie, sofern sie überhaupt zugelassen wurden, nicht an den Aktkursen teilnehmen durften, in denen unbekleidete Männer rumstanden. „They weren’t allowed to look at naked men, but they were allowed to look at a bunch of grapes.“

* Affiliate Link

Kunst gucken: Eva Hesse/Gego, Kunsthalle Hamburg

(Dieser Eintrag steht auch in meinem Zweitblog, wo die Bilder ne Ecke größer sind.)

Es gibt ein Gefühl, das ich bisher nur nach aufwühlenden Kinofilmen oder Opernaufführungen kannte; wenn ich aus dem dunklen Zuschauerraum, in dem ich kurz Teil einer anderen Welt war, wieder hinaustrete und die Realität vor den Kopf geknallt kriege. Das Gefühl, diese Realität sofort wieder von mir wegstoßen, sie von mir abwischen zu wollen in ihrer Hektik, Lautstärke, dummen Nervigkeit. Dieses Gefühl kenne ich jetzt auch nach einem Ausstellungsbesuch.

In der Kunsthalle bzw. der Galerie der Gegenwart läuft noch bis zum 2. März eine Doppelausstellung von Eva Hesse und Gego. Zusätzlich ordnet die dritte Ausstellung Serial Attitudes die beiden Künstlerinnen in ihr zeitliches und künstlerisches Umfeld ein, was den Besuch perfekt macht. Ganz simpel ausgedrückt: Wenn man sich den ersten Stock und die Serial Attitudes anguckt, sieht man sofort, was an Hesse und Gego so besonders ist. Das heißt, man braucht kein Vorwissen und keine drei Semester Kunstgeschichte, sondern nur einen aufmerksamen Blick und ein bisschen Zeit. Wobei ich trotzdem ganz dankbar für die drei Semester Kunstgeschichte war, denn so konnte ich bei Serial Attitudes wieder die ganze Zeit innerlich rumquietschen, kenn’ ich, kenn’ ich, ha! Und weniger quietschig: Kannste dir gleich alles für die Klausuren im Februar über amerikanische Kunst und Ausstellungskonzepte merken.

Ich habe im dritten Stock mit Hesse angefangen. Das erste Objekt, um das ich ewig rumgeschlichen bin, war Accession III (1968), ein Würfel aus Glasfaser, Polyesterharz und Kunststoff, der in einem Raum stand mit Accretion (1968) und Repetition Nineteen III (1968).

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Eva Hesse, „Accretion“ (1968), Glasfaser und Polyesterharz, 50 Röhren zu je 147,5 x 6,3 cm, Kröller-Müller Museum, Otterlo/Niederlande.
Foto: Abby Robinson, New York
© The Estate of Eva Hesse. Courtesy Hauser & Wirth

Dass die drei Werke in einem Raum stehen, fand ich sehr schön, denn diese Aufstellung erinnert an die einzige Einzelausstellung, die Eva Hesse in ihrer kurzen Lebenszeit in den USA hatte: In der Fischbach Gallery in New York waren 1968 genau diese Werke ebenfalls in einem Raum versammelt, wenn auch in leicht anderer Anordnung. Aber das ist nur ein nettes Kopfnicken – was viel spannender ist, sind die drei Objekte.

Über Accession III habe ich mich gefreut, weil ich eine Variante, Accession II, schon in einer Vorlesung gesehen hatte. Mal wieder der Gemeinplatz: Bilder und Skulpturen direkt vor der Nase sind was anderes als Bilder und Skulpturen per Powerpoint oder Buch. Ich mochte die Materialität, den Kontrast zwischen den runden, weichen Röhrchen und den klaren, harten Kanten, die sie begrenzen. Noch besser gefallen hat mir allerdings Accretion, das schlicht durch seine Größe beeindruckt. Das sieht man auf dem Detailfoto leider nur im Ansatz, aber die 50 Röhren nehmen eine gesamte Wandlänge ein. Man kann ein, zwei, fünf Meter zurückgehen und das üppige Werk auf sich wirken lassen. Mir hat es gleichzeitig eine positive Verspieltheit als auch eine tiefe Ruhe durch seine Schlichtheit vermittelt. An den beiden Exponaten sieht man auch gut den Unterschied zwischen Hesses Postminimalismus und dem Minimalismus, dem man im ersten Stock begegnet. Wo der Minimalismus meist streng und gerade daherkommt und im Hinterkopf mathematische Formeln oder absolute Symmetrie mit sich rumschleppt, bricht der Postminimalismus hier und da ein Eckchen ab, nimmt es mit den Abständen zwischen den Einzelteilen des Objekts nicht so genau, nutzt weichere Materialien oder sichtbare Handarbeit, kurz: bringt wieder etwas Menschlichkeit in die immer noch klaren Konstrukte.

