Ein kindisches Dankeschön …

… an Natalia, die mich zum wiederholten Male mit einem Buch überraschte – dieses Mal mit Mawils Kinderland. Ich lese bekanntlich gerne Biografien und so ganz hat mich der Gedanke daran, eine zu schreiben, auch noch nicht losgelassen, aber jetzt wird die Diss wohl doch in eine andere Richtung gehen. (Doktorvater: „So eine klassische Biografie ist bei uns eigentlich ein bisschen altmodisch als Diss.“ Aber ich bin doch altmodisch! Wer wenn nicht ich? Aber gut. Zurück zu Biografien generell:) Kinderland beschreibt eine Kindheit in der DDR, die für mich immer noch fremd ist. Ich war zwar einige Male „drüben“, als es sie noch gab, aber im Prinzip ist die DDR für mich genauso Ausland wie es Frankreich und Italien sind. Das merke ich vor allem, wenn ich mich mit der Kunst der DDR beschäftige – da weiß ich weniger als über Kunst aus Frankreich und Italien. Daher freue ich mich derzeit über alles, was auch nur ansatzweise an dieses Thema andockt. So habe ich gerade vorgestern mit meiner Physiotherapeutin, die aus der DDR kommt, über die Architektur und die Präsenz des Palastes der Republik gesprochen und dass ich es schade finde, dass er nicht mehr steht, was sie nicht ganz so schade fand. Kinderland ist ein weiteres kleines, total unwissenschaftliches, aber dafür garantiert unterhaltsames Puzzlestück. Vielen Dank für das Geschenk, ich habe mich sehr gefreut.

Kunst gucken: Einzelmeister –
Thomas Struth, „Audiences“ (2004)

Ich verwies neulich auf einen neuen Podcast der amerikanischen Komödiantin/Schauspielerin Abbi Jacobson, die sich mit Gästen für knapp 20 Minuten lang ins MoMA stellt und angeblich dumme Fragen an Kunst hat: Was soll das Rad auf dem Hocker von Duchamp? Wieso malte Warhol Dosensuppen? Fragen an Kunst sind nie dumm, weil man damit ganz simpel anfängt, über Kunst nachzudenken. So ähnlich gehen wir an unseren Fehlfarben-Podcast: Irre viel Ahnung haben wir auch nicht und wir fragen uns dauernd was, wenn wir in Ausstellungen stehen, und anstatt dann im stillen Kämmerlein zu diskutieren, nehmen wir uns beim Lautdenken halt auf.

Seitdem mein Studium etwas fortgeschrittener war, habe ich mir meist vor oder nach den Ausstellungsbesuchen noch irgendwas angelesen, damit die Hörer*innen nicht nur ahnungsloses Gestammel hören. Trotzdem stehe ich natürlich weiterhin vor vielen Werken genau so: ahnungslos. Die Ecke der Kunst, in der ich mich ein bisschen auskenne, ist winzig, immer noch. Daher versuche ich mal eine neue Serie im Blog: Einzelmeister. Ich stelle mich ins Museum und schreibe auf, wie ich gucke und was ich sehe, meist recht ahnungslos. Und erst danach radele ich ins ZI, lese was Schlaues dazu und schreibe das in einen zweiten Textblock. Mal sehen, was dabei so rauskommt.

Mein heutiger Einzelmeister ist Thomas Struths Audiences (2004), das mir von seiner Ausstellung Figure Ground am besten gefallen hat. Wir sprachen über die Ausstellung im letzten Podcast; sie läuft noch bis zum 7. Januar 2018 im Haus der Kunst in München.

Ihr könnt das Bild bzw. die Bilder, denn das Werk besteht aus vier Tafeln, ab 10.53 min im Ausstellungstrailer sehen, hier nicht vollständig im Raum und hier als einzelne klickbare Teile. Im Haus der Kunst hängen von rechts nach links die Bilder 5, 4, 11 und 7.

Was ich sehe:

Das Werk besteht aus vier großen Farbfotografien, geschätzt zwei mal drei Meter breit. Die vier Einzeltafeln hängen schräg im Raum, im Gegensatz zum Rest der Ausstellung, der brav an Wänden hängt. Ich weiß nicht, warum, aber schon diese Hängung hat mir gefallen. Man schaut zu den Bildern auf, sie hängen nicht auf bequemer Augenhöhe. Was sofort auffällt, ist die Parallele zu den abgebildeten Menschen, denn auch sie schauen nach oben.

Auf allen vier Tafeln sind frontal Menschen in Freizeitkleidung zu sehen, die ihren Blick nach oben richten. Aus dem Wandtext wird klar: Sie stehen in einer Rotunde vor Michelangelos David-Statue in Florenz, sicherlich einem der bekanntesten Werke der Kunstgeschichte. Der Fußboden ist rot und grau gemustert, hinter den Menschen sind graue Säulen zu sehen; rechts im Bild geht die Galerie weiter, man sieht goldgerahmte Bilder, ohne diese erkennen zu können. Der Fotograf stand anscheinend links von David und schaute sich die Menschen an, die sich David anschauen.

Auf der ersten Tafel, der rechten (Nr. 5) – das war die Seite, von der aus ich in den Raum kam –, fällt vor allem die dreiköpfige Gruppe links von der Bildmitte ins Auge. Eine junge Frau steht mit verschränkten Armen vor David und trägt Kopfhörer; sie hört dem Audioguide zu und schaut dabei sehr skeptisch nach oben. Sie bemüht sich nicht einmal, erleuchtet oder erstaunt oder irgendwas zu sein, was man halt vor David zu sein hat, sie steht hier und denkt vielleicht über seine riesigen Hände nach. Vielleicht will sie auch einfach nur aus ihren unbequemen Flipflops raus. Der junge Mann neben ihr trägt ebenfalls Kopfhörer und schaut pflichtschuldig nach oben, fast emotionslos, während ein weiterer junger Mann rechts sein Erstaunen nicht verbergen kann. Er steht leicht breitbeinig da, die Arme an seinen Seiten, eine Sonnenbrille im Haar. Er steht da vielleicht schon länger, muss die Arme nicht mehr verschränken oder die Hände in den Hosentaschen verbergen, er steht da in seiner ganzen Körperlichkeit genau wie David, er hat einen festen Stand und behauptet seinen Platz, während er einen anderen Mann anschaut, der eine ähnliche Körperspannung hat wie er.

Auf der zweiten Tafel von rechts (Nr. 4) sieht man mehrere kleine Grüppchen. Ganz links scheint eine Familie zu stehen, Vater, Tochter, Sohn; Vater und Tochter haben die Arme verschränkt, der Sohn steckt seine Hände in die Hosentaschen, alle schauen – im Gegensatz zu den anderen Gruppen im Bildvordergrund – nicht nach oben, sondern geradeaus oder zur Seite. Schaut die Tochter den Sockel an oder denkt sie darüber nach, wo sie noch alles hin muss, bevor sie wieder im Hotel lesen kann? Der Vater scheint die anderen Besucher anzuschauen: Gucken die auch richtig? Was gibt’s da hinten noch zu sehen? Haben wir jetzt lange genug hier den Pflichttermin bespielt?

Rechts von ihnen steht eine Gruppe aus drei Frauen, vielleicht Mutter und zwei Töchter? Die beiden jüngeren Frauen tragen ihre Rucksäcke vor der Brust anstatt auf dem Rücken, vielleicht weil die Aufsicht ihnen das so gesagt hat, vielleicht auch, weil in jedem Touristenratgeber steht, man solle seinen Rucksack im Auge haben. Zwei von ihnen haben ihre Kopfbedeckung, einen Hut, eine Baseballmütze, abgenommen wie in der Kirche. Die dritte scheint zu sprechen, die hält eine Eintrittskarte oder ein Heft in der Hand und scheint den anderen beiden erzählen zu wollen, was sie sieht; die anderen beiden hören ihr zu.

Wieder rechts von ihnen steht eine dritte Gruppe, wieder aus drei Personen. Sie sehen nicht so aus, als ob sie zusammengehören, sie stehen ein bisschen zu weit auseinander, um Freunde oder Familie zu sein. Vielleicht ist aber auch jeder gerade in seiner eigenen kleinen Welt, nur ich und David, und deswegen sind die Freunde gerade nicht so wichtig. Die Frau im Vordergrund hat ihre Brille ins kurze Haar geschoben und schaut fast fassungslos nach oben. Sie scheint sich noch sortieren zu müssen, wie fühlt sich das an, vor David zu stehen, wo schaue ich als erstes hin? Sie schaut nicht ganz so weit nach oben wie der junge Mann rechts neben ihr, sie scheint auf Davids Brustkorb zu verharren. Der junge Mann ist hingegen schon bei Davids Gesicht angekommen, und er lächelt strahlend. Von allen vier Tafeln ist dieser Mann derjenige, der mir am besten klarmachen konnte, was es heißt, vor David zu stehen: Er lächelt, er strahlt. Er steht entspannt mit den Händen in den Hosentaschen in gelbblauem Shirt und knielangen roten Hosen vor dem weißen David und strahlt. Vielleicht grinst er auch über Davids Nacktheit, aber ich wage zu behaupten, dass ein verlegenes, verschämtes Lächeln anders aussieht als dieses hier. Dieser Mann sieht so aus, als hätte er sich am meisten auf den David gefreut, als er die Florenzreise gebucht hat, und jetzt ist er endlich da und kann glücklich vor ihm stehen.

Die dritte Dame in der Gruppe ist noch nicht ganz angekommen – sie lächelt schüchtern, als ob es ihr unangenehm ist, David so nahe zu kommen. Und ganz rechts im Bild nähert sich ein kleiner Junge der Statue, er ist der einzige auf dieser Tafel, der sich ganz leicht bewegt, er geht einen Schritt auf David zu und schaut fragend zu ihm auf. Er weiß noch nicht, was er mit diesem übergroßen nackten Mann anfangen soll, aber er möchte näher an ihn heran.

Diese vier auf der zweiten Tafel waren für mich schon die Essenz des ganzen Werks. Alle Personen danach fand ich ebenso spannend und ich konnte mir Geschichten zu ihnen ausdenken, aber diese vier haben für mich persönlich die Annäherung an ein Kunstwerk perfekt symbolisiert: das Staunen, die Freude, die Intimität und der Wunsch, Kunst noch näher kommen zu wollen.

Auf der dritten Tafel (Nr. 11) sind deutlich mehr Menschen zu sehen, es gibt kaum noch klar erkennbare Gruppen. Ein älteres Pärchen beschäftigt sich mit seinen Audioguides anstatt nach oben zu schauen, eine junge Frau links scheint ihren Blick hin- und herzuwechseln zwischen dem David und dem Kunstführer, den sie in der Hand hält, eine vier- bis sechsköpfige Gruppe bespricht, was man gerade gesehen hat oder lässt sich etwas erklären, schaut aber auch nicht nach oben. Überhaupt schauen mehr Leute nicht nach oben als zum David als umgekehrt.

Eine Person allerdings hat mich persönlich wieder sehr gefreut: der Junge in der Bildmitte im roten Shirt, seine Hände in den Hosentaschen (das scheint eine übergreifende Geste fürs Kunstgucken zu sein), in khakifarbenen, halblangen Hosen und schwarzen Sneakers, seine rote Baseballmütze auf dem Kopf, am Handgelenk eine silberne Uhr. Er scheint die ganzen wuseligen Gruppen gerade vergessen zu haben, denn er blickt nur staunend nach oben. Seine Augen ruhen auf Davids Gesicht, sein Mund ist leicht geöffnet, er steht alleine vor der Statue und alle Menschen um ihn herum sind völlig egal. Er sieht David vermutlich zum ersten Mal und genau das spiegelt sich auf seinem Gesicht wider. Rechts im Bild steht ein Mann in ähnlicher Position, auch er mit halblangen Hosen und Shirt, seine rechte Hand hält seinen Rucksackgurt fest, die linke steckt – natürlich – in der Hosentasche, und auch er schaut mit leicht geöffnetem Mund nach oben. Er sieht allerdings aus wie jemand, der pflichtschuldig schaut, er weiß, was der David ist, er hat sich das alles brav angelesen und guckt jetzt wie jemand, der weiß, wie man gucken muss, wenn man vor David steht. Der Junge neben ihm weiß das nicht, er kann gerade nicht einordnen, was er sieht, er weiß nur, dass er hier stehen und schauen möchte.

Die letzte Tafel (Nr. 7) scheint später am Tag aufgenommen zu sein, die meisten Besucher sind müde, haben schon halb Florenz in den Knochen und möchten nur irgendwo sitzen und was trinken. Ein Mann schaut den Fotografen an, sein Gesicht ist leicht gerötet, er trägt einen Schlapphut und wurde eventuell von seiner Freundin vor den David geschleift. Sie steht links neben ihm in heller Hose und einer Bluse mit Sonnenblumen, um ihre Hüfte hat sie eine blaue Jacke geknotet, ihre Schuhe sind nicht die üblichen Turnschuhe oder Trekking-Sandalen, die sonst alle Besucher und Besucherinnen tragen, sondern flache Pantoletten; mit ihrer linken Hand lehnt sie eine Wasserflasche an ihre Hüfte. Sie scheint sich wenigstens ein bisschen für David schick gemacht zu haben, sie wollte hier nicht in Sneakers stehen, und so schaut sie andächtig nach oben, ob er das zu würdigen weiß. Hinter den beiden richtet jemand eine flache Kamera auf David. Spätestens hier merkt man, wie alt das Werk schon ist, heute würde vermutlich so gut wie jeder ein Smartphone zücken. Das sieht man auf Instagram sehr gut, wenn man nach #davidmichelangelo sucht.

