Was schön war, Dienstag, 23. August 2017 – Schnurr

Mein Zahnarzt hatte mir, O-Ton, Physio für mein knirschendes Kiefergelenk verordnet, worüber ich tagelang gackern musste. Ich sah mich schon lustige Mundgymnastik unter Aufsicht machen, aber es war dann viel netter und entspannender. Die Behandlung entpuppte sich als Manualtherapie, was bedeutete, dass mir eine freundliche Therapeutin diverse Muskelpartien im Gesicht und Hals massierte und irgendwann auch noch den Nacken und den Schulterbereich mitnahm, denn das hängt ja alles zusammen und ich war anscheinend verspannt wie nix. Das ahnte ich natürlich, denn der Abschied vom Studium, die Langstrecke einer Promotion und die ungewisse Zukunft belasten dann halt doch so ein bisschen. Außerdem neige ich dazu, in Bibliotheken irgendwann wie ein Schluck Wasser in den Stühlen zu hängen und die Bücher viel zu nah vor der Nase zu haben, bevor ich mich daran erinnere, gerade zu sitzen und Abstand zu den schönen Aufsätzen zu wahren.

Eine Bewegung fand ich gleichzeitig unheimlich und faszinierend. Beim Gesangsunterricht hatte mir meine Lehrerin immer gesagt, wenn ich auch da wie ein Schluck Wasser rumstand und die Nase am Notenständer hatte, ich solle mir vorstellen, ich hätte einen Faden an der Schädeldecke und an dem zieht mich jetzt jemand nach oben – schon richtete ich mich auf, war gefühlt zehn Zentimeter größer und konnte, wer hätte es gedacht, freier singen. So ungefähr fühlte es sich an, als die Therapeutin mich gestern irgendwo unten am Hinterkopf anfasste und zu sich zog (ich lag). Es war wie gesagt ein bisschen unheimlich, sanften, aber deutlichen Zug auf der Halswirbelsäule zu spüren, aber es war gleichzeitig sehr schnurrig. Zum Abschluss durfte ich noch zehn Minuten in warmen Kissen liegen und war endgültig grundentspannt.

Ich mochte die Kachelfarbe im Treppenhaus der Praxis gern. Außerdem freute ich mich über den Altbau. Ich bin in München viel zu selten in Altbauten. Dusselige Hauptstadt der Bewegung.

Danach überlegte ich kurz, ob ich nach Hause fahren und mich wieder ins Bett legen sollte, so puschelig-weichgeknetet wie ich war, aber ich hatte den Rechner dabei und mir ein bisschen Nazikram im ZI vorbestellt, also fuhr ich brav dort hin und las wieder schlimmes Zeug. Also schlimm im Sinne der Parteipolitik, für mich aber wie immer alles höchst spannend und aufschlussreich. Ich entdeckte schöne Dissertationen und Aufsätze; so fand ich derKunst im Dritten Reich von 1937 eine Abbildung des damals neuen (und heutigen) Park-Cafés und fühlte mich in meiner Ahnung bestätigt, dass das NS-Architektur war. Seitdem frage ich mich, ob die alten Fresken im Innenraum noch unter Farbschichten vorhanden sind oder die irgendwann abgeschlagen wurden. Außerdem las ich ein Machwerk von Robert Scholz, einem Kunstkritiker der NS-Zeit, der sich 1977 ernsthaft hingestellt und behauptet hatte, NS-Kunst sei die quasi alternativlose Folge der Kunst der Weimarer Zeit gewesen – er nannte 1933 eine „konservative Kunstwende“ und ich wollte wieder Bücher anschreien, so wie ich ständig meinen Rechner anschreien will, wenn wieder irgendwo steht, dass der beschissene Rechtsruck und Trump unvermeidlich gewesen seien, weil die Linke mit ihren liberalen Ideen halt so fies ist.

Nach vier Stunden und mit ein paar neuen Ideen zur Diss fuhr ich nach Hause. Dort warf ich zwei Paprika mit einer Zwiebel in die Pfanne und ließ alles hübsch karamellisieren, während in einer zweiten Pfanne eine Portion Rührei vor sich hinstockte. Ich habe mir vor einigen Wochen einen Topf Schnittlauch für die Fensterbank gekauft und warte seitdem, dass er stirbt, was alle meine Kräutertöpfe tun, denn meine Fensterbank bekommt nie wirklich Sonne. Dieser Topf ist aber anscheinend ein Zombie, er wächst so irre, dass ich derzeit mein Essen danach plane, ob man zwei Handvoll Schnittlauch dazu werfen kann. Da liegt Rührei natürlich nah. Gut war’s.

Abends Fußball bei F. Gemeinsam eingeschlafen.

(Da Zusammenziehen in München eher so hahajaklarwaskostetdiewelt ist und wir beide auch sehr an unseren eigenen Wohnungen hängen, wird der letzte Satz als Statusmeldung dort vermutlich (hoffentlich) noch länger stehen.)