Tagebuch Montag, 9. März 2020 – Heroisch

Viel zu früh wachgewesen (Archivvorfreude), gemütlich ins Hauptstaatsarchiv geradelt und dort vom freundlichen Pförtner, der gerade noch vor der Tür war, darauf hingewiesen worden, dass der Laden heute erst um 10 öffne und nicht um 8.30 Uhr. Am Samstag war ja der Tag der Archive, und da müsste jetzt wohl noch etwas aufgeräumt werden. Also ging ich nach nebenan in die Stabi und arbeitete dort.

Nachmittags guckte ich Tim Mälzer im Kampf mit Jan Hartwig zu, den bzw. dessen Atelier F. neuerdings so schätzt. Ich folge dem Herren auch auf Instagram und habe mich dort sogar einmal zu einem Kommentar hinreißen lassen, weil der Teller so hübsch aussah.

Abends verzichtete ich nölig aufs Fahrrad und begab mich in U- und S-Bahn, wo ich alles nur mit Handschuhen berührte, um zum Gasteig zu kommen. Dort warteten neben netter Begleitung die Wiener Philharmoniker unter Andris Nelsons auf mich, um mir die ersten drei Beethoven-Sinfonien vorzuspielen. Die übliche S-Bahn-Kapelle an der Haltestelle gab zur Einstimmung „Bella Ciao“, was ich noch ewig im Ohr hatte. Außerdem staunte ich über den Ständer mit Desinfektionsmittel, der im Foyer stand und auch noch eine Etage drüber (und vermutlich noch an weiteren Standorten im Haus). Der wurde auch brav benutzt, denn ich gebe zu, allmählich mache ich mir doch ein bisschen Sorgen. Dass ich mit Asthmavorerkrankung vorsichtig sein soll, ist mir klar, gestern lernte ich aber im Podcast, dass auch Menschen mit höherem Körperfettanteil eine Risikogruppe sind. Mist, ich hatte immer gedacht, wenn alles den Bach runter geht, habe ich wenigstens noch ein paar körperliche Reserven. Deswegen war ich auch nicht ganz so glücklich daüber, als Teile der gestrigen Begleitung locker meinten, sie kämen gerade aus Südtirol. Da aber beides Ärzt*innen sind, hoffe ich, dass sie mehr wissen als ich, die schienen jedenfalls nicht so irre besorgt zu sein. Wir unterhielten uns auch darüber, dass wir vermutlich Samstag nicht in Augsburg im Stadion sein werden, und F. bangte den ganzen Abend, ob die nächsten drei Abende mit den restlichen sechs Sinfonien überhaupt stattfänden. Stand jetzt scheinen sie stattzufinden. Leider ohne mich, ich hatte nur für gestern eine Karte.

Anfangs dachte ich auch, meh, vier Tage voller Beethoven, wird das nicht langweilig, aber nachdem die letzten Töne der 3. Sinfonie verklungen waren, wollte ich sofort die 4. hören. Muss ich das halt mit einem Glas Sekt auf dem Sofa machen, während F. das Live-Erlebnis genießen darf.

Ich glaube, die 1. und 2. Sinfonie hatte ich noch nie gehört. Während der 1. dachte ich die ganze Zeit, wann kommt denn jetzt eigentlich Beethoven, das hörte sich noch ein bisschen danach an, als ob Haydn ihm die ganze Zeit über die Schulter geguckt und gesagt hätte, nee, Junge, das schreibst du jetzt noch ein bisschen ordentlicher runter, gell? Gelernt: Der dritte Satz müsste der kürzeste sein, den ich je gehört habe. (Keine vier Minuten.)

Die 2. Sinfonie war dann schon eher das, was man erwartet, wenn man „Beethoven“ denkt. Spätestens im 2. Satz saß ich wieder mit offenem Mund da, weil schön. Trotzdem blieb auch hier noch Zeit, sich im Orchester umzugucken, was ich generell gerne bei klassischen Konzerten mache.

Bei den wenigen Damen (verdammter Jungsclub Wiener Phil) hatte ich bei ihrem Gang zu ihren Plätzen gemerkt, dass auch sie wie die Herren über einen Dresscode verfügen, schlichter schwarzer Hosenanzug. Bei den Schuhen gab es anscheinend nur zwei Wahlmöglichkeiten: entweder die gleichen flachen Lacktreter wie die Jungs oder Acht-Zentimeter-Stilettos. Das war wahrscheinlich der unbequeme Ausgleich dafür, dass die Herren in Fliege, Frack und Weste oder Kummerbund, wenn ich das richtig gesehen habe, rumsitzen müssen. Das stelle ich mir als Geiger oder Bratschist ja doch etwas nervig vor, diese blöde Fliege tragen zu müssen, aber was weiß denn ich. Ich starrte jedenfalls dauernd einer Dame in der 1. Geige auf die Füße; ich kann auf solchen Schühchen nicht mal stehen geschweige denn irre teure Instrumente über glatte Bühnenböden transportieren.

Ansonsten war ich mit den Jungs am Kontrabass beschäftigt. Da saßen zwei in der ersten Reihe, die beide Vollbart trugen. Der blonde Herr hätte auch preußischer Rittmeister werden können, aber einer der netten, der seine Töchter mehr lernen lässt als Klavier und Aquarellmalen; vermutlich dürften sie sogar Hosen tragen und Mädchen küssen. Der Herr neben ihm hatte eine Haartolle wie Till Lindemann, etwas kürzer, die er gerne mit eleganter Geste aus dem Gesicht strich, wenn er gerade nichts zu tun hatte, und danach machte er diese eine Handbewegung, um die ich Bartträger sehr beneide: mit Daumen und Zeigefinger gleichzeitig an beiden Seiten des Gesichts herunterstreichen, um sich unten am Kinn wiederzutreffen. Der Herr hatte seinen Bass auch fast vor sich liegen anstatt aufrecht hinter ihm zu stehen oder zu sitzen, weswegen er beim Seitenumblättern einen Riesenschritt nach vorne machen musste. Soviel zur 2. Sinfonie. Ähem.

Nach der Pause (Schnittchen, Roséschampus) gab’s die 3. Sinfonie. Die „Eroica“ kannte ich natürlich, und schon nach den ersten 40 Takten hatte ich das Gefühl, ah, jetzt isses Beethoven. Was ich so an ihm mag, ist, dass ich eben keine Zeit mehr für die Herren am Bass hatte, sondern dass die Musik mich dauernd vorne auf der Sesselkante hält. Bei den ersten beide Sinfonien konnte man noch entspannt rumsitzen und sich berieseln lassen, aber jetzt kam ständig was, was Aufpassen erforderte. Gerade war das Motiv da, ach schön, oh, geht schon weiter, aha, jetzt wird’s langsamer, okay then, Bartschnuffi angucken, oh wait, und jetzt piano, ach nee, doch schon wieder laut, wir waren doch gerade da und jetzt sind wir schon wieder ganz woanders und trotzdem hält alles zusammen und lässt mich atemlos werden. Im zweiten Satz flossen dann für mich etwas überraschend ein paar Tränchen, aber mei, ich bin halt auch ein leichtes Opfer.

Sehr viel Applaus und sehr viel Bedauern bei mir, die restlichen Sinfonien nicht auch live hören zu können. Zu teuer. Geht grad nicht. Vielleicht mache ich heute abend einfach YouTube an, da kann ich bestimmt auch in irgendein Orchester gucken.