Was ich las:

Thomas Struth sagte einmal zu seinen Porträts, dass er sie als gelungen empfindet, „wenn das Bild der duellhaften Sitzung, der Gegenüberstellung von Modellen auf der einen und dem Autor und seiner Kamera auf der anderen Seite eine irgendwie unausweichliche Betroffenheit auslöst, eine epische Qualität, die sich in einem Bild kondensiert.“ Er sprach dabei über seine Familienporträts (1, 2), bei denen er den Ort und den Bildausschnitt bestimmt, seinen Objekten aber die Freiheit überlässt, sich zu positionieren, wo und wie sie möchten. (Auch aus dieser Reihe hängen einige derzeit im Haus der Kunst.) Ich glaube, diese Aussage passt auch auf Audiences, auch wenn seine Objekte sich hier vermutlich nicht in eine Pose gestellt haben – höchstens die des Kunstguckens, Hände in die Hosentaschen oder Arme verschränkt, Blick nach oben. Struth weiter zu seinen Familienporträts: „Vor allem ist es die uneingeschränkte, nicht abgelenkte Präsenz der Personen, wie sie sich im Hier und Jetzt zusammen darstellen, die ein Gradmesser [für ein gelungenes Bild] ist.“ (Beide Zitate Schubert 2016, S. 228.)

Vielleicht ist es genau das Gegenteil, diese abgelenkte Präsenz der Personen, die ich an Audiences so mochte. Die Anziehungskraft von David ist in jedem Detail spürbar, selbst wenn die Menschen nicht zu ihm aufblicken. Ohne ihn wären sie hier nicht versammelt, er ist das Zentrum, obwohl er überhaupt nicht sichtbar ist. Jedenfalls dachte ich das, bis mich ein Aufsatz darauf aufmerksam machte, dass sich die Statue in einer Sonnenbrille eines Betrachters spiegelt: Der müde Mann aus dem vierten Panel, der den Fotografen anschaut, hat seine Sonnenbrille in seinen Shirtkragen gehängt – und dort ist der David zu sehen. (HaCohen/Ezrahi 2010, S. 175.)

Im Podcast verglich ich das Bild mit Da Vincis Abendmahl. Das mag erstmal etwas schräg klingen, aber alleine die Bildmaße lösten diesen Vergleich in mir aus, ohne dass ich darüber nachdachte. Dann aber überlegte ich: Vielleicht sind es eher die verschiedenen Gesichtsausdrücke, die mich an das Abendmahl haben denken lassen? Bei Da Vinci zeigen sich in den Gesichtern der Jünger verschiedene Regungen auf Jesus’ Ankündigung, jemand werde ihn verraten. Vielleicht musste ich daran denken, als ich die vielen Reaktionen auf David sah: Zweifel, Erstaunen, Glück, Ratlosigkeit, Erschöpfung. Auch Hans Belting schrieb über die Tätigkeit des Betrachtens und die unterschiedlichen Reaktionen:

„Museumsbesucher […] aus allen Rassen und Kulturen bilden das gemeinsame Publikum, das, so scheint es, einer gemeinsamen Tätigkeit nachgeht. Aber es benimmt sich dabei so, daß nicht ganz eindeutig ist, worin diese gemeinsame Tätigkeit besteht. Alle betrachten sie Bilder, aber auf so unterschiedliche Weise und in so verschiedener Intensität, daß man daran zu zweifeln beginnt, daß alle noch das gleiche tun.“ (Belting 2005, S. 110.)

Belting schrieb hier über die Museum Photographs (1, 2), in denen Struth Museumsbesucher fotografierte, aber im Gegensatz zum David von hinten, so dass man das betrachtete Kunstwerk ebenfalls im Foto sieht. Auch davon hängen einige Exemplare im Haus der Kunst; mein Liebling war die Ansicht von Caillebottes Straßenszene in Paris. Und der ungewohnte Anblick von Dürers Selbstporträt, das quasi nebenan im Original in der Alten Pinakothek hängt; das war schon fast surreal, es hier im Haus der Kunst zu sehen. Vielleicht auch, weil ich dieses Bild an einem festen Ort abgespeichert habe: Das gehört für mich nicht in Ausstellungskataloge oder Abbildungen oder eben ins Haus der Kunst, das gehört für mich in die Alte Pinakothek, da habe ich es gesehen, da hat es seinen Platz. Belting beschreibt diese Verortung und damit meinen Blick auf die Museumsbesucher so:

„Wir gehen gewöhnlich nicht in eine Ausstellung, um Leute zu betrachten, schon gar nicht solche Leute, die ihrerseits Bilder betrachten, womit wir uns in einer Tautologie, ihres Blicks in unserem Blick, verfangen. Wir freuen uns aber daran, daß wir die Orte kennen, weil wir sie an den Bildern wiedererkennen, die dort hängen. So binden zunächst Orte und Bilder unseren Blick. […] Deshalb können wir auch in unserer Vorstellung den Ort, an dem wir selber sind, mit dem abgebildeten Ort vertauschen, auf den wir nur blicken. Dann entdecken wir in diesem Labyrinth des Blicks noch einen dritten Ort, nicht den Ort, an dem die Gemälde hängen, sondern den Ort, den sie darstellen.“ (Belting 2005, S. 110.)

Wie bei Caillebotte das Paris des 19. Jahrhunderts, das plötzlich zu Chicago wird, wo das Bild hängt und zu München, wo ich mir gerade ein Foto davon anschaue. Das funktioniert auch bei Audiences, wo mich die Reaktionen der Betrachter an mich selbst erinnern und ich so kurz in Florenz stehe.

In Audiences kommt ein Wesenszug von Struths Fotografien sehr deutlich zum Ausdruck: sein Staunen, das sich hier in den ebenfalls staunenden Gesichtern der David-Betrachter abzeichnet. In allen Bildern, die im Haus der Kunst zu sehen sind, ist die vorsichtige, nie aufdringliche, fast schon stoische Neugier Struths sichtbar; vielleicht auch ein Grund, warum mir die Fotografien so gut gefallen haben – neben ihren altmeisterlich großen Formaten. Ann Goldstein schreibt dazu:

„Struths Werk besitzt eine selbstkritische Qualität des Staunens und der Entdeckung bei der Repräsentation seiner Sujets. Für ihn ist Fotografie ‚ein eigentlich naturwissenschaftliches Werkzeug zur psychologischen Erforschung‘; er spricht von seinem Interesse an ‚psychologischer Bestimmung‘ und nennt als Auswahlkriterium für Straßenbilder die ‚Atmosphäre‘ dieser Örtlichkeiten sowie den Prozess, durch den er herausfindet, welche Strukturen es sind, die dafür sorgen, dass diese Orte so aussehen, wie sie aussehen. Seine Frage an sich selbst lautet: ‚Wieso reagiere ich darauf?‘“ (Goldstein 2009, S. 147.)

Vielleicht ist das die beste Methode, sich mit Kunst zu konfrontieren: erstmal entspannt gucken und sich dann fragen: Reagiere ich darauf? Und wenn ja, auf was und wieso? Ich habe länger über Audiences nachgedacht und ahne inzwischen, dass die Abendmahl-Assoziation nicht von ungefähr kommt. Kunst hat für mich manchmal einen erhabenen, fast religiös-andächtigen Charakter; manche Werke bringen mich nicht nur zum Staunen, sondern sogar zum Weinen (wie van der Weydens Kreuzabnahme), und weil ich das weiß, will ich mich manchen recht vorsichtig nähern, immer schön den Profiblick aufsetzen, bloß nicht von Anfang an emotional reagieren. Audiences kann man sich aber nicht vorsichtig nähern, seine nahbare Menschlichkeit reißt von vornherein alle Schranken nieder, auch weil man selber in genau der Position steht wie die Menschen, die man sich gerade anschaut. Audiences ist ein perfekter Spiegel, und auch wenn man nur im ollen Nazibau des Hauses der Kunst steht und keinen Michelangelo aus Marmor anschaut, sondern moderne, kühle Fotografie, ist das Erlebnis das gleiche: Staunen über Kunst.

„Zwischen diesen Polen der Betrachtung, dem fotografierten Gemälde und der Fotografie selbst, sind die fotografierten Besucher wie in einem Zeitspalt gefangen, in dem sie erfreulicherweise nichts anrichten können. Denn die Blicke, die seit Jahrhunderten täglich auf die Bilder geworfen werden, bleiben folgenlos. Es macht vielleicht das größte Faszinosum der Kunst aus, dass sie sich im Gebrauch der Anschauung nicht verzehrt, vielmehr die Blicke, die auf sie geworfen werden, ihrerseits spurlos zu verzehren scheint. Es fällt einem dazu der Anfang von Paul Celans Gedicht Die Krüge ein: ‚An den langen Tischen der Zeit / zechen die Krüge Gottes. / Sie trinken die Augen der Sehenden leer und die Augen der Blinden“ heißt es in seinen ersten beiden Zeilen, und was könnte – bis auf die letzten Worte – die Metaphysik des Museums treffender charakterisieren?

Struths Fotografien provozieren die Frage, wie viele Betrachter die Museumsgemälde täglich zu sehen bekommen, wenn sie es denn könnten. Würde man sich im Zeitraffer die Besucherströme ansehen, welche die Mona Lisa täglich vor Augen hat, käme die Frage von selbst auf, wer hier wen anschaut […] Natürlich ist Celans Gedicht Die Krüge nicht der Kunstwahrnehmung gewidmet. Es handelt von der Langlebigkeit der irdischen Kulisse, in der die kurzfristige Neugier aller Durchreisenden vor der Ausdauer des Betrachteten verblasst. Museumsbilder zählen zu den markantesten Elementen dieser Kulisse, welche die Lebensspanne des Einzelnen überschreitet; sie sitzen die vorüberziehenden Generationen gleichsam aus. Deshalb passen auch die letzten Zeilen des Gedichtes auf sie: „Sie sind die gewaltigsten Zecher: / sie führen das Leere zum Mund wie das Volle / und schäumen nicht über wie du oder ich.“ Celans Gedicht zeigt gleichsam nebenbei, was ars longa, vita brevis auch wahrnehmungsgeschichtlich heißen kann.“ (Grasskamp 2009, S. 189.)

Literatur:

Belting, Hans: „Der photographische Zyklus der ‚Museumsbilder‘ von Thomas Struth“, in: Struth, Thomas (Hrsg.): Museum Photographs, München 2005, S. 108–127.

Goldstein, Ann: „Portraits der Selbstreflexion“, in: Reust, Hans Rudolf/Lingwood, James (Hrsg.): Texte zum Werk von Thomas Struth, München 2009, S. 144–157.

Grasskamp, Walter: „An den langen Tischen der Zeit. Thomas Struths Betrachtung des Betrachters“, in: Reust, Hans Rudolf/Lingwood, James (Hrsg.): Texte zum Werk von Thomas Struth, München 2009, S. 187–191.

HaCohen, Ruth/Ezrahi, Yaron: „In Räumen denken: Thomas Struths Poetik der Enthüllung“, in: Zürcher Kunstgesellschaft/Kunsthaus Zürich und Kunstsammlung (Hrsg.): Thomas Struth. Fotografien 1978–2010, München 2010, S. 174–182.

Schubert, Claudia (Hrsg.): Mit anderen Augen. Das Porträt in der zeitgenössischen Fotografie, Köln 2016.

Was schön war, Sonntag, 27. August 2017 – In der Bäckerei

Ich kam morgens von F. nach Hause und wollte die üblichen zwei Croissants in der Bäckerei kurz vor meiner Haustür kaufen. So will es das Gesetz, wenn ich von F. komme. Ich bestellte also, als die Dame hinter der Theke mich ansprach:

„Sind Sie das, die hier immer morgens zum Walken vorbeikommt? Ja, oder?“

Ich so: „Äh. Ja.“ (Huch?)

Verkäuferin: „Find ich toll. Noch im Dunkeln. Respekt.“

Ich so: „Äh. Ja. Danke!“

Verkäuferin: „Viel Erfolg noch.“

Ich so: „Äh. Ja. Danke!“ (Bei was?)

Ich ahne, dass die freundliche Frau mir Erfolg beim Abnehmen gewünscht hat, aber das weiß ich nicht. Vielleicht hat sie mir auch Erfolg bei der Vorbereitung zum Extremmarsch in den Alpen gewünscht, das würde ich viel toller finden. Ich bilde mir jetzt ein, dass sie das gemeint hat, denn wenn ich abnehmen wollen würde, würde ich vermutlich keine Croissants kaufen. Auch dies fiel mir innerhalb von den üblichen Millisekunden ein, die mich weiterhin ab und zu erwischen, wenn irgendwas den Gedanken an Diäten auslöst: Ich will nicht abnehmen, ich will Croissants essen, weil Croissants glücklicher machen als eine kleinere Zahl auf der Waage. Ich weiß das inzwischen, auch wenn es 25 Jahre gedauert hat, bis ich es mir endlich gemerkt habe.

Mir fiel im Laufe des Tages mal wieder ein Geburtstagsgeschenk ein, das mir meine Eltern mal gemacht haben; ich muss immer daran denken, wenn ich im Supermarkt Apfelmus kaufe, denn ich liebe Apfelmus. Als ich noch kleiner war, unter zehn, schätze ich, haben meine Eltern mich mal gefragt, was ich mir zum Geburtstag wünsche. Und weil mir außer dem üblichen EINE MILLION BÜCHER, die ich sowieso immer gekriegt habe, nichts mehr einfiel, sagte ich: einen Topf Apfelmus, von Mama gekocht. Und den bekam ich auch.

