Tagebuch Sonntag, 15. März 2020 – „Normalität“

Sonntag ist Hefeteigtag, wie immer. Also probierte ich ein Franzbrötchen-Rezept aus, das ich schon einmal gemacht hatte; mein normales Rezept ging nicht, weil ich Samstag keine Lust gehabt hatte, den Vorteig anzusetzen, ich faule Nuss. Also buk ich irgendwas, was ohne Vorbereitung ging. Ich tourierte gefühlt zweimal zuviel, den Teig dünn auszurollen, dauerte ewig und brachte mich wirklich ins Schwitzen. Ergebnis war zufriedenstellend. Die Brötchen sahen nicht so toll aus wie beim letzten Mal und waren trockener, aber hey, es waren immer noch Franzbrötchen. Passt schon.

Außerdem Brotteig angesetzt. Möchte so wenig wie möglich vor die Tür gehen müssen, habe aber jetzt schon das Gefühl, dass Skorbut in mir hochklettert, weil ich nicht mehr viel frisches Gemüse zuhause habe. Obst geht noch. Freitag hatte ich total im Tran eingekauft, wie immer, ich kaufe grundsätzlich nur für zwei, drei Tage ein und dann wieder Frischkram nach. Ich hatt echt nicht darüber nachgedacht, dass das momentan kein guter Plan ist.

Beim Kneten ließ ich mich mal wieder von Bohuslav Martinů begleiten, das tat gut. Abends lauschte ich wieder Igor Levit bei seinem Hauskonzert – dieses Mal gab’s die Appassionata – und retweete diese Worte, die für mich seine Aktion sehr gut zusammenfassen: „Lieber Herr Levit, was Sie hier Abend für Abend für uns tun ist der beste und schönste Beitrag zum #BeethovenJahr überhaupt. Menschen in schweren Zeiten mit Musik zu verbinden und in Beethovens Musik so viel auszudrücken, was sich kaum sagen lässt. Danke, tausend mal Danke!“

Gestern fanden in Bayern Kommunalwahlen statt. Ich hatte praktischerweise per Brief gewählt, deswegen musste ich mir keinen Kopf darum machen, einen eigenen Stift mitzunehmen und meterweise Abstand zu den Wahlhelfenden zu halten. Ehrlich gesagt, hatte ich die Wahl schon vergessen, weil es gerade Wichtigeres gab. Der SPD-Bürgermeister von München muss in die Stichwahl mit der CSU-Kandidatin, die allerdings nicht mal die Hälfte der Anzahl seiner Stimmen bekam, der Stadtrat wird erst heute ausgezählt. Auch deswegen hatte ich ausnahmsweise per Brief gewählt: Man hatte insgesamt 80 Stimmen auf drei Zetteln, und die wollte ich dann doch lieber am Küchentisch in Ruhe ausfüllen.

Eben im Radio gehört, dass Bayern den Katastrophenfall ausgerufen hat, um 10 gibt Söder eine Pressekonferenz. Ab morgen sind Bars, Kinos, Spielhallen etc. zu, ab Mittwoch vermutlich Restaurants und Geschäfte. Supermärkte, Apotheken, Tankstellen und Banken bleiben geöffnet.

Tagebuch Samstag, 14. März 2020 – Runway

Morgens beim Bloggen dem zweiten Hauskonzert von Igor Levit zugehört. The People United Will Never Be Defeated! kannte ich noch nicht, hat mir aber sehr gefallen. Passte auch schön zum Anlass einer Pandemie.

Überhaupt erstaunlich, wie wichtig Kunst auf einmal geworden ist, jedenfalls für mich. Künstler*innen musizieren auf Twitter (Yo-Yo Ma zum Beispiel), Autor*innen stellen ihre Bücher online (okay, habe erst eins gesehen, aber das hatte ich letzte Woche noch im Historicum in der Hand), als ob sie wüssten, wie dringend man gerade Ablenkung braucht.

Einerseits fühlt es sich wie eine Bestätigung des guten alten Spruchs „EARTH without ART is just EH“ an, andererseits: Doof, dass erst ein Virus kommen muss, um den Stellenwert von Kunst zu verdeutlichen.

Im Kopf war ich nicht so recht bei der Diss, wollte aber auch nicht den ganzen Tag Katastrophentwitter lesen und bin daher im Kaninchenloch von „Project Runway“ versackt. Keine Ahnung, warum mich Mode auf einmal interessieren kann, aber wahrscheinlich nimmt mein Gehirn gerade alles, was rumliegt, um sich abzulenken. Wenn ich statt diese Serie zu gucken Blogs übers Töpfern gelesen hätte, wäre meinem Kopf das vermutlich auch recht gewesen.

Sehr unproduktiver Tag. Ein bisschen ängstlich gewesen. Mich alleine gefühlt, auch weil F. und ich gerade Abstand voneinander halten. Froh über Anruf einer Freundin und WhatsApp der Schwester gewesen.

Abends beim Deutschlandfunk hängengeblieben und eine lehrreiche Sendung über den Pianisten Swjatoslaw Richter gehört, der mir vorher unbekannt war. Gleich mal seine Autobiografie auf den Merkzettel packen, aus der großflächig zitiert wurde.

Tagebuch Freitag, 13. März 2020 – Frisch geimpft

Seit dem Podcast vom Dienstag überlegte ich, die Grippe-Impfung nachzuholen, die ich im letzten Herbst verschnarcht hatte, gab ja Wichtigeres. (Gab es nicht, wie ich jetzt weiß.) Hier ist das Skript; auf den Seiten 3 und 4 geht es um die Impfung gegen Grippe, obwohl die jetzige Saison jetzt gerade ausläuft, und Pneumokokken, von denen ich bis Dienstag nicht mal wusste, dass es sie gibt. Kurz und laienhaft zusammengefasst: Die Grippe-Impfung lohnt sich noch, weil die nächste Saison kommen wird, und beide Impfungen lohnen sich, damit der Körper bei einer Corona-Infektion nur damit zu tun hat und sich nicht auch noch um die beiden anderen Dinge kümmern muss, die auch die Lunge belasten: „Aber die nächste Influenza-Saison kommt auch, die Pandemie wird auch in der nächsten Influenza-Saison immer noch da sein. Und deswegen lohnt es sich auch jetzt noch mal, eine Grippeschutzimpfung mitzunehmen und sie insbesondere dann aber im nächsten Herbst aufzufrischen. Denn dann hat man von jetzt und nächsten Herbst zusammen einen ganz besonders guten Influenzaschutz in der dann kommenden, gleichzeitigen Influenza und SARS-II-Infektionswelle nächstes Jahr um diese Zeit.“ Die Pneumokokken-Impfung wird eher für die ältere Generation empfohlen, aber schaden kann sie vermutlich nicht, und so ganz jung bin ich ja auch nicht mehr.