Das einzige, was an dem Raum ein winziges bisschen gestört hat, war die konsequente Aufmerksamkeit des Wachpersonals. Normalerweise gehen die AufseherInnen netterweise aus den Räumen, wenn man alleine reinkommt oder wenden sich ab, damit man sich nicht so beobachtet fühlt. Das Dumme an diesem Raum – was gleichzeitig das Tolle ist –: Die Exponate sind nicht abgesperrt, kein Seil oder Verglasung stört den unmittelbaren Kontakt zwischen BetrachterIn und Kunst. Das ist wunderbar, bedeutet aber auch, dass die AufseherInnen dafür sorgen müssen, dass man nicht zu nah rangeht. Um mich nicht ganz so doof zu fühlen, habe ich die Dame einfach mal angesprochen, ob sie gerne hier steht oder lieber drüben bei den alten Meistern. Sie meinte freundlich, dass sie die gegenständliche Kunst lieber möge, weil sie „das hier“ alles nicht verstehe. Da ist mir wieder aufgefallen, dass mir mein Studium ein weiteres großes Geschenk gemacht hat: Ich habe mich schon länger davon verabschieden können, irgendwas an der modernen Kunst verstehen zu wollen. Ich kann sie mir inzwischen einfach anschauen, ihre Konzepte würdigen und vor allem gucken, was sie mit mir macht. Meiner Meinung nach ist das die Triebfeder für Kunstgucken: Was passiert mit mir, in mir, wenn ich mich mit einem Objekt konfrontiere? Eigentlich genau das gleiche Motiv wie für einen Besuch im Theater oder der Oper, bei der man ja eh meist die Stücke kennt – und trotzdem sind sie jedesmal anders, und ich komme jedesmal anders aus ihnen heraus.

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Eva Hesse, „Repetition Nineteen III“ (1968), Glasfaser und Polyesterharz, 19-teilig, je 48,3 x 27,9 cm (Durchmesser), The Museum of Modern Art, New York.
Foto: The Museum of Modern Art, New York/Scala, Florence
© The Estate of Eva Hesse. Courtesy Hauser & Wirth

Meine liebste Skulptur gibt’s leider nicht als Pressefoto: No title (Seven Poles) von 1970, das einen Raum fast für sich alleine hat. Man kommt in den Raum hinein und hat dementsprechend erstmal eine Perspektive vorgegeben, aus der man sich das Werk betrachtet. Mein Kopf hatte sich bis hierhin brav zurückgehalten mit Interpretationen oder Assoziationen, aber hier klickte sofort was im Hirn und ich bekam die Ansage: Sieht aus wie Beine. Dagegen konnte ich dann auch nichts mehr machen, ging um das Werk herum und bemerkte, dass es sich gefühlt bewegte! Ich konzentrierte mich auf ein „Beinpaar“ und guckte, wie sich die Formation der anderen „Beine“ entwickelte, wenn ich meine Perspektive änderte. Und wo ich zunächst dachte, das sind gelangweilte Menschen, die auf einer Cocktailparty eng beieinander stehen und Smalltalk machen, sah es von der anderen Seite aus wie hektisches Großstadtleben, wo man fast über den Haufen gerannt wird.

