Tagebuch 30. Oktober – Fusseltag

Schlecht geschlafen. Komische Mails gekriegt. Mich in der Historicums-Bibliothek nicht so recht konzentrieren können, aber trotzdem einige hübsche Dinge für mein Kiefer-Referat rausgefunden. Ich wühle mich gerade durch die deutsche Mythologie, falls es eine solche überhaupt gibt, und was die Nationalsozialisten aus den vielen Vorlagen gemacht haben. Ich las Auszüge aus Rosenberg und Spengler und bemerkte mal wieder den Nachteil, wenn man sich mit Kunst aus der NS-Zeit bzw. mit Kunst, die sich auf diese Jahre bezieht, beschäftigt: Man muss auch die fürchterlichen Texte dazu lesen, bei denen man dauernd denkt, Alter, ihr hattet echt alle nen Schatten.

Von der Bibliothek nach Hause geradelt, was immer schön ist, weil ich mein Hamburg-Fahrrad so liebe und sich jede Fahrt viel angenehmer anfühlt als mit dem alten Rad. Zu viel Ben & Jerry’s Peanut Butter Cup gegessen. Beschlossen, Scandal und How to get away with murder zu kicken, weil mir inzwischen wirklich alle Charaktere egal sind und ich bei HTGAWM keine Ahnung mehr habe, worum es eigentlich geht. Laut Rammstein gehört. Beim Fußball eingeschlafen. Bei F. übernachtet. (Swoon.)

Tagebuch 29. Oktober – Bayern, Baby

90 Minuten lang im Kreisverwaltungsreferat darauf gewartet, dass meine Nummer aufgerufen wurde. Drei Minuten später hatte ich meinen Personalausweis wieder, auf dem ein Aufkleber meine neue Adresse anzeigte. Ich habe mich dabei erwischt, wie ich das Ding sehr breit grinsend in mein Portemonnaie steckte. Das war gefühlt der letzte Haken, den ich noch an den Umzug machen musste, und das hat sich sehr gut angefühlt.

Leider verdecke ich auf dem Foto mit dem Daumen das Münchner Kindl, über dessen Anblick ich mich immer noch überall und vor allem auf den U-Bahnen freue.

Dann ging’s zum Shopping.

Weil das gestern auf Twitter einige Missverständnisse hervorrief: DAS SIND NICHT ALLE MEINE! Mir gehört nur der 26-Zentimeter-Bratentopf. Nur, haha. Um das Ding bin ich jetzt drei Jahre rumgeschlichen, und gestern hat es sich so angefühlt, als wollte es gekauft werden. Wer bin ich, meinem Bräter zu widersprechen.

Schwer bepackt – das Ding wiegt knapp fünf Kilo – ging es nach Hause. Mit einem kleinen Umweg über meinen Lieblingsmetzger.

Und weil gestern alles perfekt lief, kam auch endlich mein Bubbly-Paket an. DPD verschickt, was ich noch nicht wusste, Mails, die einem die Lieferung auf eine Stunde genau anzeigen. Und auch das funktionierte. Bussi, Donnerstag!

Tagebuch 28. Oktober – BRD/DDR, NED/BRA

Im deutsch-deutsche-Dialoge-Seminar sprachen wir über Fritz Winter und die Rezeption vor allem seiner „Triebkräfte der Erde“-Werke direkt nach 1945, für die auch Werner Haftmann zuständig war. Haftmann sah in Winter einen Protagonisten für die innere Emigration, also für einen Künstler, der sich mit dem NS-Regime arrangierte, aber trotzdem Kunst schuf. Es gibt einen Aufsatz von Haftmann, in dem er dieses innere Exil als wertvoller ansieht als ein äußeres; die tägliche Auseinandersetzung mit einem politischen Regime, in dem man leben muss, schafft größere Kunst als ein Leben außerhalb dieses Regimes. (Den gedanklichen Salto muss man auch erst mal machen.) Generell setzte die Kunst der jungen Bundesrepublik sich so gut wie gar nicht mit dem Faschismus, dem Krieg, dem Holocaust auseinder, sondern floh, böse ausgedrückt, in die Abstraktion, die Historiker wie Haftmann dem misstrauischen Publikum durch derartige Deutungen schmackhaft machte. In diesem Zusammenhang hörte ich auch ein schönes Paul-Klee-Zitat, der sich darüber bewusst war, dass seine Kunst schwierig war: „Uns trägt kein Volk.“

In der SBZ bzw. der DDR setzte man sich anfangs durchaus künstlerisch mit dem Faschismus auseinander. Ab ca. 1951 sollte allerdings themengebundene Kunst nach sowjetischem Vorbild geschaffen werden, die für den Aufbau des Sozialismus begeistern sollte. Im Zentrum stand der werktätige Mensch, der Stil war naturalistisch. Wir sahen ein Bild von Hans Grundig, das die Opfer des Faschismus würdigte (1946/47) und im Gegensatz dazu eines von Otto Nagel (1953).

Zwei zusammenhanglose Dinge, die ich auch gelernt habe: Von den zur NS-Zeit ausgewanderten Künstler*innen kehrte nur ein Viertel nach Deutschland zurück und fast alle davon gingen in die SBZ. Und: Franz Marcs Briefe aus dem Feld wurden noch 1941 gedruckt, obwohl der Maler seit 1937 als „entartet“ galt.

Nachmittags hatte ich dann wieder die Vorlesung, die sich mit den künstlerischen Reiseerfahrungen ab der frühen Neuzeit beschäftigte. Mit der Vorlesung hadere ich immer noch, weil ich noch keinen roten Faden habe. Aber ich habe ein Bild wiedergesehen, vor dem ich vor einigen Wochen in Amsterdam im Rijksmuseum stand: Frans Posts Brasilianische Landschaft von 1652.

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(Hier mal wieder der Dank ans Rijksmuseum für die hochauflösenden Bilder, die man sich einfach so legal runterladen kann. Heel erg bedankt.)

((Hier mal wieder der Dank an Google Translate.))