Außerdem ging ein weiteres Medikament zur Neige, das ich täglich nehme, also musste ich eh in die Praxis meiner Hausärztin. Dort hingen schon unten an der Haustür Hinweiszettel, dass man bitte bloß nicht reinkommen sollte, wenn man symptomatisch wäre, ab nach Hause und telefonisch melden. Ich war nicht angesprochen, ging also hoch, fasste alles nur mit Handschuhen an und bekam mein Rezept ausgestellt. Dann wollte ich mir einen Termin für die Impfung geben lassen – telefonisch ging vorher gar nichts, sonst hätte ich das natürlich gemacht –, als man mir sagte, das ginge gleich jetzt. Pneumokokken-Impfung kostet übrigens 70 Euro, Grippe ging anscheinend aufs Haus, wenn ich die Rechnung richtig interpretiere. Und den Impfpass gab’s für einen Euro, denn meinen alten habe ich beim letzten Umzug irgendwie verschlampt.

Mit zwei Pflastern auf den Oberarmen fuhr ich wieder nach Hause und plante die nächste Woche geistig vor. Unser gemeinsames Abendessen auswärts sagten F. und ich ab, mir ist derzeit nicht so wohl dabei, eng in kleinen Restaurants aufeinander zu hocken. Auch über meine zwei geplanten Archivbesuche dachte ich nach, wobei ich ja weiß, dass sich in Archiven eher keine Menschenmassen bewegen. Die Entscheidung über die Besuche wurde mir aber im Laufe des Tages abgenommen: Das Deutsche Museum schließt ab heute seine Pforten, wovon sehr wahrscheinlich auch Bibliothek und Archiv betroffen sind, obwohl das nicht explizit auf der Website erwähnt wird. Die Leiterin des Archivs der Akademie der bildenden Künste informierte mich persönlich per Mail davon, dass sie derzeit alle Besuche absagte, und ich schrieb zurück, dass ich das richtig fände und mich schon auf den Nachholtermin freute.

Und dann kamen nachmittags die Meldungen rein, dass auch die Bibliotheken schließen, ich sah zuerst die Stabi, dann mein geliebtes Zentralinstitut, und jetzt beim Schreiben dieses Eintrags sehe ich, dass auch die Uni-Bibliotheken alle dicht machen. Hätte ich mal gestern noch diese Fernleihe im Lesesaal eingesehen, die seit vorgestern dort für mich liegt. Mist.

Ich schwankte und schwanke seit gestern hin und her zwischen „Dann lese ich jetzt halt anständig Korrektur“ und „Ich werde bis Juni wohl doch nicht mehr fertig mit der Diss“. F. schrieb per DM, dass es doch okay sein, wenn ich den Kopf mal ausmache, und heute morgen sah ich einen Tweet, der das Dilemma, neben dem gesundheitlichen Aspekt, gut zusammenfasst: „Is anyone else’s brain so broken that you’re beating yourself up for not being productive enough about work during an unprecedented global pandemic?“

Als introvertierter Mensch, der andere Menschen eh gerne meidet, mache ich seit Tagen Witze darüber, wie super ich darauf vorbereitet bin, alleine zuhause zu sein und vor mich hinzupuscheln, aber, totale Überraschung, auf einmal fühlt sich das alles nicht mehr so super an.

Ein paar Tipps für den Lagerkoller:

– das zweite Hauskonzert von Igor Levit nachhören (habe ich gestern live verpasst, läuft gerade nebenbei)

– Die Bayerische Staatsoper streamt ausgewählte Vorstellungen kostenlos

– Die Wiener Staatsoper streamt ab sofort täglich

– Die digitale Plattform der Berliner Philharmoniker ist für 30 Tage kostenlos

– noch mehr Streams werden hier zusammengefasst

– In Bayern sind auch alle Museen dicht, ich folge diversen ArtBots von Andrei Taraschuk auf Twitter. Unsere nächste Fehlfarben-Ausgabe war übrigens für April geplant, die wird dementsprechend verschoben. Auch weil unser dritter Mitspieler gerade sehr weit weg ist und von dort seit gestern alle Flüge nach Deutschland gestrichen sind.

Nebenbei: Bei der NY Times, der Washington Post und dem New Yorker sind die Artikel über Corona frei zugänglich. Wenn die Süddeutsche da vielleicht mal drüber nachdenken und ihr dämliches SZplus dafür abschalten könnte? So wie die Hinweise für die morgige Kommunalwahl? Bezahlschranke, echt jetzt?

Tagebuch Mittwoch/Donnerstag, 11./12. März 2020 – Home Office

Mittwoch wollte ich eigentlich brav komplett zuhause bleiben, musste aber noch ein Buch in die Uni-Bibliothek zurückbringen, was ich am Tag vorher völlig verschnarcht hatte. Also aufs Rad gestiegen, Buch abgegeben, danach gleich eingekauft und dann zwei Tage Home Office gemacht. Wobei: Die kleine Vitrinenausstellung zu Oskar Maria Graf in der UB habe ich mir gerne angeschaut. Und sehr über ein Foto von Graf und Brecht lachen müssen.

Erst durch die Bildunterschrift die Initialien OMG bemerkt. Nett.

Je mehr Bilder ich aus Italien sehe, desto mehr ahne ich, dass an der Selbstisolierung vermutlich sehr viel dran ist. Ehe hier Ärztinnen darüber entscheiden müssen, wer die würdigere Patientin fürs Beatmungsgerät ist, sollte ich vermutlich dringend zuhause bleiben, um mich nicht anzustecken und auch niemand anders anzustecken. Zur Info: Mir geht’s gut, keine Symptome, alles prima. Aber man weiß ja nie, wer vor ein paar Tagen neben mir im Archiv gesessen oder in der S-Bahn gestanden hat.

Das ist dann auch das Problem für nächste Woche: Da hätte ich eigentlich zwei Archivtermine und ein nettes Abendessen im Lieblingslokal geplant und ins ZI müsste ich auch dringend mal wieder. Vermutlich sollte ich das sein lassen. Seufz. So viel zum Thema: Vielleicht werde ich ja doch bis Juni mit der Diss fertig.

Bis gestern hatte ich ein schlechtes Gewissen, immer noch nicht mit der Präsentation fürs Doktorandenkolloquium nächste Woche angefangen zu haben, obwohl ich natürlich seit Wochen weiß, was ich erzählen will. Seit gestern weiß ich: Bis Mai muss ich mich um die Powerpoint nicht kümmern, denn das Kolloquium wurde verschoben. Keine Veranstaltungen mehr mit mehr als zehn Leuten an der LMU.

Das Stadtarchiv München hat Stühle aus dem eh schon kleinen Lesesaal entfernen lassen, damit man nicht so nah zusammensitzt. Bin gespannt, wie lange es noch geöffnet ist.

Dafür gab’s gestern ein Hauskonzert mit Igor Levit (und Stand jetzt 162.000 Zuschauer*innen), und wer noch nicht in den Mann verliebt ist, der müsste es spätestens jetzt sein, wenn man ihn auf Socken die Waldsteinsonate hat spielen sehen. Heute um 19 Uhr gibt’s wieder was Schönes. Wie toll, den Mann mal „live“ gesehen zu haben.