Ich frage mich im Nachhinein, wann das passiert ist, dass Essen kein Glück mehr für mich war, sondern ein Unglück, eine Sünde, etwas Fürchterliches, was man unbedingt vermeiden muss. Ich weiß es nicht mehr genau, aber ich war wieder kurz traurig darüber. Ich wäre vielleicht ein anderer Mensch geworden, wenn ich mich früher hätte annehmen können wie ich nun einmal bin, mit allen Macken und Gelüsten, aber eben auch gleichzeitig mit allen Talenten und Stärken. Die habe ich nämlich nie wahrgenommen, so lange ich damit beschäftigt war, mich scheiße zu finden, weil ich dick bin. Andererseits bin ich heute sehr glücklich mit dem Menschen, der ich jetzt bin, auch wenn ich natürlich an ein paar Sachen an mir etwas auszusetzen habe. Das ist inzwischen aber eher die mangelnde Fähigkeit, mir Namen und Werke von Künstler*innen länger als fünf Minuten zu merken, weswegen ich alles aufschreiben und nachschlagen muss. Es ist nicht mehr der dicke Hintern. Ganz im Gegenteil; auf den und alles andere, das meinen Körper bildet, passe ich heute auf. Ich bin nett zu ihm, kümmere mich um ihn, bewege ihn und füttere ihn – mit Essen, das ihn glücklich macht. Zum Beispiel Croissants. Nie wieder ohne.

Was schön war, Samstag, 26. August 2017 – Buch, Fußball, Essen, alles

Gestern hatte der FC Augsburg sein erstes Heimspiel. Das erste Saisonspiel auswärts gegen den HSV (ausgerechnet, grmpf) wurde dusseligerweise verloren; gestern war Borussia Mönchengladbach zu Gast. Ich freute mich sehr auf das kleine Puschelstadion im Vergleich zur Monster-Allianz-Arena, auf den FCA-Knacker (Stadionwurst), auf den fähnchenschwingenden Kid’s Club, die Stadionhymne und alles, sogar auf den Rumpelfußball, der einen vermutlich erwartete.

Wir fuhren um halb zwei von München aus in Richtung Augschburg. Um uns herum plapperte eine kleine Gruppe Russen, während neben uns eine Dame Percussionsübungen mit einem Notenheft ausführte, indem sie sich rhythmisch aufs Brustbein oder den Unterarm schlug, klatschte oder mit den Fingern schnippte. F. und ich guckten amüsiert-augenrollend, wollten uns aber nicht umsetzen. Der Herr genoss sein Wegbier (wegen der Hitze ein Wegradler), während ich mein Zugbuch zückte.

Ich lese gerade Alexander Masters A Life Discarded: 148 Diaries Found in a Skip, das mir meine Bekannte von neulich geschenkt hatte. Die Dame wohnt nicht in Deutschland und fragte deshalb vor der Bestellung, ob sie mit Karte zahlen könne, die Bedienung bejahte, und ihr ahnt schon, was kommt: Meine Bekannte meinte Kreditkarte, die Bedienung EC-Karte, weswegen meine Bekannte am Ende unseres Treffens nicht zahlen konnte und sich nach dem nächsten Geldautomaten erkundigte, woraufhin ich natürlich meinte, Quatsch, ich lad dich ein. Als Ausgleich lag ein paar Tage später dieses Buch in der Packstation, worüber ich mich sehr gefreut habe. Das passte nämlich so gerade ins Stadiontäschchen, wofür die Radium Girls viel zu groß sind. Und ohne Buch gehe ich ja in kein Fußballstadion.

Wir kamen akustisch leicht überfordert, aber ansonsten vorfreudig in Augschburg an, erwischten zwei Sitzplätze in der Tram zum Stadion und waren in einer Minute durch die Einlasskontrollen. Dieses Mal hatte ich noch eine Eintrittskarte aus Papier dabei, aber beim nächsten FCA-Heimspiel gehe ich damit durch die Drehkreuze:

Ich teile mir in dieser Saison eine Dauerkarte mit F.s Sitznachbar, der so oft geschäftlich unterwegs ist, dass er nur die Hälfte der Spiele schafft. F. hat in dieser Saison erstmals eine eigene Dauerkarte beim FC Bayern, worüber der Mann sich seit Wochen kindlich-niedlich freut. Seit gestern kann ich diese Freude nachvollziehen, denn obwohl auf der Dauerkarte nicht mein Name steht, ist es doch gefühlt meine. Ich hoffe, der FCA bleibt noch ein paar Saisons erstklassig, dann gönne ich mir eventuell mal eine eigene Dauerkarte. Ich will seit gestern auch meinen Namen auf Plastik sehen.

Beim FCB werden die Dauerkarten unter Freunden überschrieben oder innerhalb der Familie vererbt, ansonsten besteht kaum eine Chance auf das Ding. Beim FCA kauft man die einfach. Für mich wäre eine Dauerkarte dort nur in der ersten Liga sinnvoll, denn bei den Anstoßzeiten der zweiten Liga am Freitag und Montag ist es etwas anstrengend bzw. zeitlich kaum möglich, bei einem regulären Arbeitstag rechtzeitig von München aus zum Spiel im Stadion zu sein.

Aber das ist Zukunftsmusik. Gestern freute ich mich dann über alles, worauf ich mich im Vorfeld gefreut hatte, bis auf die Stadionwurst, auf die hatte ich bei 30 Grad keine Lust. Wegen der Temperaturen trank ich auch erstmals einen Liter Wasser im Stadion; normalerweise trinke im Stadion nichts, weil ich keine Lust habe, in der Halbzeit aufs Klo zu gehen, ich stehe da lieber am Platz und gucke in der Gegend rum. Dieses Mal musste ich aber eh aufs Klo, um Sonnencreme nachzulegen, denn in der zweiten Halbzeit liegt der Dauerkartenplatz in der Sonne. Während ich in der letzten Saison noch vor mich hinlitt und auf den Hitzschlag wartete in meinen üblichen dunklen Klamotten, hatte ich dieses Mal vorgesorgt und saß in einem überhaupt nicht meiner Farbpalette entsprechenden mintgrünen Shirt und einer ebensolchen Hose im Stadion. Ich hatte zur Sicherheit noch eine weiße Bluse dabei, die ich mir wie ein Zelt hätte überwerfen können, so dass nur noch mein Gesicht Sonne abkriegt, aber das war nicht nötig, die hellen Klamotten halfen schon sehr. Auch wenn ich aussah wie eine Zahnpastatube. Dass ich heute keinen Sonnenbrand habe und gestern gute Laune hatte, zeigt, dass die Investition in diese Kleidung eine gute war. Trotzdem frage ich mich im Nachhinein, warum ich nicht gleich weiße gekauft habe.


(Da drüben vor dem Tor dreht der Kid’s Club seine Runde, während das Publikum die Fähnchen schwenkt, die für Mitglieder kostenlos verteilt wurden.)

Das Spiel war spannend, begann gleich nach 35 Sekunden mit einem Tor für den FCA, dann führte Gladbach plötzlich 2:1, und erst in der 89. Minute fiel der Ausgleich. Ich bin heute zwar sonnenbrandlos, aber ein bisschen heiser. Da habe ich wohl doch mehr gebrüllt als gedacht.

Gegen kurz nach 19 Uhr waren wir wieder in München. Ich tauschte die Zahnpastaklamotten gegen Lieblingsrock und violettes Shirt (eindeutig mehr meine Farbe), denn F. und ich wollten dringend zum Afghanen, weil wir unerklärlichen Heißhunger auf Gewürzreis hatten. Der dortige Kellner ist stets eine Ausgeburt an Höflichkeit, und gestern hat er nochmal Punkte gemacht, als er die Klimaanlage anwarf, sobald er sah, dass ich mir Luft zufächelte. Ich freute mich zudem darüber, dass er einen, so vermute ich, Landsmann mit „Servus“ begrüßte, bevor die beiden dann (ebenfalls vermutlich) Paschtunisch miteinander sprachen.

Wir ließen den Abend mit einem Radler auf F.s Balkon ausklingen und guckten im Aktuellen Sportstudio nochmal die Highlights des FCA-Spiels. Nicht gezeigt wurde, dass auch Simon im Stadion war. Zwei Jahre nach seinem Unfall schob ihn seine Mutter im Rollstuhl vor die Nordkurve und erhielt einen Spendenscheck der Fans.

Was schön war, Mittwoch, 24. August 2017 – Gutgehtag

Morgens von F. nach Hause spaziert, frische Croissants besorgt und gleich mit Johannisbeergelee verspeist.

Dazu wieder herrlichen kühlschrankkalten Kaffee mit Milch und einem winzigen Schuss Sirup genossen. Ja, ich weiß, total unpuristisch und unhipsteresk, aber ich mag Kaffee am liebsten mit Milch und ein bisschen süß. Obwohl ich, seitdem ich die Bohnen selbst mahle und mit der French Press zubereite, auch weiß, dass ich ihn schwarz gerne trinke – und sogar lieber kühl oder kalt als heiß.

Deswegen freue ich mich immer noch über diese tolle Kaffeeflasche, die, seitdem ich sie besitze, im Dauereinsatz ist.

Den ganzen Tag vor Serien rumgelungert, die FAZ gelesen, mein Buch weitergelesen, die Diss im Hinterkopf arbeiten lassen, mich über die Einladung in eine kleine Münchner Agentur gefreut, die mich mal kennenlernen will und deren Website mir auch äußerst sympathisch ist. Statt zu kochen ein Nutellabrot geschmiert.

Abends bei F. auf dem Balkon dem Gewitter zugeguckt und dabei Weißwein getrunken und verwackelte iPhone-Fotos gemacht.

Links ist das Heizkraftwerk zu sehen, die beleuchtete Kirche in der Bildmitte ist die Theatertinerkirche, ganz rechts die Frauenkirche, und das unbeleuchtete Ding dazwischen ist meine Kirche, St. Markus. Ich beschwere mich an jedem Balkonabend über die protestantische Sparsamkeit und dass dieser schicke 50er-Jahre-Bau nicht angestrahlt wird.

Was schön war, Dienstag, 23. August 2017 – Schnurr

Mein Zahnarzt hatte mir, O-Ton, Physio für mein knirschendes Kiefergelenk verordnet, worüber ich tagelang gackern musste. Ich sah mich schon lustige Mundgymnastik unter Aufsicht machen, aber es war dann viel netter und entspannender. Die Behandlung entpuppte sich als Manualtherapie, was bedeutete, dass mir eine freundliche Therapeutin diverse Muskelpartien im Gesicht und Hals massierte und irgendwann auch noch den Nacken und den Schulterbereich mitnahm, denn das hängt ja alles zusammen und ich war anscheinend verspannt wie nix. Das ahnte ich natürlich, denn der Abschied vom Studium, die Langstrecke einer Promotion und die ungewisse Zukunft belasten dann halt doch so ein bisschen. Außerdem neige ich dazu, in Bibliotheken irgendwann wie ein Schluck Wasser in den Stühlen zu hängen und die Bücher viel zu nah vor der Nase zu haben, bevor ich mich daran erinnere, gerade zu sitzen und Abstand zu den schönen Aufsätzen zu wahren.

Eine Bewegung fand ich gleichzeitig unheimlich und faszinierend. Beim Gesangsunterricht hatte mir meine Lehrerin immer gesagt, wenn ich auch da wie ein Schluck Wasser rumstand und die Nase am Notenständer hatte, ich solle mir vorstellen, ich hätte einen Faden an der Schädeldecke und an dem zieht mich jetzt jemand nach oben – schon richtete ich mich auf, war gefühlt zehn Zentimeter größer und konnte, wer hätte es gedacht, freier singen. So ungefähr fühlte es sich an, als die Therapeutin mich gestern irgendwo unten am Hinterkopf anfasste und zu sich zog (ich lag). Es war wie gesagt ein bisschen unheimlich, sanften, aber deutlichen Zug auf der Halswirbelsäule zu spüren, aber es war gleichzeitig sehr schnurrig. Zum Abschluss durfte ich noch zehn Minuten in warmen Kissen liegen und war endgültig grundentspannt.

Ich mochte die Kachelfarbe im Treppenhaus der Praxis gern. Außerdem freute ich mich über den Altbau. Ich bin in München viel zu selten in Altbauten. Dusselige Hauptstadt der Bewegung.

Danach überlegte ich kurz, ob ich nach Hause fahren und mich wieder ins Bett legen sollte, so puschelig-weichgeknetet wie ich war, aber ich hatte den Rechner dabei und mir ein bisschen Nazikram im ZI vorbestellt, also fuhr ich brav dort hin und las wieder schlimmes Zeug. Also schlimm im Sinne der Parteipolitik, für mich aber wie immer alles höchst spannend und aufschlussreich. Ich entdeckte schöne Dissertationen und Aufsätze; so fand ich derKunst im Dritten Reich von 1937 eine Abbildung des damals neuen (und heutigen) Park-Cafés und fühlte mich in meiner Ahnung bestätigt, dass das NS-Architektur war. Seitdem frage ich mich, ob die alten Fresken im Innenraum noch unter Farbschichten vorhanden sind oder die irgendwann abgeschlagen wurden. Außerdem las ich ein Machwerk von Robert Scholz, einem Kunstkritiker der NS-Zeit, der sich 1977 ernsthaft hingestellt und behauptet hatte, NS-Kunst sei die quasi alternativlose Folge der Kunst der Weimarer Zeit gewesen – er nannte 1933 eine „konservative Kunstwende“ und ich wollte wieder Bücher anschreien, so wie ich ständig meinen Rechner anschreien will, wenn wieder irgendwo steht, dass der beschissene Rechtsruck und Trump unvermeidlich gewesen seien, weil die Linke mit ihren liberalen Ideen halt so fies ist.

Nach vier Stunden und mit ein paar neuen Ideen zur Diss fuhr ich nach Hause. Dort warf ich zwei Paprika mit einer Zwiebel in die Pfanne und ließ alles hübsch karamellisieren, während in einer zweiten Pfanne eine Portion Rührei vor sich hinstockte. Ich habe mir vor einigen Wochen einen Topf Schnittlauch für die Fensterbank gekauft und warte seitdem, dass er stirbt, was alle meine Kräutertöpfe tun, denn meine Fensterbank bekommt nie wirklich Sonne. Dieser Topf ist aber anscheinend ein Zombie, er wächst so irre, dass ich derzeit mein Essen danach plane, ob man zwei Handvoll Schnittlauch dazu werfen kann. Da liegt Rührei natürlich nah. Gut war’s.