Die Niederlande eroberten 1630 einige brasilianische Hafenstädte von den Portugiesen. (War mir auch nicht klar, dass die Kolonialmächte sich gegenseitig Land geklaut haben und nicht nur den Menschen, die schon da waren.) Bereits 1654 hatte das wieder ein Ende, aber in der Zeit war Johann Moritz von Nassau-Siegen in Südamerika, um eine anständige Kolonie zu errichten. Also mit afrikanischen Sklaven, die Zuckerrohr verarbeiteten und den Reichtum der Niederlande mehrten, was man eben so unter anständig verstand. Zu seiner Expedition gehörten auch Maler und Kartografen, unter anderem Frans Post, der es in diesen Bild schafft, eine idyllische Landschaft zu malen, die das brutale Vorgehen der Eroberer komplett verschweigt. Der Betrachter bekommt einen Einblick in die vielfältige Vegetation des Landes, vor allem im Vordergrund, wo wir zum Beispiel einen kecken Vogel sehen oder eine Ananas.

Ich weiß noch, wie ich im Rijksmuseum vor diesem recht großformatigen Bild stand, dessen halbrunde Gestaltung mir von anderen europäischen Bildern bekannt war, und mich fragte, wieso ein Niederländer um diese Zeit eine brasilianische Landschaft malt. Jetzt weiß ich’s.

Vielleicht sollte ich doch mal wieder die Audioguides der Museen nutzen.

Tagebuch 26./27. Oktober – Kirchen und Kiefer

Am Montag saß ich wieder in der schönen Barock-und-Klassizismus-Vorlesung. Letzte Woche war ich leider zu erkältet dafür, weswegen ich die Besprechung von Il Gesù und den Anfang der Bauten von Francesco Borromini verpasst hatte. So bekam ich nur noch das Ende von San Carlo alle Quattro Fontane mit. Ich lernte den Begriff der kurvierten Architektur kennen (wenn eine Wand nicht gerade ist, sondern in Bögen vor- und zurückspringt), holte den Begriff der rhythmischen Travée aus dem ersten Semester wieder nach vorne (wenn eine Wand in ungleichmäßige Abschnitte geteilt ist, hier so halbwegs zu erkennen – schmales Segment, breites, schmales) und staunte über die fragmentierte Kuppeldecke, bei der die einzelnen Polygone und Kreuze nach oben kleiner werden, so dass die Kuppel höher wirkt als sie ist.

Dann schaute ich mir Sant’Ivo alla Sapienza an, wo Borromini innerhalb eines bereits bestehenden Hofes eine Kirche integriert hatte, deren Kuppel so einzigartig ist, dass die Kunstgeschichte keinen Namen für sie hat. Die Kirche hat einen sechseckigen Grundriss, und Borromini gestaltete die Wände abwechselnd gerade, konkav und konvex, nutzte also Konchen und Wölbungen, um die Wand zu gliedern. Beim Blick in die Kuppel wird klar, wo das Problem liegt: Man kann zwar die konkaven Einbuchtungen nach oben hin fortführen, aber nicht die konvexen Ausbuchtungen – das würde die Schwerkraft etwas überfordern. Also hat das kleine Cleverle direkt über dem Wandabschluss Fenster eingebaut, so dass der Übergang zur Kuppel fast nahtlos funktioniert. Wir haben das Ganze jetzt unter dem Begriff der Melonenkuppel gelernt, aber der Dozent meinte auch, dass der Begriff quatschig ist.

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Abends besuchte ich hustend F., der von einem dreitägigen Romkurztrip zurückkam und mir genau die richtigen Souvenirs mitgebracht hatte. Flughafen-Toblerone is the best Toblerone.

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Am Dienstag hatte ich einen Termin mit meiner Endokrinologin, die mir eine etwas unerwartete Frage stellte: „Sind Sie Vegetarierin?“ Meine Vitamin-B12-Werte wären eher mau und ich sollte doch mehr Fleisch essen.

Ich esse für meine Begriffe immer noch eher zu viel Fleisch. Ich habe nach der Lektüre von Eating Animals so gut wie jeden Aufschnitt aus meinem Kühlschrank verbannt, wo dafür jetzt bergeweise Käse liegt (ja, ist inkonsequent, weiß ich), und koche fast gar nicht mehr mit Fleisch, außer wenn ich Spaghetti Bolognese oder Carbonara haben will oder einen Burger. Ich merke aber, dass ich vor meiner Periode irrwitzige Lust auf totes Tier habe. Wer mich also im Supermarkt an der Fleischtheke trifft, wo ich gerade Hackfleisch, Weißwurst, Fenchelsalami und Pastrami ordere, der weiß, dass ich in drei Tagen lustig rumbluten werde. Ich höre auf meinen Körper, wenn er mir zuquengelt, was er essen will. Und meistens will er eher Gemüse und Tofu und Halloumi essen, weswegen ich jetzt nicht damit anfange, Steaks in meinen Speiseplan einzubauen.

Das Gespräch war noch in einer anderen Hinsicht interessant. Die Ärztin schlug mir noch weitere Tests wie zum Beispiel einen für Prä-Diabetes (WTF?) vor, die eigentlich nicht nötig wären, weil es mir laut Laborwerten supi geht (bis auf das B12 eben). Ich meinte freundlich: „Ich sehe mein Gewicht nicht als ein Problem an, daher möchte ich den Test nicht machen.“ Woraufhin sie ebenso freundlich meinte: „Ja, okay.“ Ich hatte mich innerlich schon auf den üblichen fassungslosen 20-Minuten-Vortrag eingestellt, dass ich ja quasi dem Tode geweiht wäre, obwohl die Laborwerte toll seien, aber trotzdem weil Gewicht und überhaupt, das kann ja nicht gut sein, wer weiß, wie’s Ihnen in zehn Jahren geht blablabla (wer weiß, wie’s schlanken Menschen in zehn Jahren geht?). Der kam aber nicht und mein Tag war damit deutlich besser als ich ihn vor dem Termin erwartet hatte.

Nach dem Ärztinnenbesuch bin ich zum Gedenkstein für die alte Hauptsynagoge in der Nähe geradelt, den ich mir anschauen wollte, seit ich mich für die BA-Arbeit mit diesem Gebäude beschäftigt hatte. Das brauchte ich schlussendlich alles nicht, was ich mir dazu angelesen hatte, aber jetzt wollte ich doch endlich mal gucken, wo die Synagoge gestanden hatte, bis sie 1938 einem Parkplatz weichen musste. Dabei fiel mir ein, dass ich mich auch schon seit drei Jahren für eine Besichtigung der neuen Hauptsynagoge anmelden will. Das Gebäude ist von außen wunderschön und, Ironie der Geschichte, für seinen Bau wurde eine Parkgarage abgerissen.