Ginger Chicken Curry

Das Rezept musste letzten Sonntag bei Herrn Mälzer in Kitchen Impossible gekocht werden und klang verdammt gut. Dank Google bin ich auf Lecker und Co. gestoßen, die dieses Rezept gepostet hat; gleich nachgemacht und schwer begeistert. Nebenan gibt’s übrigens auch fleischfreie Alternativen, Infos zu den Gewürzen und noch mehr Rezepte aus Kitchen Impossible, also mal rüberklicken, bitte.

Für zwei bis drei Portionen. Wir brauchen einen Berg kleingeschnittene Zutaten, eine Gewürzmischung und eine Zwiebelpaste. Die machen wir als erstes. Wer Reis dazu möchte, kann den auch schon mal aufsetzen. Drüben bei Lecker gibt’s Roti, aber für die war ich gestern zu faul.

100 g Schalotten (bei mir gelbe Zwiebeln) in
200 g Wasser für zehn Minuten kochen lassen. Danach alles pürieren und auf ungefähr 100 g einreduzieren. Habe ich per Augenmaß gemacht, Hauptsache, es ist eher Brei als flüssig.

Für die Currymischung
1 gestr. TL rotes Chilipulver,
2 gehäufte TL Kurkuma,
1 gestr. TL Salz,
1 gestr. TL schwarzer Pfeffer,
2 gehäufte TL Garam Masala und
1 EL Bockshornkleeblätter (Kasuri Methi) vermischen. Letztere hatte ich nicht, habe ich weggelassen, schmeckte auch.

Jetzt geht’s ans Schnippeln und dann werfen wir einfach alles zusammen.

350 g Hähnchenbrust in mundgerechte Stücke teilen. Bei mir waren es nur 250 g, hat auch gereicht.

250 g frische Tomaten vierteln und die Kerne entfernen. Häuten nicht nötig, hervorragendes Rezept.

75 g Ingwer in feine Streifen schneiden. Schälen nicht nötig, hervorragendes Rezept. Das nächste Mal werde ich auf 50 g reduzieren; so gerne ich Ingwer mag und der Name sagt ja schon, dass es ein Ingwerhuhn ist, aber das war mir ein Hauch zuviel Streifenkram im Mund. Kann natürlich auch sein, dass meine Juliennes eher Julias waren aka zu unfein geschnitten.

4 Knoblauchzehen fein hacken.

Je 1 rote und grüne Chili grob hacken. Ich habe die Kerne entfernt, wäre nicht nötig gewesen, nächstes Mal bleiben sie drin, das Rezept kann eindeutig mehr Schärfe vertragen als ich gestern produziert habe.

Los geht’s, tiefe Pfanne auf den Herd und
60 ml neutrales Öl erhitzen (bei mir Sonnenblume). Darin die Hähnchenbrust kurz anbraten, sie sollte nicht braun werden. Den Knoblauch dazugeben, kurz mitbraten, dann

75 g Butter dazugeben und schmelzen lassen. Den Ingwer dazugeben, alles kurz aufkochen lassen, dann

100 ml passierte Tomaten dazugeben, aufkochen lassen. Dann die Zwiebelpaste dazugeben, aufkochen lassen. (Ihr merkt, wie’s geht. Hervorragendes Rezept.)

150 g Jogurt (3,5%) und die Currymischung dazugeben, aufkochen lassen. Zum Schluss die Tomaten und die Chilis dazugeben, aufkochen und dann für drei bis fünf Minuten köcheln lassen, bis das Curry die Konsistenz hat, die ihr mögt. In der Zeit

1/2 Bund frischen Koriander abzupfen, Reis auf die Teller, Curry drüber, Koriander drüber, fertig.

Ich mag das Mummelige an Currys sehr gerne, aber hier sorgt der Ingwer für ständig frische Spitzen, das hat mir sehr gefallen. Ich fand auch die Grundkonsistenz sehr gelungen, also die Balance aus Zwiebelpaste, Jogurt und passierten Tomaten, sowohl was den Geschmack als auch das Mundgefühl angeht. Wirklich genau mein Ding. Gut, dass ich gleich das ganze Rezept gekocht habe und nicht wie üblich erstmal auf eine Person runterskaliert habe, denn deswegen kann ich es heute gleich noch einmal essen.

Tagebuch Dienstag, 10. März 2020 – Ein Sandkasten voller Nazis

(Der Titel stammt von F.)

Gestern verbrachte ich den Großteil des Tages im Hauptstaatsarchiv, wo ich mich recht lange durch Akten von 1947 bis 1952 kämpfte. In dieser Zeit gab es zwei Ausgaben der Münchner Künstlergenossenschaft, ich erwähnte es bereits mal; eine davon wurde von Protzen mitbegründet, aber im Endeffekt bekam sein Gegenspieler Constantin Gerhardinger in einem Zivilprozess das Recht zugesprochen, sich als legitimer Nachfolger der 1868 gegründeten Organisation zu fühlen, die 1938 zwangsweise in der Kameradschaft der Künstler Münchens aufgegangen war. Dann aber doch nicht so richtig, denn das war die Begründung des Gerichts, wenn ich das Urteil richtig verstanden habe: Die Auflösung 1938 war nicht rechtens, deswegen war auch eine Neugründung nach 1945 hinfällig. Und weil Gerhardinger den Laden als Verein mit dem alten Namen hatte eintragen lassen, durfte er seinen Sandkasten behalten.

Was mich an der ganzen Chose so irre gemacht hat, war der ewigseitige Schriftverkehr zwischen Anwälten, Beteiligten, dem bayerischen Ministerium für Unterricht und Kultus sowie launige Pressemitteilungen von beiden Seiten, die jeweils die andere Gruppierung als den aber echt jetzt mal noch schlimmeren Nazihaufen bezeichneten. Beide der Herren haben auf den GDK ausgestellt, Gerhardinger hat lustigerweise weitaus mehr daran verdient als Protzen (99.000 RM im Vergleich zu ca. 30.000), aber er konnte in einem Flugblatt das Killerargument bringen, dass Protzen „im nationalsozialistischen Brockhaus-Lexikon als ‚Maler der Autostrassen‘ namentlich aufgeführt ist, während der Name unseres Präsidenten Gerhardinger in einem Lexikon des Dritten Reiches nicht erscheint.“ (BayHStA MK 51591: Flugblatt der MKG (Gerhardinger), 24.10.1952.) Das muss ich, ehrlich gesagt, nachprüfen. War für das Urteil auch egal, das fiel bereits im Januar 1952, aber die Herren mussten sich noch weiter kabbeln. Und während ich so im Archiv saß und zwei Meter neben mir eine Dame sich nicht mal die Mühe gab, in Armbeuge oder von mir aus auch Hand zu husten und mir so dauernd meine eigene Sterblichkeit vor Augen führte, las ich diesen Kindergarten nach und dachte, Jungs, damit habt ihr Jahre eures Lebens vergeudet und heute kennt euch kein Mensch mehr. (Total deep, ich weiß.)

Beim Feierabendmachen an den Schließfächern den Doktorvater getroffen und ihn nach dem Kolloquium nächste Woche gefragt. Stand jetzt findet es statt, E-Mail kommt noch. Sollte allmählich mal mit meiner Powerpoint anfangen, um meinen Peers was Hübsches erzählen zu können.