Abends Fußball bei F. Gemeinsam eingeschlafen.

(Da Zusammenziehen in München eher so hahajaklarwaskostetdiewelt ist und wir beide auch sehr an unseren eigenen Wohnungen hängen, wird der letzte Satz als Statusmeldung dort vermutlich (hoffentlich) noch länger stehen.)

Tagebuch, Dienstag, 22. August 2017 – To-Do-Liste

Am Montag gönnte ich mir mehrere Stunden im Zentralinstitut für Kunstgeschichte, um meinen Blogeintrag von gestern fertigzuschreiben, für den ich viel mehr las als ich eigentlich brauchte, aber hey, wenn man schon mal in der Bibliothek sitzt, dann holt man sich eben ein paar Bücher an den Platz. Ich bestellte auch gleich noch ein paar Zeitschriftenbände aus den Rara-Beständen vor, in die ich für die Diss reingucken will.

Am Blogeintrag über die Ausstellung von NS-Kunst in Regensburg habe ich tagelang gesessen, und mir ist beim Schreiben, genau wie beim Schauen, mal wieder aufgefallen, wie herausfordernd die nächsten drei Jahre werden, denn ich bin eigentlich die ganze Zeit damit beschäftigt, mich von meinem Forschungsfeld zu distanzieren. Einerseits verteidige ich die NS-Kunst als wichtig genug, um sich wissenschaftlich mit ihr zu befassen, andererseits genieße ich es sehr, im Blog alberne Adjektive zu ihrer Beschreibung nutzen zu können und sie so auf Abstand zu halten.

Ich kann vor keinem Bild, das im Deutschen Reich zwischen 1933 und 1945 entstanden ist und dem System genehm war, rumstehen und sagen, jo, finde ich gut, würde ich mir ins Wohnzimmer hängen, wie ich das vermutlich bei jedem anderen Bild aus jeder anderen Zeit tun könnte. Bis jetzt habe ich netterweise noch kein NS-Bild gesehen, bei dem ich diese Anwandlung hatte, aber falls das mal kommt, und ich ahne, dass es irgendwann kommt, werde ich hundertmal aufschreiben müssen: „Du sollst keine NS-Kunst ästhetisch attraktiv finden, denn die ist bäh.“ Das ist, wie gesagt, anstrengend. Ich muss aufpassen, dass meine Neugier auf diese Bilder nicht zu Anerkennung wird. Aber vielleicht überschätze ich die NS-Kunst auch gerade gewaltig. Wie gesagt, bis jetzt war noch nichts dabei, das ich haben wollte, aber ich kenne schon einige Werke, die mich faszinieren konnten.

(Anstrengend.)

Gestern war der Tag des Wegarbeitens von lauter Kleinkram, den ich seit Tagen vor mir herschiebe oder den ich Montag nicht erledigen wollte, wie zum Beispiel den nächsten Schwung Akquisemails. Sich bei Leuten per Mail vorzustellen, mache ich lieber nicht am Montag, wo alle davon genervt sind, dass Montag ist, aber auch nicht Donnerstag oder Freitag, weil da alle von der Woche gestresst sind und schon ans Wochenende denken. Daher habe ich gestern, am schönen Dienstag, mal wieder ein paar Agenturen angeschrieben, Leute auf Xing zu meinen Kontakten hinzugefügt sowie bei einigen Portalen mein Portfolio hochgeladen.

Dann erledigte ich weitere lustige Dinge wie Arzttermine vereinbaren, Mails schreiben, Telefonate führen, Altpapier wegbringen, Wäsche machen, lauter Zeug halt, das sich angesammelt hatte und für das ich am Wochenende ernsthaft eine To-Do-Liste geschrieben hatte, was ich sonst nie tue. Aber es war dann eben doch viel Kleinkram, und seit gestern ist er weg. Ha!

Mittags gab’s Zucchinipuffer mit scharfem Feta. Ich merke immer mehr, dass ich es ganz gerne mag, Zeug wegkochen zu müssen bevor es vergammelt, weil ich mir stets irgendwas Neues überlegen muss, um nicht vom eigenen Essen gelangweilt zu werden. Vielleicht sollte ich doch mal so ein Gemüsekistenabo abschließen. Bisher habe ich mich geweigert, mir meine Nahrung vorschreiben zu lassen, weil mich das so unerträglich an Diätpläne erinnerte. Hm. Ich werde weiter darüber nachdenken. (Puffer waren lecker.)

Über die Kunst und die Technik, und warum letztere manchmal ein Hund ist.

Ines Häufler verzweifelt an QR-Codes – wer nicht –, plädiert aber weiterhin für den Einsatz von digitaler Technik in Museen. (Ich nenne QR-Codes ja gerne die Arschgeweihe der Wandtexte.)

„Mein Handy ist jetzt also um zwei Apps und ich um einige Erfahrungen reicher. Als ich die Ausstellung verlasse, spreche ich den Mann am Ticketschalter an, und erzähle, dass das mit den QR-Codes leider nicht so gut funktioniert. Er ist sehr freundlich und bedankt sich für mein Feedback. Dann zeigt mir der Mann einen kleinen Aufsteller am Eingang, auf dem ein erklärender Satz zur App und der QR-Code dafür draufklebt. Ich versuche, ihn live zu scannen (den Code, nicht den Mann), und es funktioniert auch hier nicht. Weil das Licht von oben entweder spiegelt oder man sich mit dem Handy so einen starken Schatten macht, dass der Code zu wenig Kontrast bekommt und selbst für die Cloudguide-App, die einen QR-Reader eingebaut hat, unlesbar wird. Tja.“

‘The civil war lies on us like a sleeping dragon’: America’s deadly divide – and why it has returned

Der Yale-Historiker David Blight schreibt über den Amerikanischen Bürgerkrieg bzw. die Zeit davor und was wie heute davon lernen können.

„Republics are ever unsteady and at risk, as our first and second founders well understood. Americans love to believe their history is blessed and exceptional, the story of a people with creeds born of the Enlightenment that will govern the worst of human nature and inspire our “better angels” to hold us together. Sometimes they do. But this most diverse nation in the world is still an experiment, and we are once again in a political condition that has made us ask if we are on the verge of some kind of new civil conflict. […]

Where are we now? Are Americans on the verge of some kind of social disintegration, political breakup, or collective nervous breakdown, as the writer Paul Starobin has recently asked? Starobin has written a new book, Madness Rules the Hour: Charleston, 1860, and the Mania for War, in which he revisits the old thesis that the secession moment represented a “crisis of fear” that led tragically to disunion and war. Psychologically and verbally, in the comment sections on the internet, and in talkshow television, we are a society, as Starobin shows, already engaged in a war of words. And it has been thus for a long time. Americans are expressing their hatreds, their deepest prejudices, and their fierce ideologies. It remains to be seen whether we have a deep enough well of tolerance and faith in free speech to endure this “catharsis” we seem to seek.“

A Most American Terrorist: The Making of Dylann Roof

Was auch dabei herauskommt, wenn eine Nation zu viel Hass und Angst in sich trägt. Ein Longread, der sich netterweise nicht nur mit dem Täter, sondern auch seinen Opfern befasst.

„I had come to Charleston intending to write about them, the nine people who were gone. But from gavel to gavel, as I listened to the testimony of the survivors and family members, often the only thing I could focus on, and what would keep me up most nights while I was there, was the magnitude of Dylann Roof’s silence, his refusal to even look up, to ever explain why he did what he had done. Over and over again, without even bothering to open his mouth, Roof reminded us that he did not have to answer to anyone. He did not have to dignify our questions with a response or explain anything at all to the people whose relatives he had maimed and murdered. Roof was safeguarded by his knowledge that white American terrorism is never waterboarded for answers, it is never twisted out for meaning, we never identify its “handlers,” and we could not force him to do a thing. He remained inscrutable. He remained in control, just the way he wanted to be.

And so, after weeks in the courtroom, and shortly before Dylann Roof was asked to stand and listen to his sentence, I decided that if he would not tell us his story, then I would. […]

Dylann Roof was educated in a state whose educational standards from 2011 are full of lesson plans that focus on what Casey Quinlan, a policy reporter, said was “the viewpoint of slave owners” and highlight “the economic necessity of slave labor.” A state that flew the Confederate flag until a black woman named Bree Newsome climbed the flagpole and pulled it down. A place that still has a bronze statue of Benjamin Tillman standing at its statehouse in Columbia. Tillman was a local politician who condoned “terrorizing the Negroes at the first opportunity by letting them provoke trouble and then having the whites demonstrate their superiority by killing as many of them as was justifiable…to rescue South Carolina from the rule of the alien, the traitor, and the semi-barbarous negroes.”

Roof is what happens when we prefer vast historical erasures to real education about race. The rise of groups like Trump’s Republican Party, with its overtures to the alt-right, has emboldened men like Dylann Roof to come out of their slumber and loudly, violently out themselves. But in South Carolina, those men never disappeared, were there always, waiting. It is possible that Dylann Roof is not an outlier at all, then, but rather emblematic of an approaching storm.“

Kunst gucken: „Artige Kunst. Kunst und Politik im Nationalsozialismus“, Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg

Die Ausstellung wurde ab November 2016 in Bochum gezeigt und wanderte dann nach Rostock. Eigentlich sollte sie auch in Wrocław, dem ehemaligen Breslau, gezeigt werden, aber der Vertrag der dortigen, liberalen Museumsdirektorin wurde nicht verlängert, und ihr Nachfolger sagte die Ausstellung ab. (Kat. Ausst. Bonn 2016, 9)

Unser Rosenheim-Seminar besuchte die Ausstellung in Bochum (ich war leider nicht dabei) und war wenig begeistert. Kommilitoninnen bestätigten die Rezension in der Zeit, wonach man erstmal großformatige KZ-Bilder betrachten musste, bevor man die eigentlichen Bildwerke zu sehen bekam. Als ob man Besucher*innen noch mal dringend erklären müsste, was zwischen 1933 und 1945 geschah, bevor sie biederen Abbildungen von Bauernfamilien und pseudo-dynamischem Jungvolk ausgesetzt sind.

Auf der oben verlinken Website aus Rostock kann man ein paar Blicke in die Ausstellung werfen, was ich spannend fand, denn auch ich habe sie nun endlich gesehen: im Kunstforum der Ostdeutschen Galerie in Regensburg, wo sie noch bis zum 29. Oktober gezeigt wird. Die Hängung ist an allen drei Orten unterschiedlich, was natürlich schon den räumlichen Begebenheiten geschuldet ist, aber anscheinend hat man die Werke auch jedesmal neu gruppiert; zumindest sehe ich kleine, aber nicht unwichtige Unterschiede zwischen Rostock und Regensburg.

In Regensburg muss man nicht erst Bilder aus Bergen-Belsen sehen; die hängen zwar auch gleich im ersten Raum, sind aber relativ kleinformatig. Die erste Bildpaarung, die man sieht, ähnelt dem Titelblatt des Katalogs: Links hängt Sepp Happs Über allem aber steht unsere Infanterie (1943), rechts Alexej von Jawlenskys Mädchenbildnis (1909). Und damit beginnt auch schon mein Problem mit dem generellen Ausstellungskonzept. Die Gegenüberstellung von ideologischer NS-Kunst und … hier musste ich etwas überlegen, bevor ich mich für die folgende Formulierung entschieden habe … irgendeinem Bild, das keine ideologische NS-Kunst ist, finde ich arg billig. Vor allem, weil Jawlenskys Werk nicht mal annähernd zwischen 1933 und 1945 entstanden ist. Wenn man schon dringend die ideologische NS-Kunst in einen Kontext setzen will, dann wenigstens in einen, der eine gewisse Zeitgleichheit aufweist. So steht man entspannt vor dieser Bildpaarung und kann schaudernd den ollen Nazikram doof finden und den Jawlensky richtig und schön und alles. (Ist er ja auch.) Aber damit macht es sich die Ausstellung halt viel zu einfach und ist keinen Schritt weiter als diverse andere Ausstellungen von NS-Kunst vor ihr. Einen kurzen und guten Überblick über diese bekommt man im Katalog, den ich eben verlinkt habe; bei der Bundeszentrale für politische Bildung kostet er gerade 7 Euro. Die sind gut angelegt. Darin ist auch Elk Ebers Die letzte Handgranate (1937) vom Titel abgebildet, das ich gerne gesehen hätte, das in Regensburg aber leider nicht hing.

Ich schrieb das bestimmt schon gefühlte hundert Mal in diesem Blog, dass es „die NS-Kunst“ nicht gibt, weil es keinerlei Vorschriften der Machthaber gab, wie NS-Kunst auszusehen habe, höchstens welche, wie sie nicht auszusehen habe. Wenn man heute „NS-Kunst“ sagt, haben die meisten vermutlich genau die Bilder vor Augen, die es in Bochum, Rostock und Regensburg zu sehen gibt: die Herrenmenschen in blond und blauäugig mit überzeichneten Vorstellungen von männlichen und weiblichen Idealmaßen, bei denen die Jungs immer aussehen wie Bodybuilder, die nicht wussten, wann sie mit den Drogen aufhören sollten, und bei den Mädels herrschen gebärfreudige Becken, adrette Frisuren und eine eher kleine Oberweite vor, da spannt dann auch die BDM-Bluse nicht so. Dass diese Bilder nur einen winzigen Teil der Werke bildeten, die in der Großen Deutschen Kunstausstellung (1937–1944) zu sehen war, wird gerne vergessen.