Auf dem Weg vom Gedenkstein in die Stabi geriet ich in eine Demonstration von Pfleger*innen. Hinter dem Demonstrationszug marschierten gleich mehrere Menschen, die Müll aufsammelten, der übrig blieb, Flyer, Plakate, Trillerpfeifen. Sehr effiziente Grundrechtswahrnehmung.

In der Stabi las ich weiter zu Anselm Kiefers Parsifal-Triptychon, das die Tate fälschlicherweise mit Parsifal I, III und II bezeichnet (richtig sind von links nach rechts III, I, IV. Parsifal II ist dieses Bild hier, das nicht zum Triptychon gehört und im Kunsthaus Zürich hängt.). Leider ist meine Erkältung immer noch nicht ganz durch, und so gab ich nach zwei eher unkonzentrierten Stunden auf und ging wieder ins Bett. Abendverabredung abgesagt, den Nachmittag größtenteils verdöst, kurz zur ersten Halbzeit WOBFCB wachgeworden, nach dem Nullzudrei eingeschlafen.

Tagebuch 25. Oktober – Ich glotz’ TV

Ausgeschlafen, eine weitere Zweig-Novelle gelesen, in den Himmel geguckt – und dann nur noch in Richtung Rechner. (Und kurz in Richtung Herd.)

Rammstein in Amerika

Sehr gelungene und unterhaltsame Doku über Rammstein und ihren Erfolg in Amerika. Mit schönen Interviews, zum Beispiel mit Iggy Pop, der sich zu Rammsteins irrwitziges Pyro-Aufwand folgendermaßen äußert: „I’m low budget. I just turn around and show my ass.“ (Imitiert jubelndes Publikum.) Oder Moby, der darüber sinniert, wieso amerikanische Teenager von dieser deutschen Band begeistert sind, die so altmodisch knorrig daherkommt: „They grew up with WWII movies and expect soldiers to march through Berlin. And instead they see cute gay couples riding bikes.“

Die Doku ist noch bis zum 31. Oktober abrufbar.

Back in time for dinner

Eine Serie darüber, wie sich das Essverhalten in Großbritannien seit den 1950er Jahren geändert hat. Dazu wird die Wohnung einer fünfköpfigen Familie in das jeweilige Jahrzehnt zurückversetzt, die Mutter muss zumindest in den 50er Jahren nur in der Küche schuften, aus der der Ehemann, der eigentlich gerne kocht, verbannt ist, während Sohnemann verzweifelt, weil es (noch) keine Chips gibt.

Was mir an der Serie so gefallen hat: Sie bleibt nicht beim Essverhalten bzw. bei den Waren, die plötzlich im Laden oder im Supermarkt erhältlich waren, stehen, sondern bezieht die Veränderungen mit ein, die sich dadurch ergaben. So habe ich gelernt, dass in den 1960er Jahren Autobahnraststätten ein beliebtes und vor allem elegantes Ziel waren, um Essen zu gehen. Das Auto und damit die individuelle Mobilität waren neu, genauso wie die motorways. Und so fuhr man zur einer Gaststätte, die gerne mal wegen der tollen Aussicht über dem motorway war, aß mit vernünftigem Besteck und trank alkoholfreien Wein – weil diese Restaurants keine Lizenz zum Alkoholausschank hatten, nicht wegen der Gefahr, betrunken autofahren zu müssen.

In den 1960er Jahren begann auch der individuelle Reiseverkehr, so dass die Menschen zum Beispiel im Italienurlaub neue Speisen kennenlernten, und so tauchten plötzlich Rezepte für Spaghetti Bolognese auf. Für das Olivenöl musste man allerdings in die Apotheke gehen, denn das wurde bis dahin dazu benutzt, um Ohrenschmerzen zu behandeln. In den 1970er Jahren wanderten viele Menschen aus Bangladesch nach Großbritannien ein – und heute ist Curry quasi ein Nationalgericht.

Nebenbei: Die Musikauswahl macht auch sehr viel Spaß.

Auf YouTube sind alle Teile zu finden: 50er, 60er, 70er, 80er, 90er, the future.

(Via Vorspeisenplatte)

Tagebuch 23./24. Oktober – Global Art History/Iconic Architecture

Durch die einwöchige Erkältung („Mit Medikamenten dauert eine Erkältung sieben Tage, ohne eine Woche“) bin ich ein bisschen in Verzug geraten, was meine Seminare angeht, von denen ich noch schreiben wollte. Daher gibt’s eins nur in Kurzfassung, aber dafür ein anderes mit tollem Ratespiel! Bleiben Sie dran!

Als Alternative zu den tollen Ost-West-Dialogen schaute ich mir in der ersten Semesterwoche noch ein Seminar zu Global Art History an. Das klang auch alles irrwitzig interessant, aber die Dialoge und Anselm Kiefer sind doch mehr meine Richtung. Durch den Seminarplan habe ich jetzt allerdings eine lange Leseliste von Texten, die ich mir selbständig erarbeiten kann und die sich durchweg mit Themen beschäftigen, die ich bisher nur gestreift oder um die ich mir noch nie einen Kopf gemacht habe.

Die LMU hat als eine ihrer Säulen des Fachs Islamische Kunst. Das finde ich zwar alles hübsch und bunt, aber so richtig dringend möchte ich darüber nichts wissen – jedenfalls nicht, solange ich die christliche bzw. westliche Kunst noch nicht drauf habe. (Ich frage mich gerade, ob „westlich“ der richtige Ausdruck ist. Ich meine das westliche Europa und Nordamerika, in denen ich mich seit drei Jahren kunsthistorisch bewege.) Deswegen hatte ich in meinem bisherigen Studium auch noch nie Themen wie „Das koloniale Unbewusste in der Kunstgeschichte“ (Viktoria Schmidt-Linsenhoff), „Art History as a Global Discipline?“ (James Elkins, kritisch lesen bitte) oder „Asynchrone Objekte“ (Susanne Leeb) auf dem Stundenplan. Keines der Themen des Seminars war mir vertraut, und auch von den vielen afrikanischen Künstler*innen, die genannt wurden, kannte ich leider keine/n einzige/n. Was mir vorgestellt wurde, klang aber alles hochinteressant. Daher habe ich es etwas bedauert, den Kurs knicken zu müssen, aber ich möchte dann doch lieber die Seminare, für die ich Punkte und Noten bekomme, sehr gut machen als nur so halbgar.

Aber wie gesagt: Leseliste für die langen Winterabende steht.

Jetzt aber: Iconic Architecture. Der zweite Volltreffer und bisher größte Glücklichmacher im Stundenplan.