Zu genervt von Zeug gewesen, um anständig zu kochen, wurden Fertigpommes und ne Schüssel Salat. Die neue Folge „Better Call Saul“ genossen wie jede Folge dieser Serie. Vor allem das Auftauchen einer Figur in der letzten Woche hat mich sehr glücklich gemacht, von der konnte man in „Breaking Bad“ gar nicht so recht Abschied nehmen. (Ich hoffe, das ist jetzt echt nicht gespoilert.)

Von Twitter gleichzeitig gut informiert und in noch mehr Panik versetzt worden. Ich mache im Prinzip das, was ich jede Grippesaison mache, nämlich mit Handschuhen im Bus stehen oder gleich Fahrrad zu fahren, aber das fühlt sich gerade als nicht ausreichend an. Und ausgerechnet im letzten Herbst habe ich natürlich die jährliche Grippe-Impfung verschnarcht, weil Papa, Job und Diss mich anderweitig im Kopf beschäftigt hatten. Fuck.

Tagebuch Montag, 9. März 2020 – Heroisch

Viel zu früh wachgewesen (Archivvorfreude), gemütlich ins Hauptstaatsarchiv geradelt und dort vom freundlichen Pförtner, der gerade noch vor der Tür war, darauf hingewiesen worden, dass der Laden heute erst um 10 öffne und nicht um 8.30 Uhr. Am Samstag war ja der Tag der Archive, und da müsste jetzt wohl noch etwas aufgeräumt werden. Also ging ich nach nebenan in die Stabi und arbeitete dort.

Nachmittags guckte ich Tim Mälzer im Kampf mit Jan Hartwig zu, den bzw. dessen Atelier F. neuerdings so schätzt. Ich folge dem Herren auch auf Instagram und habe mich dort sogar einmal zu einem Kommentar hinreißen lassen, weil der Teller so hübsch aussah.

Abends verzichtete ich nölig aufs Fahrrad und begab mich in U- und S-Bahn, wo ich alles nur mit Handschuhen berührte, um zum Gasteig zu kommen. Dort warteten neben netter Begleitung die Wiener Philharmoniker unter Andris Nelsons auf mich, um mir die ersten drei Beethoven-Sinfonien vorzuspielen. Die übliche S-Bahn-Kapelle an der Haltestelle gab zur Einstimmung „Bella Ciao“, was ich noch ewig im Ohr hatte. Außerdem staunte ich über den Ständer mit Desinfektionsmittel, der im Foyer stand und auch noch eine Etage drüber (und vermutlich noch an weiteren Standorten im Haus). Der wurde auch brav benutzt, denn ich gebe zu, allmählich mache ich mir doch ein bisschen Sorgen. Dass ich mit Asthmavorerkrankung vorsichtig sein soll, ist mir klar, gestern lernte ich aber im Podcast, dass auch Menschen mit höherem Körperfettanteil eine Risikogruppe sind. Mist, ich hatte immer gedacht, wenn alles den Bach runter geht, habe ich wenigstens noch ein paar körperliche Reserven. Deswegen war ich auch nicht ganz so glücklich daüber, als Teile der gestrigen Begleitung locker meinten, sie kämen gerade aus Südtirol. Da aber beides Ärzt*innen sind, hoffe ich, dass sie mehr wissen als ich, die schienen jedenfalls nicht so irre besorgt zu sein. Wir unterhielten uns auch darüber, dass wir vermutlich Samstag nicht in Augsburg im Stadion sein werden, und F. bangte den ganzen Abend, ob die nächsten drei Abende mit den restlichen sechs Sinfonien überhaupt stattfänden. Stand jetzt scheinen sie stattzufinden. Leider ohne mich, ich hatte nur für gestern eine Karte.

Anfangs dachte ich auch, meh, vier Tage voller Beethoven, wird das nicht langweilig, aber nachdem die letzten Töne der 3. Sinfonie verklungen waren, wollte ich sofort die 4. hören. Muss ich das halt mit einem Glas Sekt auf dem Sofa machen, während F. das Live-Erlebnis genießen darf.

Ich glaube, die 1. und 2. Sinfonie hatte ich noch nie gehört. Während der 1. dachte ich die ganze Zeit, wann kommt denn jetzt eigentlich Beethoven, das hörte sich noch ein bisschen danach an, als ob Haydn ihm die ganze Zeit über die Schulter geguckt und gesagt hätte, nee, Junge, das schreibst du jetzt noch ein bisschen ordentlicher runter, gell? Gelernt: Der dritte Satz müsste der kürzeste sein, den ich je gehört habe. (Keine vier Minuten.)

Die 2. Sinfonie war dann schon eher das, was man erwartet, wenn man „Beethoven“ denkt. Spätestens im 2. Satz saß ich wieder mit offenem Mund da, weil schön. Trotzdem blieb auch hier noch Zeit, sich im Orchester umzugucken, was ich generell gerne bei klassischen Konzerten mache.

Bei den wenigen Damen (verdammter Jungsclub Wiener Phil) hatte ich bei ihrem Gang zu ihren Plätzen gemerkt, dass auch sie wie die Herren über einen Dresscode verfügen, schlichter schwarzer Hosenanzug. Bei den Schuhen gab es anscheinend nur zwei Wahlmöglichkeiten: entweder die gleichen flachen Lacktreter wie die Jungs oder Acht-Zentimeter-Stilettos. Das war wahrscheinlich der unbequeme Ausgleich dafür, dass die Herren in Fliege, Frack und Weste oder Kummerbund, wenn ich das richtig gesehen habe, rumsitzen müssen. Das stelle ich mir als Geiger oder Bratschist ja doch etwas nervig vor, diese blöde Fliege tragen zu müssen, aber was weiß denn ich. Ich starrte jedenfalls dauernd einer Dame in der 1. Geige auf die Füße; ich kann auf solchen Schühchen nicht mal stehen geschweige denn irre teure Instrumente über glatte Bühnenböden transportieren.

Ansonsten war ich mit den Jungs am Kontrabass beschäftigt. Da saßen zwei in der ersten Reihe, die beide Vollbart trugen. Der blonde Herr hätte auch preußischer Rittmeister werden können, aber einer der netten, der seine Töchter mehr lernen lässt als Klavier und Aquarellmalen; vermutlich dürften sie sogar Hosen tragen und Mädchen küssen. Der Herr neben ihm hatte eine Haartolle wie Till Lindemann, etwas kürzer, die er gerne mit eleganter Geste aus dem Gesicht strich, wenn er gerade nichts zu tun hatte, und danach machte er diese eine Handbewegung, um die ich Bartträger sehr beneide: mit Daumen und Zeigefinger gleichzeitig an beiden Seiten des Gesichts herunterstreichen, um sich unten am Kinn wiederzutreffen. Der Herr hatte seinen Bass auch fast vor sich liegen anstatt aufrecht hinter ihm zu stehen oder zu sitzen, weswegen er beim Seitenumblättern einen Riesenschritt nach vorne machen musste. Soviel zur 2. Sinfonie. Ähem.