„Artige Kunst“ zeigt immerhin noch ein bisschen mehr, und damit höre ich auch auf zu meckern, denn für mich war der Erkenntnisgewinn trotz aller Vorhersehbarkeit und ollem Konzept groß. Man beginnt in Regensburg, wie gesagt, mit Happ/Jawlensky und einigen Fotodokumenten nach der Kapitulation, darunter auch Fotos von Richard Peter sen. wie das schreckliche Das Lächeln des Wahnsinns (1945/46). Blickt man in den zweiten Raum, ist der dritte bereits sichtbar, wo eine Männerstatue einen anblickt. Mein Kopf meinte „Breker“, war er auch, aber erstmal kam ein Raum namens „Der genormte Mensch“. Dort hingen teils klassische, teils bürgerliche Motive in der NS-Interpretation.

Über Ivo Saliger kann ich einfach nur mit den Augen rollen, aber seitdem ich seine Bilder erstmals im Original und nicht nur als winzige Katalogabbildung gesehen habe, weiß ich besser, warum. An seiner Madonna mit Jesuskind (1938/41) blieb ich nicht lange hängen, das war schlicht langweilig. Aber Das Urteil des Paris (1939) sowie Die Rast der Diana (1939/40) sah ich mir länger an. Wenn Adolf Ziegler als „Meister des deutschen Schamhaars“ verspottet wird, möchte ich Saliger als „Meister des deutschen Warzenhofs“ ergänzen. Da hat der Herr sich schon sehr große Mühe gegeben. Ich fand es spannend, diese beiden recht bekannten Bilder im Original sehen zu können und las mir brav die Wandtexte durch. Die sprachen bei Saliger von einer „deckend schlichten Malweise“ und auf einmal fiel mir auf, warum mich Saligers Werke immer so nerven. Sie sehen genauso totgepostet aus wie heutige Anzeigen, an denen Menschen gebastelt haben, die den Photoshop nicht recht beherrschen. Saligers Werke tun so, als wären sie alte Meister, aber die Haut der Damen ist poren- und faltenfrei, die Posen sind banal, und nicht mal Vorder- oder Hintergrund sind irgendwie aufregend. Die Bilder sehen auf 160 x 200 Zentimeter genauso langweilig aus wie als Katalogbild. Das klingt zwar komisch als große Erkenntnis, aber ich hatte mich ein bisschen davor gefürchtet, alle Bilder im Original auf einmal toll zu finden.

Nochmal kurz zur Madonna: Ich lernte aus den Wandtexten, dass es bis 1941 ganze acht Heiligendarstellungen auf der GDK gab, danach keine mehr. Christliche Motive gehörten nicht zu den gewünschten Motiven der NS-Zeit. Das deckt sich mit meinen Erkenntnissen, die ich bei der Arbeit zu Leo von Welden (1, 2) gewonnen habe.

Im zweiten Raum hing auch noch Hans Schmitz-Wiedenbrücks Familienbild (vor 1939, unter dem Link zu sehen oder hier mit Provenienz). Das hätte, bis auf wenige Details, von Motiv und Malweise her auch aus dem 19. Jahrhundert stammen können. Aus der Bochumer Ausstellung berichteten meine Kommilitoninnen, dass an den „NS-Bildern“ kleine Aufkleber mit der Aufschrift „Artige Kunst“ (natürlich in Fraktur) befestigt waren, und dass die Aufbauenden manchmal nachfragen mussten, an welche Bilder der Aufkleber denn soll – das war anscheinend nicht immer sofort ersichtlich. Mir ging es einen Raum weiter so, dass ich beim schnellen Rundumblick bei einigen Werken dachte, jo, NS-Zeit, aber falsch lag. Soviel zum Thema „So sieht NS-Kunst aus, total eindeutig, das Zeug“. Beim Familienbild kann man die weiße Bluse und den braunen Rock des Mädchens links als BDM-Uniform lesen, und die Jacke des kleinen Jungen links sieht auch ein bisschen nach Uniform aus – es könnte aber auch eine Jägerjoppe sein. In der Abbildung erkennt man nicht, dass der Farbauftrag recht fein und lebhaft ist; ich starrte lange auf die rote Decke auf der Bank rechts im Bild und mochte generell die Stofflichkeit gerne. Und so begann schon im zweiten Raum bei mir der innere Kampf zwischen „Da gucke ich jetzt total unbeteiligt als Profi drauf“ und „Verdammt, das Bild hat einen gewissen Reiz, den ich gerade wegargumentieren will, damit ich mir nicht nachsagen lassen muss, Nazischeiß gut zu finden“. Ich fand das Bild nicht gut im Sinne von „Muss ich dringend über der Couch hängen haben“, aber ich konnte es auch nicht so doof finden wie die Saligers. Ein Propagandaplakat für „Gesunde Eltern – gesunde Kinder“ der NS-Volkswohlfahrt sorgte dann wieder für Kontext, wovon ich wieder genervt war. Ja, ich weiß, warum das Ding da hing (NS ist böse, nur falls das jemand bereits im zweiten Raum wieder vergessen haben sollte), aber das war echt Didaktik für Dummies.

Im dritten Raum stand dann wie gesagt eine Breker-Statue, die sogar noch halbwegs manierlich aussah und nicht wie die Drogenmuckijungs. Als Kontrast stand hier zum Beispiel die zarte Hungernde (1925, untere Bildreihe rechts) von Karel Niestrath, die man ein paar Räume weiter auf einem Foto zur Feme-Ausstellung „Entartete Kunst“ wiedersah. Das mochte ich gern, dass man Objekte in einem Zeitkontext wiederfinden konnte. Ich weiß nur gerade selber nicht, warum mich der Hinweis auf die Aktion „Entartete Kunst“ weniger nervte als die Volkswohlfahrt und die KZ-Bilder. Auch das war eine Erkenntnis der Ausstellung, die ich schon im Saal 13 der Pinakothek der Moderne hatte: Ich habe dieses ganze Forschungsfeld immer noch nicht fertig durchdacht. Immer wenn ich denke, jetzt weiß ich, wie ich selbst mit diesen Werken umgehen soll, will, muss, ändert sich wieder irgendwas. Vielleicht bin ich in drei Jahren nach der Diss irgendwo angekommen.

Ich erspare euch jetzt eine Aufzählung alle Werke, sondern lege euch die Ausstellung einfach ans Herz. Was für mich persönlich noch wichtig war: der Gesamteindruck von mehreren Werken aus der NS-Zeit in einem Raum. Das Problem an NS-Kunst, wenn man sich mit ihr wissenschaftlich befassen will: Sie wird nirgends gezeigt. Würde ich über die klassische Moderne promovieren wollen, könnte ich in so ziemlich jedes Museum des 20. Jahrhunderts gehen und einen kleinen Einblick bis großen Überblick bekommen. Bilder aus der NS-Zeit hängen in wenigen Exponaten in historischen Museen in Berlin und Nürnberg und jetzt eben auch in München, aber das war’s. Alle Bilder, die ich bisher als „klassische NS-Kunst“ kannte, kenne ich nur aus Abbildungen. Deswegen war der Besuch in Regensburg so lohnend für mich, weil ich endlich viele Originale sehen konnte – aber eben auch zwiespältig. Meine erste Reaktion per DM an F. lautete sinngemäß, toll, unbedingt angucken – was nicht heißt, dass da nur gute Kunst hängt, die man dringend sehen muss, sondern es heißt, es war für mich persönlich wichtig und aufschlussreich, sie gesehen zu haben. Aber ich merke bei jedem Satz, dass es ziemlich dünnes Eis ist, auf dem ich mich bewege.

Das fiel mir besonders in der Mittelhalle des Museums auf, wo zwar auch ein paar Werke hingen, die als Korrektiv wirkten, aber die Hälfte des Raumes bis zum Raumteiler war mit NS-Kunst bestückt, und es fühlte sich ganz kurz so an, als würde ich in einer GDK stehen. Das kannte ich noch nicht, dieses Gefühl: So könnte sich das damals angefühlt haben. Und zum ersten Mal wurde mir auch klar, warum der NS-Kunst bis heute eine gewisse Verführungskraft zugesprochen wird. Ich habe da dennoch gleich ein dickes „Aber“.

Im Raum hängen direkt nebeneinander an drei Wänden zwei Kriegsmotive (Claus Bergens Im Kampfgebiet des Atlantik (vor 1941); Michael Mathias Kiefers Die Wacht (Seeadler, 1940)), zwei Motive, die sportlich-gestählte Menschen zeigen (zum Beispiel Albert Janeschs Wassersport (vor 1936)), sowie ein paar Landschafts- und Bauernmotive. Eines davon war für mich wieder spannend: Paul Junghanns Pflügen (1940). Es zeigt einen Bauern, der hinter einem Pflug geht, der von drei Pferden gezogen wird. Der Horizont ist niedrig, das Bild gelblich-bräunlich, es sieht aus wie späte Abendsonne, eigentlich völlig unaufregend. Das Format entspricht allerdings überhaupt nicht den üblichen bäuerlichen Abbildungen, die man aus dem 19. Jahrhundert kennt – es ist mit 150 x 245 cm recht großformatig. Hier sieht man es im Kontext der GDK 1940, wo es neben weiteren bäuerlichen Bildnissen hängt und immer noch recht unaufregend wirkt. Aber in einem Raum, wo nebenan ein U-Boot durch ein bewegtes Meer pflügt und kleinpimmelige Herrenmenschen ihre Körper für den Kampf stählen, bekommt es einen sehr unheimlichen Beigeschmack. Und schon haben wir die gewollte Gruselstimmung: Guckt mal, wie schlimm NS-Kunst ist.

Aber, und hier kommt das Aber: Mit dieser Hängung schafft die Ausstellung eben auch einen Kontext, den die Bilder zur damaligen Zeit nicht hatten. Wie schon beschrieben, hing Pflügen neben anderen bäuerlichen Szenen und eben nicht zwischen U-Booten und Turnern. Wenn man sich mal durch die Säle der GDK klickt, was man auf GDK-Research ganz wunderbar machen kann, sieht man, dass recht themenzentriert gehängt wurde: hier die weiblichen Akte und die Blümchen, da die Kruppstahl-, Windhund- und Lederjungs, hier die Bauernstuben, dort die Tierporträts und irgendwann dann Kriegsbilder (gerne mit Landschaften kontrastiert wie Leo von Weldens Vormarsch in Norwegen (1941)). Die heutigen Ausstellungen zeigen durch ihre Werkauswahl und -kombination schlicht ein falsches Bild, um einen längst überholten Forschungsstand zu illustrieren. Und das nehme ich der Schau wirklich übel.

Wieder zum Positiven: Auch wenn ich die Hängung problematisch und die Idee doof finde, NS-Kunst mit Nicht-NS-Kunst zu kontrastieren, war es natürlich schön, zusätzlich zum Nazikram einige Werke der klassischen Moderne zu sehen, die ich noch nicht im Original kannte. Sehr gefreut habe ich mich über Komposition (1939/40) von Otto Freundlich aus dem Besitz der Ostdeutschen Galerie. Freundlichs Skulptur Der neue Mensch wurde in einer bösartig verzerrten Fotografie für das Titelbild des Katalogs zur Ausstellung „Entartete Kunst“ missbraucht. Gern gesehen habe ich auch Carl Grossbergs Brücke über die Schwarzbachstraße in Wuppertal (1927, im Link zu sehen); Grossbergs neusachliche Darstellung von Großstädten mag ich sehr gerne. Ich mag allerdings ebenso gerne Carl Theodor Protzens Straßen des Führers (vor 1940), und da sind wir dann wieder bei den Ambivalenzen, mit denen ich die ganze Zeit zu kämpfen habe. Selber schuld, ich weiß. Hätte ich mich mal auf feministische Kunst der 1970er Jahre spezialisiert, aber nein, es musste ja Nazischeiß sein.

Auch gefallen hat mir in Regensburg der Lokalbezug. In der Ausstellung waren einige Werke zu sehen, die nicht im gemeinschaftlichen Katalog abgebildet sind. So gefielen mir drei großformatige Grafiken (Ende 1940er Jahre) von Max Radler, die sich im Besitz der Ostdeutschen Galerie befinden, auf denen er sich mit der angeblichen Entnazifizierung nach 1945 befasst. Auch spannend: ein 13-minütiger Farbfilm über die GDK 1943, in der ein für mich aufschlussreicher Satz fiel: Die künstlerischen Werke der GDK seien „Dokumente unseres Wesens, um das wir kämpfen“. So hatten eben auch die Blumenstillleben und die weiblichen Akte eine Funktion und waren mehr als Deko. Das wusste ich zwar schon vorher, aber jetzt hab ich ein schönes Zitat.

Wenn ich Zeit und Lust habe, gehe ich Ausstellungen gerne noch einmal in umgekehrter Reihenfolge ab, also nicht in der Richtung, in die mich die Kurator*innen schicken. Beim ersten Durchgang fiel mir wie erwähnt der Zehnkämpfer von Breker in einer Blickachse ins Auge. Wenn man aus der anderen Richtung kommt, kann man ebenfalls schon aus der Entfernung in Raum 3 schauen. Dann sieht man allerdings Ossip Zadkines Torse de la Ville détruite (1951). Auch hier quengelte ich zwar innerlich, dass eine Skulptur von 1951 echt nicht in diese Ausstellung gehört, aber der Kontrast zur anderen Blickachse hat mich wieder versöhnt.

Literatur zum Blogeintrag:

Kat. Ausst. Kunst und Politik im Nationalsozialismus. Ruhr-Universität Bochum, Situation Kunst (für Max Imdahl)/Kunsthalle Rostock/Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg, Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn 2016.

Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg (Hrsg.): Erinnerung & Vision. 100 Meisterwerke der Sammlung, Regensburg 2005.

Museum Ostdeutsche Galerie Regensburg (Hrsg.): Von Chodowiecki bis zur Gegenwart. Eine Auswahl aus der Graphiksammlung, Regensburg 1993.