Die erste Stunde begann mit einem Bilderrätsel, das ihr jetzt lustig mitspielen dürft. „Kennen Sie diese Gebäude bzw. wissen Sie, wer sie entworfen hat?“

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No machine-readable author provided. Chosovi assumed (based on copyright claims). [CC BY-SA 2.5], via Wikimedia Commons

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(Screenshot von der Seite des Architekturbüros, Quelle siehe unten.)

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Keith Edkins at the English language Wikipedia [GFDL or CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons

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Guenter Schneider (photography) [CC BY 3.0], via Wikimedia Commons

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Bildquelle siehe unten. (Ich brauche ein Blog mit größeren Bildern. Christian?)

Wenn ihr jetzt brav wart und nicht schon die Wikilinks angeklickt habt, kommt hier die Auflösung:

Das erste Bild zeigt das Tanzende Haus in Prag. Gut, Gehry steht ja quasi fast drauf, das hatte ich getippt, aber das Gebäude kannte ich nicht.

Beim zweiten Gebäude hätte ich die Architektin richtig geraten, wusste aber überhaupt nicht, was ich da sah: einen Entwurf von Zaha Hadid für das Performing Arts Centre in Abu Dhabi.

Beim dritten Gebäude musste ich total passen. Es ist The Sage von Norman Foster. Den Herrn kennt man wenigstens.

Dafür konnte ich mich beim vierten endlich melden: Das ist das Jüdische Museum in Berlin von Daniel Libeskind. Der Dozent fragte, woran ich es erkannt hätte, woraufhin ich die Duh!-Antwort „An der Form“ gab. Was ich hätte sagen sollen: „Der Grundriss hängt seit Jahren bei mir an der Wand, weil ich das Gebäude bei meinem Besuch so beeindruckend fand.“ Aber das fiel mir erst nachher ein.

Beim fünften musste ich wieder passen. Das ist das Musée des Confluences in Lyon, gestaltet von Coop Himmelb(l)au. Die kannte ich immerhin von der BMW-Welt. Ha, Werbung!

In der zweiten Stunde am vorgestrigen Freitag unterhielten wir uns darüber, was iconic buildings eigentlich sind. Wir als Kunsthistoriker*innen hingen uns natürlich schon beim iconic auf. Ein Ikon ist erstmal ein Zeichen, ein Bild, also musste ein ikonisches Gebäude ein Bauwerk sein, das ein Bild abgeben möchte, das also über seine reine Form noch eine Botschaft vermittelte. So begann unsere Definition in vier Schritten:

1. Ein ikonisches Gebäude ist prominent, will wahrgenommen werden, soll weltweit Publicity erregen. Es kann Wahrzeichencharakter haben (siehe Oper in Sydney, und alle Hamburger*innen hoffen brav weiter auf die Elbphilharmonie, gell?). Dieses Bekanntwerden-Wollen ist ihm eingeschrieben. Deswegen verneinten wir auch die Dozentenfrage, ob Schloss Neuschwanstein ein iconic building sei. Das Schloss war nie dazu gedacht, tonnenweise Touris durch es zu schleifen, sondern war ein reines Privatvergnügen von Ludwig II. Der Mann wollte so wenig von der Welt mitkriegen wie möglich, was einem ikonischen Bauwerk widerspricht.

Wir diskutieren allerdings über Bauwerke wie Wallfahrtskirchen oder Triumphbögen, wie zum Beispiel den Konstantinsbogen in Rom. Triumphbögen wurden für einen bestimmten Anlass errichtet (Sieg des römischen Heeres), verblieben dann aber im Stadtbild, so dass sie weiterhin Zeugnis ihres Bauanlasses waren – bis heute. Und das nicht nur in Rom, sondern im gesamten römischen Reich, mitten in der Pampa. Sie verkündeten damals als den Ruhm Roms, aber: Sie waren alle nach dem gleichen Muster gebaut, weswegen sie keine Ikonen sind. Denn:

2. Ikonische Gebäude zeichnen sich durch Kühnheit, Extravaganz und Innovationskraft des Entwurfs aus. Wir sahen uns einige Beispiele an, unter anderem das Kunsthaus Graz, das mir während der BA-Arbeit schon mal unterkam, als ich mich mit computer-aided design befasste und erstmals den Begriff der Blob-Architektur las. Ich mag das Gebäude sehr; ich finde, es passt sich überraschend gut in seine Umgebung ein. Es überragt die umliegenden Bauwerke nicht, sondern scheint sich zufrieden in sein Eckchen in der Stadt zu schmiegen, obwohl es zunächst so fremdartig aussieht; wie ein kleines Tierchen, das seinen Platz gefunden hat.

Diese Idee, das etwas von außen reinkommt und sich breitmacht, hörten wir beim dritten Teil der Definition wieder, allerdings in negativer Hinsicht.

3. Das Gebäude hat eine sinnbildliche Qualität, es zeigt seine Funktion (hier sind wir beim Bildhaften, Ikonischen). Charles Jencks bescheinigte derartigen Gebäuden „multiple meanings and enigmatic signifiers“.

Wir besahen uns zunächst ein gelungenes Beispiel, das Opernhaus in Qingdao von Meinhard von Gerkan, das laut Eigenaussage des Architekten Wolken, Wind und das bergige Umfeld aufgreift (sieht man auf der GMP-Website besser). Und dann kam ein Gebäude, bei dem ich wirklich zusammenzuckte: das Experience Music Project in Seattle. Ich bin mir nicht sicher, ob selbst Gehry-Fans hier mal kurz abwinken und sagen, Junge, ist okay, kann ja nicht jeder Entwurf sitzen. Ich selbst kann Gehry nicht mehr sehen, was auch daran liegen könnte, dass vor einigen Jahren gefühlt jeder zweite Audi-Katalog vor irgendeinem Gehry geshootet wurde („Bilbao geht immer!“). Aber das Seattle-Ding ist noch unförmiger als Gehry eh schon ist und dazu auch noch konfus. Finde ich jedenfalls. Netterweise bin ich nicht allein: Der Architekturkritiker Herbert Muschamp schrieb den wundervollen Satz: „Frank Gehry’s Experience Music Project looks like something that crawled out of the sea, rolled over and died.“ Witold Rybczynski schrieb in When Buildings Try Too Hard über den kommerziellen Misserfolg des Projekts und den beabsichtigten Bilbao-Effekt, der für ihn eher the Bilbao anomaly ist – der Erfolg von Bilbaos Guggenheim, wo ein kulturelles Architekturprojekt eine ganze Stadt ökonomisch nach vorne gebracht hat, ist nicht so leicht reproduzierbar wie viele dachten. Was uns zum letzten Punkt brachte:

4. Ikonische Bauwerke sollen heute bewusst ein Tourismusmagnet sein, sie sind kommerziell ausgerichtet. Bei dem Punkt hatten wir uns dann allerdings wieder in den Haaren. Wir sprachen bereits unter 1. die vielen Kirchen an, die vom Ruhm Gottes kündeten, aber sich recht ähnlich sahen. Aber was ist mit absoluten Tourismuszielen wie dem Petersdom, der zwar aus der bekannten Formensprache von Renaissance und Barock schöpft, aber sehr dringend wahrgenommen werden will und ein kommerzieller Erfolg ist?