Nach der Pause (Schnittchen, Roséschampus) gab’s die 3. Sinfonie. Die „Eroica“ kannte ich natürlich, und schon nach den ersten 40 Takten hatte ich das Gefühl, ah, jetzt isses Beethoven. Was ich so an ihm mag, ist, dass ich eben keine Zeit mehr für die Herren am Bass hatte, sondern dass die Musik mich dauernd vorne auf der Sesselkante hält. Bei den ersten beide Sinfonien konnte man noch entspannt rumsitzen und sich berieseln lassen, aber jetzt kam ständig was, was Aufpassen erforderte. Gerade war das Motiv da, ach schön, oh, geht schon weiter, aha, jetzt wird’s langsamer, okay then, Bartschnuffi angucken, oh wait, und jetzt piano, ach nee, doch schon wieder laut, wir waren doch gerade da und jetzt sind wir schon wieder ganz woanders und trotzdem hält alles zusammen und lässt mich atemlos werden. Im zweiten Satz flossen dann für mich etwas überraschend ein paar Tränchen, aber mei, ich bin halt auch ein leichtes Opfer.

Sehr viel Applaus und sehr viel Bedauern bei mir, die restlichen Sinfonien nicht auch live hören zu können. Zu teuer. Geht grad nicht. Vielleicht mache ich heute abend einfach YouTube an, da kann ich bestimmt auch in irgendein Orchester gucken.

Tagebuch Sonntag, 8. März 2020 – Schreibtischtag

Den ganzen Tag am Schlussteil der Diss gesessen. Zwischendurch Fußball und Saturday Night Live geguckt, Reste des samstäglichen Abendbrots vertilgt, diverse Mails an diverse Archive geschrieben, in denen ich noch rumwühlen will und schon war der Tag rum. Die Zielgerade der kompletten ersten Textfassung bis auf die geplant dreiseitige Einleitung ist da vorne, hinter diesem kleinen Hügel. Mal sehen, ob ich sie noch diese Woche erreiche.

Augsburg spielte in München, aber ich hatte mich nicht um eine Karte bemüht. Momentan reizen mich Veranstaltungen mit 75.000 Menschen um mich herum eher nicht so, aber ich ahne, dass meine Chance ähnlich groß ist, mich mit COVID-19 anzustecken, indem ich mit dem Bus ins Archiv fahre oder zwischen jugendlich-leichtsinnigen-sich-unsterblich-fühlenden Studis im Historicum sitze. Trotzdem gut, dass ich zuhause auf dem Sofa war, sonst hätte ich mich noch mehr aufgeregt. Während des Spiels kamen die üblichen „Scheiß-DFB“-Wechselgesänge zwischen den beiden Fankurven wie in so ziemlich jedem Stadion. Sobald sie beendet sind, wird geklatscht und weiter geht’s. Das Operettenpublikum in der Arena entschied sich lieber dafür, ein bisschen zu pfeifen. Und wie üblich war der halbe Unterrang in der 75. Minute schon leer, weil es wichtiger ist, zu den ersten 300 Autos zu gehören, die im Stau am Parkhausausgang stehen als zu gucken, ob aus dem wackeligen 1:0 der Heimmannschaft noch ein Unentschieden wird. (Wurde es leider nicht. Schwein gehabt, Pappnasen.)

Letzten Samstag hatte sich Kai Dittmann als Kommentator völlig vorausgabt, indem er die Fanproteste in einen Topf mit gewissen „dunklen Zeiten“ geworfen hatte; dieses Mal kommentierte Wolff Fuss und war deutlich sachlicher. Die vielen Banner der Südkurve wurden, wenn ich richtig hingeguckt habe, nicht eingeblendet, aber Fuss berichtete von ihrem Vorhandensein und auch ihren Inhalten und meinte, das müsse der Verein aushalten, dass nicht alle glücklich sind über Deals mit fucking Katar, und dass es schon arg albern ist, dass sich die Spieler auf dem Rasen hinter das lächerliche „Rot gegen Rassismus“-Plakat stellen, während Tönnies weiter schön bei Schalke Geld verdient. Überrascht war ich außerdem von der CSU-Bürgermeister-Kandidatin Frank, die vor dem Spiel ein Interview gab. Sie stehe angeblich seit 25 Jahren mit einer Dauerkarte in der Südkurve und sie habe sich sehr über die einseitige Berichterstattung über angeblich hasserfüllte Fans der letzten Woche geärgert. Ich werde sie trotzdem nicht wählen, aber: well played.

Und jetzt höre ich die heutige Ausgabe vom wohltuend sachlichen Podcast mit Christian Drosten, dem Leiter der Virologie in der Berliner Charité und empfehle den Beitrag von Lars Fischer, warum Corona dann doch eine andere Hausnummer ist als Grippe.

Tagebuch Freitag/Samstag, 6./7. März 2020 – Rausgekehrt und heimgekommen

Freitag früh radelte ich ins Hauptstaatsarchiv, wo ich laut Mail auf diverse Akten aus dem Haus der Deutschen Kunst hoffen konnte; die ebenfalls vorbestellten aus dem Kultusministerium erwartete ich erst am Dienstag. Es kam genau anders herum und mir wurden Akten von nach 1945 in die Hand gedrückt, was mir aber auch recht war, mir ist in Archiven ja immer alles recht. Ich wühlte mich durch den Künstlerbund Isar, in dem Protzen Mitglied war und der sich nun neu gründen wollte (den gibt’s, glaube ich, nicht mehr), den Berufsverband Bildender Künstler, in dessen Akten ich viel über Wünsche von Künstlern 1948 erfuhr (Kohlen, Gips, Eisen, Werkzeuge und bittschön endlich den Telefonanschluss!) sowie die Kameradschaft der Künstler Münchens, zu der sich 1938 zwangweise alle Künstlervereinigungen zusammenschließen mussten. Das war eher persönliche Neugier als diss-relevant und so vertiefte ich mich in diverse Schreiben, als plötzlich die Ansage kam: „Bitte zum Schluss kommen, wir schließen gleich.“ Und ich noch so, mich können die nicht meinen, ich bin ja erst seit fünf Minuten (aka drei Stunden) hier. Ich war allerdings doch gemeint, denn der Lesesaal schließt freitags um 12, was ich total vergessen hatte. So wurde ich fies aus meiner Arbeit gerissen und stand danach völlig hilflos-verloren vor der Tür, umklammerte wimmernd meinen Laptop und wusste gar nicht, wohin mit mir. (Darstellung fürs Blog dramatisiert.)

Im Kopf waren noch Historicum und eventuell Stabi, bei der ich aber ahnte, dass die vorbestellten Dinge noch nicht da waren, und aufs Historicum hatte ich mittags keine Lust, weil da vermutlich eh alle Tische noch von der Vormittagsschicht belegt waren.

Also fuhr ich nach Hause, warf Spinat in die Pfanne, gönnte mir einen Mittagswein und läutete das Wochenende ein.