Was schön war, Sonntag, 20. August 2017 – Sonntagsrumsnoozen

Gemeinsam aufgewacht. Vor acht Uhr morgens. „Weißt du noch, als wir bis 10 geschlafen haben?“

Mich darüber gefreut, dass auf der Schellingstraße Baustelle ist und deshalb der 154er Bus von F. zu mir an den Pinakotheken entlangfährt, die ich sonst deutlich seltener sehe.

Schokocroissants mit schwarzem Johannisbeergelee.

Die FAZ von Montag bis Freitag nachgelesen; die von Samstag hatte ich vorgestern geschafft, auf die anderen hatte ich erst gestern Lust. Durch ein Feuilleton wieder eine neue Diss-Idee gehabt; gleich wieder verworfen, aber ich finde es lustig, dass mich in letzter Zeit so viele Themen anspringen, die etwas hergeben würden. Vielleicht waren die schon immer da, aber ich habe sie einfach nicht gesehen.

Grey’s-Anatomy-Rewatch, ich hab ja Zeit.

Radium Girls weitergelesen.

Früh ins Bett gegangen, bei Regen eingeschlafen.

Was schön war und mich komplett sprachlos machte, Samstag, 19. August 2017 – Random Acts of Kindness

Ich bekam am Freitag eine Mail, wie sie öfter bei mir landet: Jemand schreibt mir, wie gut ihm oder ihr mein Blog gefällt, was man davon mitgenommen hat in den letzten Jahren und dass man sich dafür einfach mal bedanken wollte. Derartige Mails freuen mich immer sehr und machen rote Bäckchen und ein dickes Lächeln. In dieser Mail wurde nun aber explizit Bezug auf meinen Blogeintrag genommen, in dem ich meine zweite Selbstbelohnung für das abgeschlossene Studium erwähnte – den geplanten Besuch im Tantris. Ob man mich dabei irgendwie unterstützen könne: „Paypal, Überweisung, Tantris-Gutschein :)“?

Das war neu. Normalerweise schicken mir Leute was vom Amazon-Wunschzettel, und auch darüber freue mich mich immer sehr. Dass mir jemand Geld schicken wollte, kannte ich persönlich noch nicht, obwohl ich natürlich weiß, dass andere Blogs sich so unterstützen lassen. Also verschickte ich gestern meinen Paypal-Link und versprach, das Geld nur ins Tantris und sonst nirgends hinzutragen.

Längerer Einschub: Ich denke ernsthaft seit gestern abend darüber nach, ob ich den Link hier verbloggen soll oder nicht. Es sieht jetzt gerade im Kontext dieses Eintrags ein bisschen danach aus, als ob ich meine Leser*innen dringend darauf hinweisen möchte, dass man mir natürlich neben netten Worten und Büchern auch cold hard cash schicken kann. Eigentlich will ich diesen Eindruck nicht vermitteln – deswegen ist dieses Blog auch nach 15 Jahren werbefrei bis auf die Amazon-Affiliate-Links, über deren Erträge meine Steuerberaterin vermutlich immer die Augen rollt. (Ja, ich gebe die in der Steuererklärung an. Ich sehe mich als Autorin, ich autoriere hier lustig vor mich hin und deshalb werden die winzigen Erträge dieses Blogs genauso angegeben wie alles, was durch Werbetexte oder andere schriftliche Aufträge reinkommt. Das war jetzt ein Einschub im Einschub, sorry.)

Zurück zum „eigentlich“: Eigentlich siehe oben, aber andererseits eben genau das Gegenteil. Meine Website wird von einem netten Menschen seit Monaten im Hintergrund umgebaut, weil ich allmählich nicht mehr möchte, dass mein Blog als erstes erscheint, wenn man meinen Namen googelt. Ich würde gerne zunächst als Kunsthistorikerin, Werbetexterin und Autorin sichtbar sein, bevor man liest, was ich gestern zum Abendbrot hatte und über was ich mich dieses Mal in der Einlasstraube der Allianz-Arena aufgeregt habe. Auf der neuen Startseite habe ich auch Links zu Paypal und Patreon vorgesehen, mit denen man meine Arbeit unterstützen kann. Denn trotz all dem persönlichen Vergnügen, den mir dieses Blog macht, ist es natürlich auch Arbeit. Arbeit, die ich freiwillig erledige und dazu auch noch bemerkenswert regelmäßig UND mit annähernd perfekter Rechtschreibung. (Mehr geht seit der Reform bei mir nicht mehr. „Annähernd“ ist meine Messlatte.) Andere Content-Produzierende (oder wie Casey Neistat so schön sagt: creators) machen das ähnlich, und daher fand ich diesen Weg für mich ebenfalls geeignet: Man muss mich nicht abonnieren, man kann weiterhin alles umsonst lesen, es wird weiterhin keine Bezahlschranke oder Werbung geben, aber wer mich anders unterstützen möchte als mit einem Buch, der kann das demnächst tun.

Deswegen lag der Paypal-Link hier griffbereit rum. Und damit zurück zur Mail vom Freitag:

Ich erwartete ehrlich gesagt irgendwas in der Höhe eines Buchs – und war deshalb mehr als erschrocken, erstaunt, fassungslos und ein bisschen überfordert, als mir Paypal eine Mail schickte mit der Summe, die mir gerade überwiesen worden war. Ich behalte den genauen Betrag mal für mich, aber er reicht inklusive Trinkgeld großzügig für das derzeit angebotene Gourmet-Menü im Tantris – das mit den besonderen Weinen, auf die ich so scharf bin. Ich ahne, dass auch die reguläre Weinbegleitung keine Plörre aus dem Tetrapak ist, aber ich freue mich fast mehr auf die Weine als auf das Essen. Das ist jetzt alles von einer Leserin finanziert worden, und ich bin auch einen Tag später immer noch sprachlos. Ich habe mich natürlich schon per Mail bedankt, aber ich mache das hier nochmal. Vielen Dank für dieses unglaubliche Geschenk, ich habe mich so sehr gefreut, dass ich nur noch hysterisch brabbelnde DMs an F. schicken und weinerliche Tweets absetzen konnte.

Den Tisch haben wir heute morgen reserviert. Wir werden wenige Tage, bevor mir die Master-Urkunde überreicht wird, fürstlich tafeln und trinken. Das ist fast auf die Woche genau fünf Jahre, nachdem ich meine erste Vorlesung an der LMU hatte.

Was schön war, Freitag, 18. August 2017 – Saisoneröffnung

Vormittags traf ich mich mit einer Bekannten, die ich, wenn ich mich richtig erinnere, nur zweimal persönlich in Hamburg gesehen hatte; seitdem folgen wir uns auf diversen sozialen Kanälen, und jetzt war die Dame halt in der Stadt und hatte mich gefragt, ob ich Lust auf ein kurzes Treffen hätte zwischen Kinderferienprogramm und beruflichen Verpflichtungen. Hatte ich. Wir saßen bei Tante Emma, genossen Milchkaffee und diskutierten augenrollend Politik, bis uns auffiel, dass wir ja mal über was Nettes sprechen könnten: „München?“ „München!“

Danach radelte ich zur Unibibliothek, wo ein Buch auf mich wartete. Ich hatte mich an Irmtrud Wojaks Biografie über Fritz Bauer etwas verhoben; das Buch ist zwar irrsinnig ausführlich, aber genau das macht es nicht so recht lesbar. Wenn ich eine Hausarbeit über Herrn Bauer schreiben müsste, wäre das Ding perfekt, weil ich querlesen und nach Stichworten suchen könnte, ein Lesevergnügen ist es allerdings nicht. Daher versuche ich es jetzt mit Ronen Steinkes kürzerem Werk, das mir ein freundlicher Follower auf Instagram empfohlen hatte.

Bei der Buchabholung kam ich mir etwas seltsam vor, denn ich bin ja im Prinzip mit dem Studium fertig. Irgendwie fühlte ich mich nicht mehr richtig zugehörig. Das ändert sich hoffentlich wieder, wenn mein Ausweis zum Promotionsstudium im Briefkasten liegt.

Zuhause wartete im E-Mail-Postfach die offizielle Bestätigung, dass ich meine Masterprüfung bestanden hätte und mir nun entweder mein Zeugnis im Prüfungsamt abholen oder es mir im Oktober feierlich überreichen lassen könnte. Ich nehme den Oktober. (Und stecke mir dann die vorgestern gekaufte Absolvente in die Hosentasche.)

Abends fuhr ich in die Allianz-Arena, wo der FC Bayern die neue Bundesligasaison gegen Leverkusen eröffnete.

Ich teile mir in dieser Saison eine Dauerkarte für den FC Augsburg und wollte daher eigentlich gar nicht mehr in die Allianz-Arena, auch aus finanziellen Gründen. Der ehemalige Mitbewohner, mit dem ich vorgestern einen kleinen Powerlunch eingelegt hatte, mochte aber seine Dauerkarte nicht nutzen und fragte, ob ich vielleicht … und als er fragte, merkte ich, dass ich doch große Lust hatte.

Gestern waren es tagsüber in München über 30 Grad, für den Abend waren aber eine Abkühlung auf unter 20 Grad sowie Gewitter und Regen angesagt. So zog ich feste Schuhe und Hosen an anstatt Rock und Sandalen, die für 30 Grad eindeutig passender waren, und schleppte meine Regenjacke mit, die ich bisher nur beim Walken im Frühjahr bei Nieselregen angetestet hatte. Ich stellte befriedigt fest, dass das traditionelle Stadion-Suhrkamp perfekt in die Innentasche passte. Beim FCA darf man noch Rucksäcke mit in die Arena nehmen (ich frage mich bei jedem Spiel, wie lange noch), beim FCB seit letzter Saison nicht mehr. Daher habe ich mir angewöhnt, alles in Hosen- und Jackentaschen unterzubringen oder eine kleine, alberne Handtasche über dem Trikot zu tragen, in der Sonnenbrille und Baseballcap Platz finden, die ich vor allem in Augsburg brauche, weil man da bei 15.30-Uhr-Spielen irgendwann halt Sonne abkriegt.

Gestern war es netterweise ein 20.30-Uhr-Spiel, das heißt, ich konnte auf die Tasche verzichten und stopfte mir Labello, Asthmaspray, Schüsselbund, Dauerkarte und Allianz-Arena-Bezahlkarte (die ich nie benutze) in die eine Hosentasche sowie das iPhone in die andere. In der hinteren Hosentasche landeten ein Notfallgeldschein sowie Perso, Studiausweis und Semesterticket, die man zusammen vorzeigen muss, damit das Semesterticket gilt. Nicht, dass ich jemals auf dem Weg ins Stadion kontrolliert worden wäre, aber man weiß ja nie.

Ich erwischte eine halbwegs leere Bahn am Sendlinger Tor und genoss Sitzplatz und Suhrkamp. Beim Weg die Esplanade hoch hielt ich vergeblich Ausschau nach den neuen Pollern, die dafür sorgen sollten, dass man nicht mit dem Auto auf eben diese Esplanade fahren kann, was ja gerade wieder fürchterliche Aktualität hat. Als ich am Stadion ankam, war ich latent angeschwitzt, aber richtig schwitzte ich erst in der anscheinend unvermeidlichen Schlange an den Einlasstoren. Dieses Mal stand ich hinter zwei Herren, die Sonnenblumenkerne kauten und die Schalen irgendwie seitlich-rückwärts wegspuckten. Der eine von beiden hatte sich für diese Tätigkeit seinen Kaugummi hinters Ohr geklebt.

Ich drängelte mich elegant in eine andere Schlange.

Eine knappe Viertelstunde vor Anstoß war ich am Platz. Eigentlich war ich latent genervt von der Hitze und dem ollen Einlass, aber sobald ich saß, meinen üblichen Dauerkartennachbarn zur Rechten begrüßt und einen neuen Nachbarn zur Linken festgestellt hatte, mich umschaute und durchatmete und ankam und die Stadionregie netterweise (zunächst) nicht das beknackte Forever Number One, sondern Diese Tage voller Sonne spielte, merkte ich doch, wie groß die Freude darüber war, wieder hier sitzen zu können.

Den Spielbericht schenke ich mir; erwähnenswert war aber dann doch das Gewitter sowie der starke Regen, der Ende der ersten Halbzeit einsetzten. Zunächst wurde es deutlich windiger, was mir kleinem verschwitzten Wuschel sehr gut gefiel. Dann wurde es schlagartig kühler und ich überlegte noch, ob ich mir die Jacke anziehen sollte, als die ersten Tropfen mich erwischten, die blitzschnell zu Dauerregen wurden. Normalerweise ist der Mittelrang halbwegs sicher, auch wenn mal Regen reinweht. Ich sitze in der ersten Reihe, weswegen ich damit rechnete, etwas abzubekommen, aber auf diese Massen an Wasser war ich nicht vorbereitet. Der Unterrang flüchtete nach wenigen Sekunden ins trockene Arena-Innere und füllte sich auch bis Spielende nicht mehr so recht, der Oberrang hatte es warm und gemütlich – und meine Mitsitzer und ich waren mittendrin. Ich stellte befriedigt fest, dass meine Regenjacke absolut dicht hielt. Meine Hosen waren allerdings relativ schnell nass, aber: Die lustigen Zaunfahnen bzw. Transparente, die an den Rängen befestigt waren, wurden nun zweckentfremdet. Sie wehten eh die ganze Zeit hoch, so dass wir sie irgendwann nach innen rollten und als perfekte Regendecke nutzten. Fünf Minuten vor der Pause wurde der Regen allerdings so stark, dass sich auf ihnen in Sekunden der Regen sammelte; ich konnte sie kaum noch halten und auch meine Kapuze war dauernd dabei, weggeweht zu werden, also trat ich den Gang ins Innere an wie meine Nachbarn auch.