Diese Diskussion mussten wir verschieben. Auch das ist ein Punkt, der mir an diesem Seminar so gefällt, wie auch im Dialoge-Kurs: Wir reden viel. Ich weiß nicht, ob das Zufall oder wirklich ein Unterschied zum BA ist, dass in diesen Master-Seminaren die Leute deutlich engagierter sind. Vielleicht ist jetzt auch endlich die Scheu weg, was Falsches zu sagen; wir wissen alle mehr als vor drei Jahren, als wir hier als putzige Erstis mit roten Bäckchen und jungfräulichen Notizbüchern saßen, wir trauen uns jetzt, auch mal eine Vermutung rauszuhauen. Oder hat es wirklich was damit zu tun, dass wir bereits im zweiten Studium sind? Den ersten Berufsabschluss haben wir in der Tasche, wir müssen nicht mehr hier sein, die Schuldigkeit, eine Ausbildung machen zu müssen, ist abgeleistet. Wir sitzen hier, weil wir noch mehr wollen. Und ich glaube, wir wissen inzwischen alle, wie sehr ein Seminar davon profitiert, dass mal irgendwer den Mund aufmacht.

Das Seminar bietet allerdings auch eine neue Herausforderung. Denn viele der Gebäude, über die wir referieren und Hausarbeiten schreiben, sind noch gar nicht gebaut. Mein Referat beschäftigt sich mit dem Nationalstadion in Peking („Vogelnest“) von Herzog & de Meuron sowie dem geplante Stadion zur Fußball-WM 2022, dem Al Wakrah von Zaha Hadid. Mit letzterem hatte das Internet schon einen field day, und ich freue mich jetzt schon auf die Bildersuche. Aber was die wirkliche Herausforderung ist: Wir schreiben als Kunsthistoriker*innen (die Betonung liegt auf „Historiker*innen“) über Dinge, die es noch nicht gibt. Wir haben keine Baupläne, die wir studieren, keine Vorbilder, an denen wir uns orientieren, keine Einzelteile, die wir aus anderen Bauten kennen und auf die wir die neuen abklopfen, keine Sekundärliteratur, aus der wir zitieren können. Es gibt noch keine objektivierende Distanz, aus der wir uns den Bauwerken nähern, wir haben nur das Marketingsprech und die wunderhübschen Renderings, aus denen wir unsere kunsthistorischen Betrachtungen ableiten. Das wird eine sehr spannende Aufgabe. Oder wie es der Dozent ausdrückte: „Sie können hier richtig Pionierarbeit leisten.“

Na denn. Happy Anke. (Warum habe ich seit Tagen die Doozers im Kopf?)

Tagebuch 22. Oktober 2015 – „Die unsichtbare Sammlung“

Die Erkältung will nicht weg, ich bin im Bett (meistens), und wenn ich nicht schlafe oder döse, stecke ich meine Nase in ein Buch, das meine Timeline für mich ausgesucht hat. Ich hatte um drei Zahlen gebeten, die ein Regal, ein Regalbrett und ein Buch auf diesem Brett bezeichnen, und @Moepern traf mit einer Zahlenkombi ein Buch, das ich noch nicht kannte. Eine Reclam-Ausgabe aus der DDR, gesetzt im Grafischen Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden: eine Novellensammlung von Stefan Zweig. Gleich die erste Geschichte hat mich ein wenig aus meinem derzeitigen Grau reißen können, und deswegen steht sie hier (weil gemeinfrei): Die unsichtbare Sammlung von 1927.

Die unsichtbare Sammlung
Eine Episode aus der deutschen Inflation

Zwei Stationen hinter Dresden stieg ein älterer Herr in unser Abteil, grüßte höflich und nickte mir dann, aufblickend, noch einmal ausdrücklich zu wie einem guten Bekannten. Ich vermochte mich seiner im ersten Augenblick nicht zu entsinnen; kaum nannte er aber dann mit einem leichten Lächeln seinen Namen, erinnerte ich mich sofort: Es war einer der angesehensten Kunstantiquare Berlins, bei dem ich in Friedenszeit öfters alte Bücher und Autographen besehen und gekauft. Wir plauderten zunächst von gleichgültigen Dingen. Plötzlich sagte er unvermittelt:
»Ich muß Ihnen doch erzählen, woher ich gerade komme. Denn diese Episode ist so ziemlich das Sonderbarste, was mir altem Kunstkrämer in den siebenunddreißig Jahren meiner Tätigkeit begegnet ist. Sie wissen wahrscheinlich selbst, wie es im Kunsthandel jetzt zugeht, seit sich der Wert des Geldes wie Gas verflüchtigt: Die neuen Reichen haben plötzlich ihr Herz entdeckt für gotische Madonnen und Inkunabeln und alte Stiche und Bilder; man kann ihnen gar nicht genug herzaubern, ja wehren muß man sich sogar, daß einem nicht Haus und Stube kahl ausgeräumt wird. Am liebsten kauften sie einem noch den Manschettenknopf vom Ärmel weg und die Lampe vom Schreibtisch. Da wird es nun eine immer härtere Not, stets neue Waren herbeizuschaffen – verzeihen Sie, daß ich für diese Dinge, die unsereinem sonst etwas Ehrfürchtiges bedeuteten, plötzlich Ware sage –, aber diese üble Rasse hat einen ja selbst daran gewöhnt, einen wunderbaren Venezianer Wiegendruck nur als Überzug von soundsoviel Dollars zu betrachten und eine Handzeichnung des Guercino als Inkarnation von ein paar Hundertfrankenscheinen. Gegen die penetrante Eindringlichkeit dieser plötzlich Kaufwütigen hilft kein Widerstand. Und so war ich über Nacht wieder einmal ganz ausgepowert und hätte am liebsten die Rolladen heruntergelassen, so schämte ich mich, in unserem alten Geschäft, das schon mein Vater vom Großvater übernommen, nur noch erbärmlichen Schund herumkümmeln zu sehen, den früher kein Straßentrödler im Norden sich auf den Karren gelegt hätte.