Ich hatte die letzten beiden Tage doofe Rückenschmerzen gehabt, was zunächst den Griff zur Wärmflasche und dann den zur Zyklus-App erzeugte. 16 Tage? Hm. Vielleicht doch wirklich Rücken und nicht nur mies ausstrahlender Uterus? Ab Donnerstab abend wusste ich aber: Uterus. Nach zwei herrlichen Zyklen von je 80 Tagen jetzt dann eben einen kürzeren. Das nervte zwar, beruhigte mich aber wieder, denn bei Rücken bin ich recht schnell panisch, denn er ist so ziemlich der einzige Körperteil, auf den ich wirklich aufpasse. Sobald ich aber weiß, es sind nur die Tage, geht’s mir besser. Dementsprechend holte mich Freitag dann auch die ebenfalls übliche Matschigkeit ein, die ich morgens noch mit Kaffee und Dusche und Archivvorfreude bekämpft hatte, der ich aber nun weinselig nachgeben konnte, weswegen ich den Nachmittag so ziemlich komplett mit der Wärmflasche auf dem Sofa verdöste.

Den Arbeitsnachmittag holte ich dann am Samstagvormittag nach, wo ich um fünf nach neun zur Öffnung der Bib im Historicum stand und mir ein paar Bücher an den Platz trug.

Wenn ich Punkt 9 dagewesen wäre, hätte ich vielleicht noch den Platz ganz vorne an der Fensterfront gekriegt, so saß ich drei Reihen dahinter und hatte ebenfalls einen schönen Ausblick und meine Ruhe.

Ich las viel über die direkte Nachkriegszeit und die Zeit bis zur Währungsreform. Mir fiel beim chronologischen Aufschreiben von Protzens Werken und den wenigen noch erhaltenen Einkunftsauskünften auf, dass ich schlicht nicht wusste, ob die ganzen schönen Reichsmärker, die er für seine Autobahnbilder bekommen hatte, überhaupt noch etwas wert waren und wenn ja, wieviel. Und zu welchem Kurs wurde eigentlich umgetauscht? Und durfte er alles umtauschen? Von den großen Fischen wie Hoffmann und Speer wusste ich, dass ihr Vermögen eingezogen worden war, bei meinem Maler war ich mir recht sicher, dass er ein kleiner Fisch war, aber belegen kann ich es, wie so oft, nicht.

In einem Buch blieb ich recht lange und fand diesen hervorragend formulierten Satz: „Wohl in kaum einem anderen Verwaltungsbereich standen die Amerikaner vor einem so deutlichen Dilemma zwischen Entnazifizierungszielen und den Zwängen einer raschen Krisenbewältigung wie in der Ernährungsbürokratie.“ (Quelle: Erker, Paul: „Ernährungskrise und Nachkriegsgesellschaft. Bauern und Arbeiterschaft in Bayern 1943–1953“, Stuttgart 1990, S. 38.) Ich habe nicht viel notiert, auch nicht fürs Blog, daher fasse ich aus dem Gedächnis zusammen: Lebensmittelkarten gab es seit 1938 (1939?), den Schwarzmarkt bereits seit 1942. Trotzdem verschlechterte sich die Lage der Bevölkerung, was die Versorgung mit Lebensmitteln anging, nach dem Kriegsende weiter. Die amerikanische Militärregierung übernahm daher fast komplett die Organisationsstruktur des Reichsnährstands, entfernte wenige Beamte oder offensichtliche Parteikader, ließ die meisten aber gewähren, damit die Leute was zu beißen hatten. Sie erkannten recht früh, dass man von einer Demokratie eher überzeugt ist, wenn der Bauch voll ist; am „Hungerwinter“ 1947/1948 konnten sie aber auch nichts ändern, wobei der vornehmlich das Ruhrgebiet betraf. (Totaler geistiger Schlenker, aber: Im Hungerwinter hatten die Menschen so um die 1000 Kalorien an Nahrung zum Verbrauch. Nur so als Gedanke, wenn euch die Influencerinnen mal wieder erzählen, wie locker und gut gelaunt man bei einer 1000-Kalorien-Diät drauf ist. Knurr.)

Das war schön, mal wieder bei den Historikerinnen zu sitzen. Auch hier hatte ich nach getaner Arbeit das Gefühl, huch, das ging viel zu schnell, ich bin doch erst vor fünf Minuten gekommen. (Aka drei Stunden.)

Geradelt, eingekauft, gelesen, Bürokram gemacht, zwei Folgen The Chef Show gesehen und mich a) über den Espresso einer Leserin gefreut, der seit gestern in meiner Mühle ist und b) über diesen Insta-Post.

Wird für zukünftige Bewerbungsschreiben vorgemerkt.

Abends endlich mal wieder mit F. gemeinsam gegessen und einen schönen Blaufränkisch genossen. Die scharfen Peperoni waren dazu eher eine dusselige Idee, wie wir beide feststellten. Ich musste sie trotzdem zwanghaft essen, waren lecker.

Ein doppeltes Dankeschön …

… an Jürgen, der mich mit zwei Büchern überraschte – und zwei Mails, in denen er sich auf meine Diss freut. Hey, ich mich auch!

Im Päckchen lag zunächst weiter leben: Eine Jugend von Ruth Klüger. Von der Dame hatte ich schon Frauen lesen anders gelesen, aber ich meine, ich bin durch die neulich schon und hiermit erneut empfohlene Sendung vom Deutschlandfunk über die Gedenkstätte Auschwitz wieder auf sie aufmerksam geworden.

Das zweite Buch war Der Osten von Andrzej Stasiuk, dessen Werk mir in Wien zuerst begegnete. (Der Urlaub Ende 2018 war toll, von dem zehre ich intellektuell immer noch.) Ich hatte danach noch Dojczland von ihm gelesen, was mir auch gefallen hatte.

Thematisch dichtes Paket, würde ich sagen. Vielen Dank für das Geschenk, ich habe mich sehr gefreut. Auch über die hervorragend gewählte Postkarte von Lotte Laserstein dazu.

Tagebuch Donnerstag, 5. März 2020 – Archiv und Bib, sorry, aufregender wird’s hier nicht mehr

Archiv war schon Mittwoch. Ich eruierte mit Google Maps und dem Raumfinder der TU, wo sich wohl das Architekturmuseum befinden könnte, erwischte in der Realität dann auch den richtigen Eingang am richtigen Gebäude – und irrte trotzdem fünf Minuten rum, bis mich die Archivarin ansprach, ob ich vielleicht ins Museum wolle. „Ich sag dauernd, wir brauchen hier ein Schild, das findet niemand!“ Ich möchte ergänzen: Drinnen wäre ein Schild „Ausgang“ auch super, diese schweren Holztüren sehen alle gleich aus.

Der Aufenthalt im Museum war leider auch nicht erfolgreicher. Der schriftliche Nachlass von Theo Lechner bestand aus zehn kopierten Seiten, die sich hauptsächlich um seine Berufung zum Prof 1940, wenn ich mir das richtig gemerkt habe, drehten. Immerhin eine Seite guckte ich länger an, denn da stand eine Art Lebenslauf mit den ganzen Projekten, die er betreute, und da schaute ich einfach, ob eins dabei war, bei dem ich auch Protzen verorten konnte. War’s nicht.