Die zweite Halbzeit begann mit einer Viertelstunde Verspätung. Die Südkurve – jedenfalls der männliche Teil davon – war längst oberkörperfrei und sang bei prasselndem Regen „Oh, wie ist das schön“. Die Stadionregie brauchte ewig, um wenigstens „Why does it always rain on me“ anzuspielen, und erst kurz vor dem Wiederanpfiff kam endlich „Thunderstruck“. Das geht noch besser, Kinnings.

Ich gehöre seit letzter Saison zu den Leuten, die sofort mit Abpfiff aus dem Stadion gehen und nicht mehr beim Bierchen darauf warten, dass die U-Bahnen leerer werden. Ich habe nämlich gemerkt, dass man auch so prima einen Sitzplatz kriegt, wenn man zuguckt, wie auf dem einen Bahnsteig die Bahnen halten und sich dann auf dem gegenüberliegenden genau an der Stelle platziert, wo die Türen sich öffnen werden. Man wartet, wenn’s hochkommt, fünf Minuten, steht direkt an der Tür, wenn die nächste Bahn einfährt und kommt entspannt rein. Gestern klappte auch der Umstieg in den Bus (statt U-Bahn wegen Baustellenarbeiten) auf die Sekunde genau, und ich war ebenso entspannt zuhause. Allerdings gleichzeitig verschwitzt und nass. Egal. Schön war’s.

Ein kühles Dankeschön …

… an Holgi, der mich mit einem Flaschenzubereiter für Cold Brew überraschte. Auf das Produkt hatte der gute Mann mich selbst hingewiesen und meinte per Twitter, dass ich es doch mal auf meinen Wunschzettel schmeißen sollte. Hab ich gemacht – und eine Minute später war er gekauft. Der Schlingel!

Ich finde die Flaschenform, die prima in die Kühlschranktür passt, ziemlich clever. Der Aufsatz aus Weichplastik ist zwar etwas gewöhnungsbedürftig, man kann ihn aber gut benutzen und reinigen, und weil er eben ein Aufsatz ist, kann man auch die Flasche, die dadurch eine große Öffnung hat, vernünftig putzen anstatt mit den ollen Flaschenbürsten arbeiten zu müssen, denen ich irgendwie misstraue. Ich muss jetzt nicht mehr versuchen, meine French Press irgendwie im Kühlschrank unterzubringen, sondern stelle einfach die Flasche in die Tür. Das klappt sehr gut – während ich den Blogeintrag von eben schrieb, genoss ich den ersten wohlschmeckenden Cold Brew aus eben dieser Flasche. Vielen Dank für das Geschenk, ich habe mich sehr gefreut. *schlürf*

Was schön war, die letzte Woche – Kunst und Kleinkram

Letzten Donnerstag fuhr ich nach Regensburg, um mir die Ausstellung Artige Kunst. Kunst und Politik im Nationalsozialismus anzuschauen. Auf der Zugfahrt dorthin schaffte ich die komplette FAZ, und auf der Rückfahrt las ich die Radium Girls weiter, während von draußen akustisch angenehm der Regen auf den Zug prasselte. Im noch trockenen Regensburg ließ ich mich per Bus in die Ostdeutsche Galerie chauffieren und sah aus dem Fenster eine vielversprechende Altstadt, die ich dringend besichtigen möchte. Eigentlich wollte ich die Ausstellung gleich am nächsten Tag verbloggen, aber man kommt ja zu nichts, denn:

Am Wochenende beschäftigten mich die Vorfälle in Charlottesville, was natürlich überhaupt nicht schön war – leider aber auch nicht großartig überraschend, wenn man sich mal für fünf Sekunden mit den Südstaaten beschäftigt hat. Ich hatte mir vor Monaten und dann immer wieder vorgenommen, nicht mehr über Trump zu twittern, weil es nichts bringt, weil ich hier in Deutschland eh nichts an seiner Politik ändern kann, aber Charlottesville hat mich zu sehr belastet, um nicht ein paar Artikel zu teilen, die ich lesenswert oder nachdenkenswert fand. Wobei ich immer noch nicht weiß, ob das die richtige Taktik ist, mit Stress umzugehen. Vielleicht wäre die Idee, bei jedem schlimmen Vorfall eine Woche Internetfasten einzuschieben, auch sinnvoll, um dann mit Abstand die guten Think Pieces zu erwischen. Andererseits kann man dann vermutlich auch gleich den Rechner einmotten, weil immer irgendwas schlimm ist.

Ich war wieder gleichzeitig dankbar für Twitter, weil man schnell mitbekam, wie sich Dinge entwickelten; ich folge vielen amerikanischen Medien bzw. einigen Journalist*innen, die nicht unbedingt sofort alles als BREAKING raushauen, daher fühlte ich mich gut informiert, aber nicht überfordert. Gleichzeitig bekam ich natürlich auch viele emotionale Tweets mit, Bilder, von denen recht schnell klar war, dass sie nicht aus Charlottesville stammten und die dann trotzdem ewig retweetet wurden, der übliche Twitter-Kreislauf halt. Das nervte dann wieder, und allmählich verliere ich die Geduld mit Social Media, weil es immer so weiter geht und wir alle anscheinend nie etwas dazulernen.

Am Montag saß ich im ZI und wollte eigentlich über die NS-Ausstellung schreiben, schleppte aber spontan alles, was ich zu Südstaaten-Denkmälern finden konnte, an den Platz und las (und bloggte anschließend darüber). Nebenbei blätterte ich in (älteren) Katalogen, die sich explizit mit Schwarzen Künstler*innen und ihren Werken beschäftigen, was ähnlich doof ist wie Ausstellungen, in denen nur Kunst von Frauen hängt, weil es sich immer anfühlt wie „Seht her, die können das auch, wer hätte es gedacht“. Es war nötig, dass man irgendwann solche Ausstellunge machte, einfach um andere Namen in den Kanon zu kriegen, aber es hatte – und hat – einen sehr gönnerhaften Beigeschmack.

Ich bin auch noch nicht fertig zu durchdenken, dass von Schwarzen Künstler*innen anscheinend eher erwartet wird, sich mit Sklaverei und der spezifisch schwarzen Geschichte der USA zu befassen. Genau wie Kunst von Künstlerinnen gerne als explizit feministisch hingestellt wird. Ich glaube, beides ist falsch, aber ich kann mich selbst auch irrsinnig schwer von solchen Erwartungen und Zuschreibungen lösen. Auch deswegen gucke ich inzwischen immer in Ausstellungen erst auf die Werke und versuche mir selbst ein Bild zu machen, bevor ich auf den Aushang schaue, auf dem steht, was ich da gerade sehe. Und trotzdem erwische ich mich noch dabei, Quatsch zu denken wie „Ach, ne Frau, klar, das Bild sieht ja auch so aus.“ Blödsinn. Doofer Blödsinn. Ich hoffe, alleine die Tatsache, dass mir bewusst es, dass es Blödsinn ist, bringt mich irgendwann dazu, neutraler auf Bilder schauen zu können. Andererseits weiß ich natürlich auch, dass man nie ganz neutral auf Kunst gucken kann, weil man Erwartungen, Erlebnisse, Erziehung und Konditionierungen mitbringt, die in den angeblich ganz individuellen Blick hineinspielen.

Ansonsten verbringe ich meine Tage derzeit damit, Akquise zu machen und schreibe so ziemlich jede Kollegin an, mit der ich mal zusammengearbeitet habe, um der Werbewelt wieder mitzuteilen, dass man mich wieder länger buchen kann. Das hat auch schon zu netten Mailantworten und Telefonaten geführt sowie zu zwei Anfragen, aus denen zwar leider nichts geworden ist, die aber beide von Agenturen kamen, für die ich noch nie gearbeitet hatte. Da hat anscheinend schon jemand mal meinen Namen fallengelassen, was mich sehr gefreut hat.

Ich hoffe, der erste anständige Auftrag lässt nicht mehr allzu lange auf sich warten, denn meine Selbstbelohnungen für das abgeschlossene Studium warten. Den ersten Teil habe ich gestern schon erledigt und mir endlich die Absolvente gekauft – ein Quietscheentchen mit dem LMU-Siegel auf dem Doktorhut. Auf die habe ich mich seit fünf Jahren gefreut und ich grinse jetzt immer, wenn ich sie im Bad sehe.

Der zweite Teil der Selbstbelohnung wird etwas teurer, aber auch auf ihn freue ich mich seit fünf Jahren: Ich möchte endlich ins Tantris gehen, mit Raritäten-Weinbegleitung und allem Schnickschnack, den der Laden zu bieten hat. Ich wäre deutlich entspannter, wenn ich dafür ein bisschen frisches Geld auf dem Konto hätte.

Bis dahin schreibe ich weiter Mails und lungere bei Behörden und Copyshops rum, um meine Bewerbungsunterlagen für das Promotionsstudium zusammenzukriegen. Gestern war ich zum Beispiel im Kreisverwaltungsreferat, um ein polizeiliches Führungszeugnis zu beantragen, das hätte die LMU gerne. Das KVR hat anscheinend ein paar Zuständigkeiten neu ausgewürfelt. Ich hatte mich schon auf drei Stunden Wartezeit wie damals bei der Ummeldung von Hamburg nach München eingestellt und war dementsprechend vorbereitet (Getränk, Snack, FAZ, Radium Girls, voll aufgeladenes iPhone). Am Eingang entdeckte ich netterweise den Hinweis, dass man für ein Führungszeugnis nicht in einem der üblichen Wartebereiche anstehen musste, die sich am Anfangsbuchstaben des Nachnamens orientieren und wo man dann quasi alles beantragen kann, aber eben auch ewig warten muss, weil da alle alles beantragen. Stattdessen wurde ich in einen gesonderten Wartebereich gelotst, bekam von der Dame an der Infotheke eine Nummer anstatt sie am Automaten zu ziehen – und konnte kaum glauben, dass nur fünf Leute vor mir dran waren. In einer knappen Viertelstunde war ich wieder draußen.

Konföderierte Reiterstandbilder im Süden der USA – eine kleine kunsthistorische Annäherung

Gestern twitterte ich einen Artikel aus dem Atlantic, der sich mit den diversen Statuen und Denkmälern von Südstaatengenerälen, vor allem Robert E. Lee, beschäftigt und dafür argumentiert, sie endlich alle abzureißen oder einzumotten. Mich hat die Menge an Denkmälern erstaunt, die anscheinend noch stehen und an die konföderierten Südstaaten des amerikanischen Bürgerkriegs erinnern:

„As of August 2016, there were still more than 1,500 public commemorations of the Confederacy, even excluding the battlefields and cemeteries: 718 monuments and statutes still stood, and 109 public schools, 80 counties and cities, and 10 U.S. military bases bore the names of Lee, Jefferson Davis, and other Confederate icons, according to a tally by the Southern Poverty Law Center. More than 200 of these were in Virginia alone.“

Ich ahne, dass ich nicht mehr erklären muss, in welchem Bundesstaat Charlottesville liegt, das gerade in den Nachrichten Schlagzeilen macht. Ich mach’s trotzdem: Es liegt in Virginia. Virginia ist einer der dreizehn Gründungsstaaten der USA und gehörte im Bürgerkrieg zu den Südstaaten; die Hauptstadt der Konföderation war Richmond (Va). In Richmond wurde recht schnell nach dem Ende des Bürgerkriegs (1861–1865) über ein Denkmal zu Ehren von Robert E. Lee nachgedacht; bereits 1870 begann man mit den Planungen. 1890 wurde das Denkmal in Richmond schließlich eingeweiht; es bildet heute einen Teil der sogenannten Monument Avenue.

Das Denkmal zeigt den General zu Pferd und steht damit in der Tradition eines anderen Reiterstandbilds in Richmond. Es orientiert sich bewusst am Monument von Thomas Crawford, das George Washington zeigt, der ebenfalls zu Pferd skulptiert wurde. (Wenn ich der Wikipedia glauben darf, wurden Teile des Denkmals in München gegossen.) Washington kam aus Virginia; das Standbild betont dann auch eher seine Rolle als Einwohner Virginias anstatt der eines Einwohners der Vereinigten Staaten. Zur Zeit des Baubeginns des Standbilds (1850, fertiggestellt 1869) bestanden bereits große Spannungen zwischen den zukünftigen Nord- und Südstaaten. Um Washington herum wurden nach und nach weitere sechs Einwohner Virginias gruppiert, so dass das Denkmal primär nicht den Staatsgründer Washington zeigt, sondern einen bzw. sieben Kämpfer aus Virginia.

Wie sehr die Betonung auf Virginia und dessen Politik und nicht den USA galt, zeigt auch die Diskussion um die Materialauswahl. Einer der Abgeordneten Virginias fragte, ob Bronze statt Marmor wirklich das beste Material für die Statue sei: „[It] would look like so many negroes.“ Der Künstler Crawford versicherte, dass die Statue durch Nutzung von goldenen Details, zum Beispiel an der Uniform, eine „rich and beautiful color“ bekommen würde; ein Journalist schrieb 1850 im Richmond Enquirer, „pure bronze can never become black.“ Dadurch, dass es eine metallische Verbindung sei, „is it easy for the artist to produce a variety of colors, darker or brighter.“ (McInnis 131) Bronze als Material strahlt zudem mehr Härte und Stärke aus als Marmor, dessen Erscheinung weicher oder sogar weiblicher wahrgenommen wird.

Bei der Einweihung der Statue erklärte Senator James M. Mason: „We have brought the memory of Washington back to Virginia.“ (McInnis 133) Im Vorfeld des Bürgerkriegs betonten Politiker der zukünftigen Südstaaten stets, dass es ihnen nicht darum ging, die Union zu spalten, sondern stattdessen das Vermächtnis der ersten Revolution zu erhalten – ähnlich wie heutige White-Pride-Ideologen sich auf eben diese Revolution beziehen, wenn sie davon sprechen, sich Dinge oder Fakten oder Status zurückzuholen, von denen sie glauben, sie seien verloren.