Was mir an Seven Poles noch aufgefallen ist, allerdings eher bedauernd, ist die Fragilität der Exponate. Was Hesse zu Lebzeiten so besonders gemacht hat, nämlich das Benutzen und Verarbeiten von neuen, modernen Materialien, wird ihrem Werk jetzt zum Verhängnis. Es vergilbt und bröselt, der Draht, der die „Beine“ bildet, scheint zu rosten. Ein paar Räume vor den Poles hing ein weiteres Werk, das mich lange fesseln konnte: Sans II, das aus fünf einzelnen Zellkästen besteht, die blöderweise sonst in fünf unterschiedlichen Museen hängen. Hier ist die Skulptur wieder vereint und beeindruckt, genau wie Accretion, durch ihre raumgreifende und raumdefinierende Größe. Durch die fünf unterschiedlichen Aufbewahrungsorte und -umstände ist es unterschiedlich stark nachgedunkelt, was den Zusammenhalt des Werks etwas stört, es aber gleichzeitig nahbarer macht. Es scheint ein Eigenleben entwickelt zu haben, einen Charakter – und man sieht ihm die Vergänglichkeit an. Ehe ich mich allerdings in morbide Gedanken vertiefen konnte, habe ich mich lieber an den Strukturen erfreut. Auch hier kann man die Handarbeit erkennen, die Hesse verrichtet hat, um industriellen Materialien eine emotional fassbare Form zu geben. Die Zellen sind nicht exakt rechtwinklig, sie scheinen auszufasern; die Linie, die ihre Fassung erzeugt, scheint zu vibrieren, es entsteht in der Mitte des Werks fast eine kleine Welle, der ich recht lange mit den Augen gefolgt bin. Genau wie bei Accretion habe ich Ruhe und Besinnung gespürt.

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Eva Hesse, „Sans II“ (1968), Glasfaser und Polyesterharz, 96,5 x 218,4 x 15,6 cm (ein Element von fünf), Museum Wiesbaden.
Foto: Ed Restle, Museum Wiesbaden
© The Estate of Eva Hesse. Courtesy Hauser & Wirth

Gego ein Stockwerk tiefer hat hoffentlich etwas beständige Materialien verwendet, jedenfalls sieht das alles etwas zeitloser aus. Ihre Skulpturen bestehen aus Draht, Stahl, Aluminium – eigentlich hartes, kantiges Zeug, aber sie verwandelt es in filigrane Objekte, die wunderschön inszeniert sind. An einer Wand stand ein Zitat von ihr, das die Ausstellung „Line as Object“ gut zusammenfast: „There is no danger to get stuck, because with each line I draw, hundreds more wait to be drawn. That is the circle of knowledge with the ring around; you enlarge the inner circle and the outer one becomes greater without end.“ Den Satz habe ich natürlich sofort auf mich, mein Studium und meinen Wissendurst bezogen. War klar.

Ich habe mich bei ihr sehr auf die Formen konzentriert, die durch das Verbinden von Linien aus Stahl entstehen. Eins ihrer Werke, Tronco N. 5 von 1968, besteht nur aus Dreiecken. Ein paar Meter weiter steht ein anderer Stamm (Tronco 8 von 1977), der sich aber aus unterschiedlichen Formen zusammensetzt. Plötzlich taucht ein Fünfeck auf oder ein Vieleck, das den Blick auf das Innere des Stamms freizugeben scheint, obwohl der ja sowieso nie behindert ist.

Bei Hesse habe ich kaum auf das Umgebungslicht geachtet, hier ist es mir aufgefallen. Die Werke sind teilweise sehr exakt beleuchtet, stehen quasi im Scheinwerferlicht, während der Raum dunkler ist. Das hat mir persönlich sehr gefallen, und auch wenn ich kein Objekt vernünftig fotografiert gekriegt habe – die Raumatmo habe ich einfangen können. (Bei Hesse durfte man nicht fotografieren, in den anderen beiden Stockwerken schon.)

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Gego, „Tronco N. 8“/Detail (1977), Stahldraht, Bronze, Metallklammern, 150 x 70 cm, Fundación Gego Collection at the Museum of Fine Arts, Houston.