Die Archivarin gab mir noch den Tipp, es im TU-Archiv zu versuchen, aber die bewahren eher Personalakten auf, die brauche ich nicht. Und dann streckte sie mir zum Abschied die Hand entgegen und ich dachte erstmals in meinem Leben, oh Gott, Händeschütteln, dieser Leichtsinn!

So sieht’s aus, wenn man den Ausgang gefunden hat und auf dem Weg zum endgültigen Ausgang ist.

Abends sahen F. und ich uns nach gefühlt TAUSEND JAHREN endlich wieder; während ich in Berlin gewesen war, war er in London, dann war ich gefühlt erkältet, dann er, aber jetzt waren wir endlich wieder am selben Ort und trauten uns dazu auch noch in die gegenseitige Nähe. Das war schön.

Gestern war dann mal wieder ZI-Tag angesagt. Ich erwähnte vermutlich vor zwei Jahren mal meine ToDo-Liste, auf der ich notierte, was ich alles noch erledigen musste. Die ist inzwischen einer anderen ToDo-Liste gewichen, auf der ich nach Orten sortierte, was noch getan werden muss. Also was im ZI, was in der Stabi, was in welchem Archiv. Und die wird auch irgendwie nicht kürzer. Irgendwo hat mein Plan einen Haken.

Jedenfalls saß ich gestern von 9 bis 16 Uhr im Lesesaal, in den ich erstmal aus diversen Stockwerken Bücher und Zeitschriften schleppte. Ich behaupte, fünf Jahrgänge „Kunst dem Volk“ wiegen soviel wie eine Getränkekiste, Mistzeug. Immerhin ein prima Symbolbild für Nazischeiße gefunden.

(Josef Thorak. Bildquelle: „Kunst dem Volk“ Jan/Feb 1939, S. 27.)

Ich fand noch andere schöne Dinge, aber irgendwann verrannte ich mich mal wieder und fühlte mich irgendwann wie dieses gif, nach dem ich gestern abend auf Twitter fragte, wo es denn eigentlich herkäme:

via GIPHY

(Kommt aus It’s Always Sunny in Philadelphia, und jetzt muss ich die Serie wohl doch mal gucken.)

Jedenfalls spürte ich weiterhin der sinnlosen Frage nach, wen Protzen wohl kannte, damit er seinen ersten Autobahnjob antreten konnte, und verlor mich total in Ozeandampfern der Norddeutschen Lloyd, der Münchner Gobelin-Manufaktur, den Vereinigten Werkstätten und Fritz August Breuhaus de Groot. Versteht ihr alles, wenn ihr die Diss lest.

Halb verhungert, aber glücklich im Regen nach Hause geradelt, weil radeln und nach Hause. Dort gelernt: Auch wenn man sehr hungrig ist, nimmt man einen Löffel, um die letzten Maiskörner aus der Dose in die Salatschüssel zu kriegen und nicht die Finger. #aua #pflaster Auch gelernt: einhändig Rösti wenden ist sehr doof, wenn die andere Hand gerade damit beschäftigt ist, einen blutenden Zeigefinger hochzuhalten. War trotzdem lecker.

Tagebuch Mittwoch, 4. März 2020 – Omis Geburtstag

Meine Omi wäre gestern 100 Jahre alt geworden.

Das Foto ist von 1960, ich sah es in einem der Alben, die ich beim letzten Elternbesuch durchgeblättert hatte. Weil ein Foto von Omi auf Twitter mal so nette Kommentare zu ihrem Kleid erhalten hatte, fiel mir bei diesem Bild auf: Ich glaube, ich habe meine beiden Großmütter nie in Hosen gesehen. Auch nicht auf dem Fahrrad, bei der Gartenarbeit oder auf der Baustelle des Hauses meiner Eltern.

Direkt vor dieser Seite hatte meine Mutter, die im ehemaligen Ostpreußen geboren wurde, 1958 Aufnahmen aus dem Lager Friedland eingeklebt und mit einer Bildunterschrift versehen, über die ich stolperte: „Heimkehrerzug aus den zur Zeit unter polnischer Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten.“ Dass die Warschauer Verträge auch ein paar Jahrzehnte Entstehungszeit hinter sich hatten, war nicht mehr auf meinem Radar.

Wieder nur lausig mit dem iPhone abfotografiert. Ich muss beim nächsten Mal ein paar Alben auf den Scanner legen, hilft ja nichts. Viel zu spannend, um es im Wohnzimmerschrank verstauben zu lassen.

(Ich bloggte schon einmal über meine Großeltern.)

Tagebuch Dienstag, 3. März 2020 – Rumgraben

An der Diss gesessen, am Schlussteil gearbeitet, am Hauptteil weiter rumgegraben. Jetzt wo ich einmal durch das komplette Werkverzeichnis durch bin, alles eingeordnet habe, die für mich wichtigen Werke in einen Kontext gesetzt habe und um sie herum noch ein bisschen Zusatzinfo verfasst habe – alleine die wichtige Ausstellung „Die Straßen Adolf Hitlers in der Kunst“ hat 26 Seiten und dabei habe ich mich noch recht kurz gefasst –, kommt jetzt das Finetuning. Über 100 Werke im Verzeichnis sind als verkauft annotiert worden. Denen werde ich nicht komplett hinterherspüren, aber wo die 29 Bilder zur Reichsautobahn gelandet sind, würde ich doch gerne wissen. Momentan kann ich leider nur 13 wirklich sicher verorten, bei mindestens fünf gehe ich davon aus, dass sie zerstört wurden. Wo der Rest ist: keine Ahnung. Deswegen googelte und suchte ich gestern mal wieder, was ich schon öfter getan habe und schrieb ein paar Mails an Menschen, die vielleicht mehr wissen. Und das war dann schon mein ganzer langer Tag.

The Haunted California Idyll of German Writers in Exile

In diesem Artikel des New Yorker verbergen sich ungefähr fünf Bücher, in die ich jetzt dringend mal reingucken möchte. Es geht um die Künstler, Schriftsteller, Schauspieler etc. (m/w/d), die vor den Nationalsozialisten nach Kalifornien flohen und dort eine nicht immer unproblematische Gemeinschaft bildeten. Der Artikel ist auch als halbstündige Hörfassung auf der Site verlinkt.