In dieser Verlegenheit kam ich auf den Gedanken, unsere alten Geschäftsbücher durchzusehen, um einstige Kunden aufzustöbern, denen ich vielleicht ein paar Dubletten wieder abluchsen könnte. Eine solche alte Kundenliste ist immer eine Art Leichenfeld, besonders in jetziger Zeit, und sie lehrte mich eigentlich nicht viel: Die meisten unserer früheren Käufer hatten längst ihren Besitz in Auktionen abgeben müssen oder waren gestorben, und von den wenigen Aufrechten war nichts zu erhoffen. Aber da stieß ich plötzlich auf ein ganzes Bündel Briefe von unserem wohl ältesten Kunden, der mir nur darum aus dem Gedächtnis gekommen war, weil er seit Anbruch des Weltkrieges, seit 1914, sich nie mehr mit irgendeiner Bestellung oder Anfrage an uns gewandt hatte. Die Korrespondenz reichte – wahrhaftig keine Übertreibung! – auf beinahe sechzig Jahre zurück; er hatte schon von meinem Vater und Großvater gekauft, dennoch konnte ich mich nicht entsinnen, daß er in den siebenunddreißig Jahren meiner persönlichen Tätigkeit jemals unser Geschäft betreten hätte. Alles deutete darauf hin, daß er ein sonderbarer, altväterischer, skurriler Mensch gewesen sein mußte, einer jener verschollenen Menzel- oder Spitzweg-Deutschen, wie sie sich noch knapp bis in unsere Zeit hinein in kleinen Provinzstädten als seltene Unika hier und da erhalten haben. Seine Schriftstücke waren Kalligraphika, säuberlich geschrieben, die Beträge mit dem Lineal und roter Tinte unterstrichen, auch wiederholte er immer zweimal die Ziffer, um ja keinen Irrtum zu erwecken: Dies sowie die ausschließliche Verwendung von abgelösten Respektblättern und Sparkuverts deuteten auf die Kleinlichkeit und fanatische Sparwut eines rettungslosen Provinzlers. Unterzeichnet waren diese sonderbaren Dokumente außer mit seinem Namen stets noch mit dem umständlichen Titel: Forst- und Ökonomierat a. D., Leutnant a. D., Inhaber des Eisernen Kreuzes erster Klasse. Als Veteran aus dem siebenziger Jahr mußte er also, wenn er noch lebte, zumindest seine guten achtzig Jahre auf dem Rücken haben. Aber dieser skurrile, lächerliche Sparmensch zeigte als Sammler alter Graphiken eine ganz ungewöhnliche Klugheit, vorzügliche Kenntnis und feinsten Geschmack: Als ich mir so langsam seine Bestellungen aus beinahe sechzig Jahren zusammenlegte, deren erste noch auf Silbergroschen lautete, wurde ich gewahr, daß sich dieser kleine Provinzmann in den Zeiten, da man für einen Taler noch ein Schock schönster deutscher Holzschnitte kaufen konnte, ganz im stillen eine Kupferstichsammlung zusammengetragen haben mußte, die wohl neben den lärmend genannten der neuen Reichen in höchsten Ehren bestehen konnte. Denn schon was er bei uns allein in kleinen Mark- und Pfennigbeträgen im Laufe eines halben Jahrhunderts erstanden hatte, stellte heute einen erstaunlichen Wert dar, und außerdem ließ sich’s erwarten, daß er auch bei Auktionen und anderen Händlern nicht minder wohlfeil gescheffelt. Seit 1914 war allerdings keine Bestellung mehr von ihm gekommen, ich jedoch wiederum zu vertraut mit allen Vorgängen im Kunsthandel, als daß mir die Versteigerung oder der geschlossene Verkauf eines solchen Stapels hätte entgehen können: So mußte dieser sonderbare Mann wohl noch am Leben oder die Sammlung in den Händen seiner Erben sein.

Die Sache interessierte mich, und ich fuhr sofort am nächsten Tage, gestern abend, direkt drauflos, geradewegs in eine der unmöglichsten Provinzstädte, die es in Sachsen gibt; und als ich so vom kleinen Bahnhof durch die Hauptstraße schlenderte, schien es mir fast unmöglich, daß da, inmitten dieser banalen Kitschhäuser mit ihrem Kleinbürgerplunder, in irgendeiner dieser Stuben ein Mensch wohnen sollte, der die herrlichsten Blätter Rembrandts neben Stichen Dürers und Mantegnas in tadelloser Vollständigkeit besitzen könnte. Zu meinem Erstaunen erfuhr ich aber im Postamt auf die Frage, ob hier ein Forst- oder Ökonomierat dieses Namens wohne, daß tatsächlich der alte Herr noch lebe, und machte mich – offen gestanden, nicht ohne etwas Herzklopfen – noch vor Mittag auf den Weg zu ihm.

Ich hatte keine Mühe, seine Wohnung zu finden. Sie war im zweiten Stock eines jener sparsamen Provinzhäuser, die irgendein spekulativer Maurerarchitekt in den sechziger Jahren hastig aufgekellert haben mochte. Den ersten Stock bewohnte ein biederer Schneidermeister, links glänzte im zweiten Stock das Schild eines Postverwalters, rechts endlich das Porzellantäfelchen mit dem Namen des Forst- und Ökonomierates. Auf mein zaghaftes Läuten tat sofort eine ganz alte, weißhaarige Frau mit sauberem schwarzem Häubchen auf. Ich überreichte ihr meine Karte und fragte, ob Herr Forstrat zu sprechen sei. Erstaunt und mit einem gewissen Mißtrauen sah sie zuerst mich und dann die Karte an: In diesem weltverlorenen Städtchen, in diesem altväterischen Haus schien ein Besuch von außen her ein Ereignis zu sein. Aber sie bat mich freundlich, zu warten, nahm die Karte, ging hinein ins Zimmer; leise hörte ich sie flüstern und dann plötzlich eine laute, polternde Männerstimme: ›Ah, der Herr R. … aus Berlin, von dem großen Antiquariat … soll nur kommen, soll nur kommen … freue mich sehr!‹ Und schon trippelte das alte Mütterchen wieder heran und bat mich in die gute Stube.