Der erste Stock mit den vielen Minimalisten ist, wie gesagt, eine wirklich gute Einordnung. Hier erfreute ich mich unter anderem an der Exaktheit von Donald Judd, dessen Boxen ich aus der Pinakothek der Moderne kenne, an den Lichtspielen von Dan Flavin und vor allem an einem Raum, in dem sich zwei Stoffskulpturen von Robert Morris und eine von Franz Erhard Walther versammeln. Die beiden Morris-Werke hängen an den Wänden und sind grau und schwarz, während die weißen Falttaschen von Walther den Boden bedecken. Ich mochte den Kontrast zwischen den beiden Aufbewahrungsorten, also der Wand und dem Boden, einmal klassisch, einmal modern, und das Farbspiel, das sich zwischen den Exponaten ergab.

Ich habe mich außerdem über ein Wiedersehen mit Bill Bollingers Pipe gefreut, das ich (natürlich mal wieder) von einer Folie kenne. In der Vorlesung über Ausstellungskonzepte sprachen wir über die Wundertüte When Attitudes Become Form (Bern 1969), in der unter anderem Morris, Bollinger und Eva Hesse zu sehen waren, wobei Pipe direkt neben Hesses Augment lag, das auch gerade in Hamburg zu sehen ist.

tl;dr
Bitte dringend alle drei Stockwerke angucken. Ich war wissenschaftlich beeindruckt und grönerig verzaubert.

Links vom 3. Januar 2014

Kann denn Kochen Sünde sein? / In der Küche mit Alain Passard

Ich habe für das charmante Comicgate-Magazin über die zwei Kochcomics geschrieben, die ich in den letzten Monaten in der Leseliste hatte. Ich zitiere mich mal selbst:

„Zwei sehr unterschiedliche Comics übers Kochen: Das erste ist eher unterhaltsam und nahbar, das zweite etwas distanzierter und ganz dem Sujet Sterneküche verpflichtet. Trotzdem sind beide ein Genuss. (Entschuldigung, der musste raus.)“

I, Glasshole: My Year With Google Glass

Mat Honan über sein Jahr mit Google Glass:

„It took a long time before Google truly opened it up to third party developers. Once it did, things got interesting again. The Strava cycling app, for example, really shows off the promise of Glass by combining location tracking with updates that let you keep your eyes on the road and hands on the handlebars. So too does AllTheCooks, which lets you create and follow recipes without taking your eyes and hands away from sharp knives and hot ovens. There’s another app that will translate signs just by looking at them. What a world.

Which is to say, I’m really, really excited about where Glass is going. I’m less excited about where it is.“

(via wirres.net)

Scoble says Google Glass is doomed

Robert Scoble über sein Jahr mit Google Glass:

„So, what would I do if I were Google? Reset expectations. Say “this is really a product for 2020 that we’re gonna build with you.” First release is in 2014, but let’s be honest, if it’s $600 and dorky looking, it’ll be doomed – as long as expectations are so high.

By 2020 I’m quite convinced this will be a big deal and there will be lots of competitors by then. So, if you make it about 2020, then it isn’t doomed. If it’s about beating the Apple iWatch in 2014? Yes, totally doomed.“

(via @helmi)

Der Tatortreiniger: Angehörige

Auf der NDR-Website gibt’s gerade eine neue Folge vom Tatortreiniger (ich kannte die jedenfalls noch nicht).

„Schotty trifft in der Wohnung eines verstorbenen Zauberers auf dessen schwulen Freund. Dieser hat mit der Leiche so seine Pläne.“

Eva Hesse: One More than One / Gego: Line as Object

Ich verblogge meinen Ausstellungsbesuch noch, aber ihr solltet schnellstmöglich in die Kunsthalle bzw. die Galerie der Gegenwart gehen, um euch diese beiden wunderbaren Ausstellungen (und ihre Begleitausstellung „Serial Attitudes“) anzuschauen. Ich war, und das sage ich mal total unwissenschaftlich, verzaubert.

Bildschirmfoto 2014-01-03 um 09.22.00

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Eva Hesse, Accretion (1968), Glasfaser und Polyesterharz, 50 Röhren zu je 147,5 x 6,3 cm, Kröller-Müller Museum, Otterlo/Niederlande.
Foto: Abby Robinson, New York
© The Estate of Eva Hesse. Courtesy Hauser & Wirth

Twitter-Lieblinge Dezember 2013

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