„Nevertheless, even the most resourceful of the émigrés faced psychological turmoil. Whatever their opinion of L.A., they could not escape the universal condition of the refugee, in which images of the lost homeland intrude on any attempt to begin anew. They felt an excruciating dissonance between their idyllic circumstances and the horrors that were unfolding in Europe. Furthermore, they saw the all too familiar forces of intolerance and indifference lurking beneath America’s shining façades. To revisit exile literature against the trajectory of early-twentieth-century politics makes one wonder: What would it be like to flee one’s native country in terror or disgust, and start over in an unknown land? […]

At first, many of the exiles fled to France. Few of them believed that Hitler’s reign would last long, and a trip across the ocean seemed excessive. […] When, in 1940, Germany invaded France, Feuchtwanger was in dire danger of being captured by the Gestapo. His wife, Marta, helped arrange an elaborate escape, which required him to don a woman’s coat and shawl. That September, a motley group that included Franz Werfel, Alma Mahler, Heinrich Mann and his wife, Nelly, and Thomas Mann’s son Golo hiked across the Pyrenees, from France into Spain. Mahler carried a large bag containing several of her first husband’s manuscripts and the original score of Anton Bruckner’s Third Symphony. […]

Such doleful tales raise the question of why so many writers fled to L.A. Why not go to New York, where exiled visual artists gathered in droves? Ehrhard Bahr answers that the “lack of a cultural infrastructure” in L.A. was attractive: it allowed refugees to reconstitute the ideals of the Weimar Republic instead of competing with an extant literary scene. In addition, film work was an undeniable draw. Brecht’s anti-Hollywood invective hides the fact that he worked industriously to find a place as a screenwriter, and co-wrote Fritz Lang’s “Hangmen Also Die!” Even Thomas Mann flirted with Hollywood; there was talk of a film adaptation of “The Magic Mountain,” with Montgomery Clift as Hans Castorp and Greta Garbo as Clavdia Chauchat. […]

Franz Waxman fell into a career as a Hollywood composer after striking up a conversation with the director James Whale in Viertel’s living room. Brecht and Charles Laughton first met there. To be sure, not all of Viertel’s mediations panned out. She facilitated a legendarily unsuccessful meeting between Schoenberg and the studio head Irving Thalberg, who was seeking a composer for an adaptation of Pearl Buck’s “The Good Earth.” As Viertel relates in her memoir, Schoenberg told Thalberg that he would need complete creative control, and that the actors would have to conform to pitches and rhythms specified in his score.

That story is often cited for comic effect, to illustrate the irreconcilability of European values with those of Hollywood. When Thalberg complimented Schoenberg on his “lovely music”—one of the composer’s less challenging scores had recently been played on the radio—Schoenberg snapped, “I don’t write lovely music.”“

Tagebuch Montag, 2. März 2020 – Magic Monday

Morgens wieder fit gefühlt nach quasi zwei Tagen Rumdösen und Ausruhen, das war schön. Dann mit dem Rad zur Post gefahren, das war auch schön. Dort eine Zahlungserinnerung an einen Kunden per Einschreiben geschickt, das war nicht so schön. Das ist mir in zwölf Jahren Selbständigkeit auch noch nicht passiert, dass ich so ewig meinem Geld hinterherrennen muss. Aber da ich die Rechnung schon Anfang Dezember losgeschickt habe, würde ich jetzt doch ganz gerne allmählich bezahlt werden.

Tee gekocht, in die Thermoskanne umgefüllt und an den Schreibtisch gesetzt. Mir blutet zwar immer ein bisschen das Herz, Omis Teetasse und Sahnekännchen und Kandisdose neben zu mir haben und dann die olle Thermoskanne, aber die hält den Tee dann doch besser und unbitterer warm als Omis Teekanne auf einem Stövchen.

Dann gnadenlos bis ungefähr 19 Uhr ohne Pause durchgearbeitet. Wobei ich um halb vier den ersten Meilenstein auf Twitter verkünden konnte: Ich beendete die erste Textfassung des zweiten Teils meiner dreiteiligen Diss. Also den Teil, der am Ende vermutlich ungefähr 4/5 der Gesamttextmenge ausmachen wird. Erste Textfassung heißt, jetzt kommen noch die üblichen Gröner’schen 38 Korrekturschleifen, aber ich möchte das doch nochmal festhalten: Erste Textfassung des Brockens steht. Alle 570 Einträge im Werkverzeichnis angeguckt und in einen Kontext gesetzt, alle noch vorhandenen Fotos der insgesamt 678 Werke des Künstlers betrachtet, teilweise beschrieben, ebenfalls Kontext geschaffen. Sehr, sehr, sehr, sehr viele Ortsnamen gegoogelt, die unter Protzens Landschaftsbildern stehen, die ich alle nicht kannte und bei denen ich nie wusste, sind die jetzt in Österreich oder dem heutigen Polen? Ach, Italien. Ja gut dann. Dazu 1000 Ausstellungsrezensionen gelesen und teilweise zitiert, zwei wichtige Ausstellungen zum Thema Autobahnmalerei meiner Meinung nach sehr ordentlich nachvollzogen, erläutert, den Forschungsstand da deutlich erweitert und noch viel mehr Kram erledigt, der mir jetzt schon gar nicht mehr einfällt, weil er 250 Seiten her ist.

Während ich die externe Festplatte zur Sicherung anschloss, schwankte ich gefühlsmäßig zwischen „FUCK YEAH“ und „OMG was mach ich denn jetzt“, bis mir die 38 Korrekturschleifen einfielen. Puh, noch was zu tun.

Und weil ich gerade so schön im Flow war, begann ich gleich mit der ersten Schleife. Als ich dann um 19 Uhr das nächste Back-up machte, war ich noch zufriedener als ein paar Stunden vorher. Der erste Teil steht bis auf die Einleitung, also: Einleitung (kommt zum Schluss), Forschungsstand (NS-Kunst, Protzen, Autobahnmalerei), Quellen und als Abschluss des ersten Teils und Überleitung in den Hauptteil „10 Dinge, die Sie schon immer über die Reichsautobahn wissen wollten.“ Dann kommt der dicke Teil, den ich gestern vorerst abschließen konnte – und dann der dritte Teil, mit dem ich gestern morgen noch sehr gehadert hatte. In den mussten noch mehrere Dinge rein, bei denen ich selbst noch nicht wusste, wie genau und warum überhaupt, und dann gab es da einen Textteil, den ich ernsthaft schon vorne im Forschungsstand hatte, dann in den Quellen, dann in der theoretischen Einleitung und jetzt ist er ganz hinten und da bleibt er vermutlich auch, denn auch das fiel mir gestern ein: wie ich um den herum sinnvoll den Schluss aufbauen kann. Gleich mal stichwortartig notiert, aber damit fange ich dann erst heute an.

Jetzt glaube ich endgültig daran, dass das Ding fertig wird. Endlich getraut, das Titelblatt des Ganzen anzulegen: „‚Ziehet die Bahn durch deutsches Land.‘ Gemälde zur Reichsautobahn von Carl Theodor Protzen (1887–1956) im Kontext seines Gesamtwerks. Inauguraldissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie an der Ludwig-Maximilians‐Universität München.“ Vorgelegt von DEM KLEINEN SECHZEHNTSEMESTER!

Den Rest des Tages eigentlich nur noch debil, aber sehr zufrieden vor mich hingeatmet. Und Salat gegessen. Und Ben & Jerry’s Peanut Butter Cups.

Tagebuch Sonntag, 1. März 2020 – Matschtag

Vormittags ging’s mir gut, ich setzte mich frohgemut an die Diss – aber je länger der Tag dauerte, desto matschiger und kurzatmiger wurde ich wieder. Ab aufs Sofa zum Rumdösen, von da fast übergangslos einfach ins Bett gegangen.