Ich legte ab und trat ein. In der Mitte des bescheidenen Zimmers stand hochaufgerichtet ein alter, aber noch markiger Mann, mit buschigem Schnurrbart in verschnürtem, halb militärischem Hausrock und hielt mir herzlich beide Hände entgegen. Doch dieser offenen Geste unverkennbar freudiger und spontaner Begrüßung widersprach eine merkwürdige Starre in seinem Dastehen. Er kam mir nicht einen Schritt entgegen, und ich mußte – ein wenig befremdet – bis an ihn heran, um seine Hand zu fassen. Doch als ich sie fassen wollte, merkte ich an der waagerecht unbeweglichen Haltung dieser Hände, daß sie die meinen nicht suchten, sondern erwarteten. Im nächsten Augenblick wußte ich alles: Dieser Mann war blind.

Schon von Kindheit an, immer war es mir unbehaglich, einem Blinden gegenüberzustehen, niemals konnte ich mich einer gewissen Scham und Verlegenheit erwehren, einen Menschen ganz als lebendig zu fühlen und gleichzeitig zu wissen, daß er mich nicht so fühlte wie ich ihn. Auch jetzt hatte ich ein erstes Erschrecken zu überwinden, als ich diese toten, starr ins Leere hineingestellten Augen unter den aufgesträubten weißbuschigen Brauen sah. Aber der Blinde ließ mir nicht lange Zeit zu solcher Befremdung, denn kaum daß meine Hand die seine berührte, schüttelte er sie auf das kräftigste und erneute den Gruß mit stürmischer, behaglich-polternder Art. ›Ein seltener Besuch‹, lachte er mir breit entgegen, ›wirklich ein Wunder, daß sich einmal einer der Berliner großen Herren in unser Nest verirrt … Aber da heißt es vorsichtig sein, wenn sich einer der Herren Händler auf die Bahn setzt … Bei uns zu Hause sagt man immer: Tore und Taschen zu, wenn die Zigeuner kommen … Ja, ich kann mir’s schon denken, warum Sie mich aufsuchen … Die Geschäfte gehen jetzt schlecht in unserem armen, heruntergekommenen Deutschland, es gibt keine Käufer mehr, und da besinnen sich die großen Herren wieder einmal auf ihre alten Kunden und suchen ihre Schäflein auf … Aber bei mir, fürchte ich, werden Sie kein Glück haben, wir armen, alten Pensionisten sind froh, wenn wir unser Stück Brot auf dem Tische haben. Wir können nicht mehr mittun bei den irrsinnigen Preisen, die ihr jetzt macht … unsereins ist ausgeschaltet für immer.‹

Ich berichtigte sofort, er habe mich mißverstanden, ich sei nicht gekommen, ihm etwas zu verkaufen, ich sei nur gerade hier in der Nähe gewesen und hätte die Gelegenheit nicht versäumen wollen, ihm als vieljährigem Kunden unseres Hauses und einem der größten Sammler Deutschlands meine Aufwartung zu machen. Kaum hatte ich das Wort ›einer der größten Sammler Deutschlands‹ ausgesprochen, so ging eine seltsame Verwandlung im Gesicht des alten Mannes vor. Noch immer stand er aufrecht und starr inmitten des Zimmers, aber jetzt kam ein Ausdruck plötzlicher Helligkeit und innersten Stolzes in seine Haltung, er wandte sich in die Richtung, wo er seine Frau vermutete, als wollte er sagen: ›Hörst du‹, und voll Freudigkeit in der Stimme, ohne eine Spur jenes militärisch barschen Tones, in dem er sich noch eben gefallen, sondern weich, geradezu zärtlich, wandte er sich zu mir:
›Das ist wirklich sehr, sehr schön von Ihnen … Aber Sie sollen auch nicht umsonst gekommen sein. Sie sollen etwas sehen, was Sie nicht jeden Tag zu sehen bekommen, selbst nicht in Ihrem protzigen Berlin … ein paar Stücke, wie sie nicht schöner in der »Albertina« und in dem gottverfluchten Paris zu finden sind … Ja, wenn man sechzig Jahre sammelt, da kommen allerhand Dinge zustande, die sonst nicht gerade auf der Straße liegen. Luise, gib mir mal den Schlüssel zum Schrank!‹

Jetzt aber geschah etwas Unerwartetes. Das alte Mütterchen, das neben ihm stand und höflich, mit einer lächelnden, leise lauschenden Freundlichkeit an unserem Gespräch teilgenommen, hob plötzlich zu mir bittend beide Hände auf, und gleichzeitig machte sie mit dem Kopfe eine heftig verneinende Bewegung, ein Zeichen, das ich zunächst nicht verstand. Dann erst ging sie auf ihren Mann zu und legte ihm leicht beide Hände auf die Schultern: ›Aber Herwarth‹, mahnte sie, ›du fragst ja den Herrn gar nicht, ob er jetzt Zeit hat, die Sammlung zu besehen, es geht doch schon auf Mittag. Und nach Tisch mußt du eine Stunde ruhen, das hat der Arzt ausdrücklich verlangt. Ist es nicht besser, du zeigst dem Herrn alle die Sachen nach Tisch, und wir trinken dann gemeinsam Kaffee? Dann ist auch Annemarie hier, die versteht ja alles viel besser und kann dir helfen!‹
Und nochmals, kaum daß sie die Worte ausgesprochen hatte, wiederholte sie gleichsam über den Ahnungslosen hinweg jene bittend eindringliche Gebärde. Nun verstand ich sie. Ich wußte, daß sie wünschte, ich solle eine sofortige Besichtigung ablehnen, und erfand schnell eine Verabredung zu Tisch. Es wäre mir ein Vergnügen und eine Ehre, seine Sammlung besehen zu dürfen, aber dies sei mir kaum vor drei Uhr möglich, aber dann würde ich mich gern einfinden.

Ärgerlich wie ein Kind, dem man sein liebstes Spielzeug genommen, wandte sich der alte Mann herum. ›Natürlich‹, brummte er, ›die Herren Berliner, die haben nie für etwas Zeit. Aber diesmal werden Sie sich schon Zeit nehmen müssen, denn das sind nicht drei oder fünf Stücke, das sind siebenundzwanzig Mappen, jede für einen anderen Meister, und keine davon halbleer. Also um drei Uhr; aber pünktlich sein, wir werden sonst nicht fertig.‹

Wieder streckte er mir die Hand ins Leere entgegen. ›Passen Sie auf, Sie dürfen sich freuen – oder ärgern. Und je mehr Sie sich ärgern, desto mehr freue ich mich. So sind wir Sammler ja schon: alles für uns selbst und nichts für die andern!‹ Und nochmals schüttelte er mir kräftig die Hand.