Das Staatssiegel des konföderierten Virginias zeigte die Statue Washingtons in Richmond. Dass er zu Pferde abgebildet ist, ist kein Zufall. Diese Abbildung erweckt nicht nur Assoziationen an seinen militärischen Kampf gegen die Briten, sondern zeigt schlicht einen Mann, der über anderen steht. Zugleich erinnert die Pose an berittene Aufseher auf Plantagen der Südstaaten, auf denen Millionen von Sklav*innen Zwangsarbeit leisteten. In einem Entwurf zu einen Giebel des neuen State Houses in South Carolina waren neben antikisierten Darstellungen von Frauen auch ein Aufseher zu Pferd sowie gebückt kauernde Sklaven zu sehen. Der Entwurf wurde nie umgesetzt. (Kleiner Exkurs zu den Plantagen: Der Historiker Peter H. Wood schlug vor, nicht mehr das idyllisch konnotierte plantation als Begriff zu nutzen, sondern slave labor camps. (Vlach 24))

Genau diese Art der herrischen Abbildung wurde auch für das Denkmal von Robert E. Lee in Richmond gewählt. Auch er war Kriegsteilnehmer, aber seine Darstellung zu Pferd steht mehr in der Tradition von weißer Vorherrschaft als in der eines Mannes im Militär. Lee war ein Kriegsverlierer, genau wie Jefferson Davis, der Präsident der Konföderierten, von dem kolportiert wird, dass er versuchte, in Frauenkleidern zu fliehen, um sich einer Verhaftung durch die Nordstaaten zu entziehen. Davis konnte also in der Logik der Unterlegenen nicht als Vorbild dienen, weder als siegreicher Präsident noch als jemand, der die klassische Männlichkeit verkörperte. Lee hingegen wurde sehr schnell die irreale Abbildung von alter Südstaatenüberlegenheit, weißer Vorherrschaft und siegreichem Freiheitskampf. Frederick Douglass schrieb bereits 1870: „We can scarcely take up a newspaper … that is not filled with nauseating flatteries of the late Robert E. Lee.“ (Terrono 153) Zur Jahrhundertwende galt Lee anstatt Ulysses S. Grant zusammen mit Abraham Lincoln als eine der wichtigsten Figuren des Bürgerkriegs.

„The fundamental effect of installing Lee als the South’s premier representative was that it depoliticized the Confederacy after the fact. With Lee as the major historical actor, the story of the Lost Cause became a glorious military record rather than a political struggle to secure a slaveholding nation. The white South’s urgent need to dissociate the Confederacy from slavery after the war dictated this strategy of depolitization. […] [Lee] was less vitally attached to the institution than the typical Southern planter and he could more credibly claim afterward that he had not fought to defend it. In the late 1860s he was a living example of the white South’s collective reversal on slavery. His historical role as a leader of soldiers – not a maker of policy – complemented and enhanced that personal example. In some ways he fit the classical mold of the reluctant leader, as George Washington had, and like Washington […] he was thought to be above politics. For all these reasons he was the obvious man to personify a newly revised, newly remembered Confederacy – a Confederacy that pretended to have fought a heroic struggle not for slavery but for liberty, defined as the right of states to self-determination.“ (Savage 131)

Diese Stimmung des reinen Freiheitskampfes hielt nicht lange. Die Reconstruction wurde schnell zurückgedrängt, die Idee von white supremacy erstarkte wieder. Das Lee-Monument in Richmond wurde von der Zeit seiner Enthüllung 1890 bis 1932 der Schauplatz einer jährlichen „Confederate reunion“ und machte vor allem der schwarzen Bevölkerung stets die Rassendynamik und ihre Rolle klar. „In a column at the time of the unveiling, the editor of the Planet answered the question ‚What it means‘ that Richmond had been decorated with emblems of the ‚Lost Cause‘. Contrary to what some Northern papers reported, the Planet said, ‚No flags of the Union ornamented the procession. Only the stars and bars could be seen, the ‚rebel yell‘, under the flag of the secession which waved proudly.‘“ (McInnis 139) 1902 hatte Virginia eine neue Verfassung, die die Zeit der Reconstruction fast vergessen machte und Jim-Crow-Laws etablierte. Spätestens jetzt war die Idee der angeblich freiheitlichen Südstaaten der einer Rassenideologie gewichen bzw. zu ihr zurückgekehrt.

Die Reiterstandbilder blieben als deutliches Symbol für white supremacy weithin sichtbar. Noch 2012 veranstalteten die Sons of Confederate Veterans eine sogenannte Heritage Rally – zu Füßen des Standbilds von Lee in Richmond.

Das Denkmal von Lee in Charlottesville wurde laut Atlantic 1924 eingeweiht. In den 1920er und 1930er Jahren gab es mehrere Kampagnen, in denen im Süden vor allem Lee und Thomas J. „Stonewall“ Jackson neu und historisch mythologisierend positioniert werden sollten. Die Kampagnen waren ein bundesweiter Versuch, die noch junge Vergangenheit zu nutzen, um in der Zeit der Great Depression positive Lehren zu ziehen. Geplant war, erstmals alle Teilnehmer*innen des Bürgerkriegs zu würdigen; in den Südstaaten führten diese Kampagnen aber zum Gegenteil – sie riefen Gefühle von Verbundenheit für den Lost Cause sowie regional begrenzten Patriotismus hervor. Die neuen Statuen, die errichtet wurden, zeugten nun nicht von Lees und Jacksons Kampf für einen rassistischen Sklavenhalterstaat; stattdessen bewunderte man die Standhaftigkeit ihrer Überzeugungen, für die sie eingetreten waren und die nun als eine Tugend hochgehalten wurden. Auch ihre christliche Religion wurde in Inschriften hervorgehoben, während ihr Mitwirken an der weißen Vorherrschaft schlicht ignoriert wurde. In dieser Zeit entstanden auch verstärkt Abbildungen von angeblich dankbaren, treuen Sklav*innen, während ein 1923 geplantes Monument in Washington für die „Faithful Colored Mammy of the Southland“ gerade noch durch engagierte Widerrede von Schwarzen Amerikaner*innen abgewendet werden konnte.

1948 wurde ein Denkmal der beiden Generäle in Baltimore eingeweiht; im Sinne der Zeitströmung direkt nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie als „glorious heritage of all freedom-loving people“ bezeichnet. Die Reaktion des Schwarzen Amerikas klang anders: Ein Autor des Afro-American, der in Baltimore erschien, verglich Lee und Jackson mit Hitler, der genau wie die beiden Generäle eine Politik von Rassenauslöschung und Versklavung betrieben habe.

Diese unterschiedlichen Wahrnehmungen sind auch heute noch vorhanden. Die zweite der beiden Lesarten ist meiner Meinung nach einen Hauch überzeichnet, weist aber in die richtige Richtung. Die andere ist historisch schlicht nicht haltbar. Der Atlantic schreibt sehr treffend:

„The statues in public squares, the names on street signs, the generals honored with military bases – these are the ways in which we, as a society, tell each other what we value, and build the common heritage around which we construct a nation.

The white nationalists who gathered in Charlottesville saw this perhaps more clearly than the rest of us. They understood the stakes of what they were defending. They knew that Lee was honored not for making peace per se, but for defending a society built upon white supremacy – first by taking up arms, and then when the war was lost, by laying them down in such a way as to preserve what he could.“

Arthur C. Danto schrieb 1985 über den Unterschied zwischen monuments und memorials, der im deutschen Denkmal nicht ganz so trennscharf ist:

„We erect monuments so that we shall always remember, and build memorials so that we shall never forget. […] Monuments commemorate the memorable and embody the myths of beginnings. Memorials ritualize remembrance and mark the reality of ends.“ (Danto 152)

Ich bin mir bei den vielen Denkmälern für konföderierte Generäle und Soldaten immer noch nicht sicher, an was sich erinnert werden soll. Ich kann die Memorials an Kriegsschauplätzen verstehen, genau wie ich deutsche Soldatenfriedhöfe in der Sowjetunion verstehen kann. Auch wenn der Anlass für den Kampf grundfalsch war, ist es meiner Meinung nach verständlich, dass Nachkommen einen Platz für ihre Trauer haben möchten. Dass man Generälen Standbilder errichtete, die von Anfang an entweder eine rassistische Ideologie verherrlichten oder schlicht Geschichtsfälschung bebildern, ist im Nachhinein leider auch nachvollziehbar – nicht nachvollziehbar ist es aber, sie heute nicht in einen musealen, didaktischen Kontext zu betten.

Literatur für diesen Eintrag:

Abousnnouga, Gill/Machin, David: The Language of War Monuments, London/New York 2013.

Danto, Arthur C.: „The Vietnam Veterans Memorial“, in: The Nation, 31.8.1985, S. 152–155.

Foner, Eric: Reconstruction: America’s Unfinished Revolution, 1863–1877, New York 1988.

McInnis, Maurie D.: „‚To Strike Terror‘: Equestrian Monuments and Southern Power“, in: Savage, Kirk (Hrsg.): The Civil War in Art and Memory, Washington 2016, S. 125–146. (Der ganze Band ist sehr lesenswert.)

Mcpherson, James M.: Battle Cry of Freedom. The Civil War Era, Oxford 1988. (Meine ewige Empfehlung in diesem Blog für eine gute Einführung in den Bürgerkrieg. Gibt’s auch auf Deutsch.)

Savage, Kirk: Standing Soldiers, Kneeling Slaves. Race, War, and Monument in Nineteenth-Century America, Princeton 1997.

Terrono, Evie: „‚Great Generals and Christian Soldiers‘: Commemorations of Robert E. Lee and Stonewall Jackson in the Civil Rights Era“, in: Savage, Kirk (Hrsg.): The Civil War in Art and Memory, Washington 2016, S. 147–170.

Vlach, John Michael: „Perpetuating the Past. Plantation Landscape Paintings Then and Now“, in: Kat. Ausst. Landscape of Slavery. The Plantation in American Art. University of Virginia Art Museum, Charlottesville (Va)/Gibbes Museum of Art, Charleston (S.C.)/Morris Museum of Art, Augusta (Ga), Columbia 2008, S. 16–29.

Was schön war, Mittwoch, 9. August 2017 – Im Prüfungsamt

Die Schlange war deutlich kürzer als erwartet, als ich kurz nach 9 auftauchte.

Anklopfen, eintreten, immer noch kein Studi in Sicht. Das ist neu. Aber schön, dann kann ich der Sachbearbeiterin ja lauter Fragen stellen. Das tat ich: „Ich hab mich nicht zurückgemeldet bzw. ich hab keine Studiengebühren mehr überwiesen, komm ich noch ins Wintersemester?“ – „Muss ich in die Studierendenkanzlei oder zu Ihnen?“ – „Bis wann denn eigentlich?“ und die wichtige Frage „Bis wann krieg ich denn das Masterzeugnis, damit ich mich für den Promotionsstudiengang bewerben kann?“

Dame: „Ich kann Ihnen ein vorläufiges Zeugnis ausdrucken, das reichen Sie dann ein, falls das eigentliche Zeugnis noch nicht da ist.“

Icke: „Das heißt, ich könnte jetzt von Ihnen meine Endnote erfahren?“

Dame: „Sind denn schon alle Noten im Transcript of Records eingetragen?“

Icke: „Jepp.“

Dame: „Haben Sie Ihren Studentenausweis dabei?“

Icke: „Jepp.“ *zück*

Dame: *tippt* „Was glauben Sie denn, was Sie haben?“

Icke: *lach* „Ich würde mich über irgendwas zwischen 1,1 und 1,2 freuen.“

Dame: „Nee, Sie sind besser.“ *druckt was aus* „Ich muss das noch siegeln.“ *geht nach nebenan und drückt mir den Bogen in die Hand. „Schönen Tag noch.“

Icke: *guck*

Icke: „Werd ich haben, dankeschön.“

Dann dämlicherweise noch einen Blick in den offenen Lieblingshörsaal (Team B 201! Stirb, A 240, stirb!) geworfen und mir wieder bewusst gewesen, dass ich da vermutlich nie wieder sitzen werde. Traurig geworden. Dann wieder über die Endnote und mein MA-Studium gefreut. Dann wieder traurig geworden. Und so ging das den ganzen Tag weiter.

Abends kam F. zum Feiern und Trösten vorbei und wir rechneten den Schnitt noch einmal nach. Mir war immer noch nicht klar, ob zum Beispiel mein Nebenfach weniger zählte als das Hauptfach oder die Masterarbeit mehr wiegt als ein Seminar. Der Herr Naturwissenschaftler zückte den Taschenrechner und erklärte mir seinen Rechenweg. Danach plustere ich mich für zwei Sekunden auf und quengelte was von „Wenn das blöde Kindheitsreferat nicht ne blöde 2,0 geworden wäre, dann …“, woraufhin F. mich liebevoll-augenrollend stoppte und fragte: „Du diskutierst hier nicht gerade über die zweite Stelle nach dem Komma in einer Gesamtnote von 1 Komma fucking null sieben?“

Und erst da fiel mir selbst auf, was all meinen Mitmenschen, die seit zehn Semestern ebenfalls liebevoll-augenrollend von außen auf mich draufgucken, von Anfang an klar gewesen war: Ich habe immer mein Bestes gegeben. Ich habe keine einzige Hausarbeit und kein einziges Referat irgendwann abgeschenkt und gedacht, ach, ne Einssieben reicht ja auch. Ich wollte immer eine Einsnull und war dementsprechend knörig, wenn es nur, nur! eine Einsdrei wurde. Aber den Satz „Ich habe immer mein Bestes gegeben“ verstand ich erst gestern. Mehr ging nicht, und deswegen passt die Note natürlich auch.

Das war ganz schön, endlich mal selbst zu kapieren, dass man anscheinend fünf Jahre lang einen sehr guten Job gemacht hat.