Das alte Frauchen begleitete mich zur Tür. Ich hatte ihr schon die ganze Zeit eine gewisse Unbehaglichkeit angemerkt, einen Ausdruck verlegener Ängstlichkeit. Nun aber, schon knapp am Ausgang, stotterte sie mit einer ganz niedergedrückten Stimme: ›Dürfte Sie … dürfte Sie … meine Tochter Annemarie abholen, ehe Sie zu uns kommen? … Es ist besser … aus mehreren Gründen … Sie speisen doch wohl im Hotel?‹
›Gewiß, ich werde mich freuen, es wird mir ein Vergnügen sein‹, sagte ich.

Und tatsächlich, eine Stunde später, als ich in der kleinen Gaststube des Hotels am Marktplatz die Mittagsmahlzeit gerade beendet hatte, trat ein ältliches Mädchen, einfach gekleidet, mit suchendem Blick ein. Ich ging auf sie zu, stellte mich vor und erklärte mich bereit, gleich mitzugehen, um die Sammlung zu besichtigen. Aber mit einem plötzlichen Erröten und der gleichen wirren Verlegenheit, die ihre Mutter gezeigt hatte, bat sie mich, ob sie nicht zuvor noch einige Worte mit mir sprechen könnte. Und ich sah sofort, es wurde ihr schwer. Immer, wenn sie sich einen Ruck gab und zu sprechen versuchte, stieg diese unruhige, diese flatternde Röte ihr bis zur Stirn empor, und die Hand verbastelte sich im Kleid. Endlich begann sie, stockend und immer wieder von neuem verwirrt:
›Meine Mutter hat mich zu Ihnen geschickt … Sie hat mir alles erzählt, und … wir haben eine große Bitte an Sie … Wir möchten Sie nämlich informieren, ehe Sie zu Vater kommen … Vater wird Ihnen natürlich seine Sammlung zeigen wollen, und die Sammlung … die Sammlung … ist nicht mehr ganz vollständig … es fehlen eine Reihe Stücke daraus … leider sogar ziemlich viele …‹

Wieder mußte sie Atem holen, dann sah sie mich plötzlich an und sagte hastig:
›Ich muß ganz aufrichtig zu Ihnen reden … Sie kennen die Zeit, Sie werden alles verstehen … Vater ist nach dem Ausbruch des Krieges vollkommen erblindet. Schon vorher war seine Sehkraft öfters gestört, die Aufregung hat ihn dann gänzlich des Lichtes beraubt – er wollte nämlich durchaus, trotz seinen sechsundsiebzig Jahren, noch nach Frankreich mit, und als die Armee nicht gleich wie 1870 vorwärts kam, da hat er sich entsetzlich aufgeregt, und da ging es furchtbar rasch abwärts mit seiner Sehkraft, Sonst ist er ja noch vollkommen rüstig, er konnte bis vor kurzem noch stundenlang gehen, sogar auf seine geliebte Jagd. Jetzt ist es aber mit seinen Spaziergängen aus, und da blieb ihm als einzige Freude die Sammlung, die sieht er sich jeden Tag an … das heißt, er sieht sie ja nicht, er sieht ja nichts mehr, aber er holt sich doch jeden Nachmittag alle Mappen hervor, um wenigstens die Stücke anzutasten, eins nach dem andern, in der immer gleichen Reihenfolge, die er seit Jahrzehnten auswendig kennt … Nichts anderes interessiert ihn heute mehr, und ich muß ihm immer aus der Zeitung vorlesen von allen Versteigerungen, und je höhere Preise er hört, desto glücklicher ist er … denn … das ist ja das Furchtbare, Vater versteht nichts mehr von den Preisen und von der Zeit … er weiß nicht, daß wir alles verloren haben und daß man von seiner Pension nicht mehr zwei Tage im Monat leben kann … Dazu kam noch, daß der Mann meiner Schwester gefallen ist und sie mit vier kleinen Kindern zurückblieb … Doch Vater weiß nichts von allen unseren materiellen Schwierigkeiten. Zuerst haben wir gespart, noch mehr gespart als früher, aber das half nichts. Dann begannen wir zu verkaufen – wir rührten natürlich nicht an seine geliebte Sammlung … Man verkaufte das bißchen Schmuck, das man hatte, doch, mein Gott, was war das, hatte doch Vater seit sechzig Jahren jeden Pfennig, den er erübrigen konnte, einzig für seine Blätter ausgegeben. Und eines Tages war nichts mehr da … wir wußten nicht weiter … und da … da … haben Mutter und ich ein Stück verkauft. Vater hätte es nie erlaubt, er weiß ja nicht, wie schlecht es geht, er ahnt nicht, wie schwer es ist, im Schleichhandel das bißchen Nahrung aufzutreiben, er weiß auch nicht, daß wir den Krieg verloren haben und daß Elsaß und Lothringen abgetreten sind, wir lesen ihm aus der Zeitung alle diese Dinge nicht mehr vor, damit er sich nicht aufregt.

Es war ein sehr kostbares Stück, das wir verkauften, eine Rembrandt-Radierung. Der Händler bot uns viele, viele tausend Mark dafür, und wir hofften, damit auf Jahre versorgt zu sein. Aber Sie wissen ja, wie das Geld einschmilzt … Wir hatten den ganzen Rest auf die Bank gelegt, doch nach zwei Monaten war alles weg. So mußten wir noch ein Stück verkaufen und noch eins, und der Händler sandte das Geld immer so spät, daß es schon entwertet war. Dann versuchten wir es bei Auktionen, aber auch da betrog man uns trotz den Millionenpreisen … Bis die Millionen zu uns kamen, waren sie immer schon wertloses Papier. So ist allmählich das Beste seiner Sammlung bis auf ein paar gute Stücke weggewandert, nur um das nackte, kärglichste Leben zu fristen, und Vater ahnt nichts davon.

Deshalb erschrak auch meine Mutter so, als Sie heute kamen … denn wenn er Ihnen die Mappen aufmacht, so ist alles verraten … wir haben ihm nämlich in die alten Passepartouts, deren jedes er beim Anfühlen kennt, Nachdrucke oder ähnliche Blätter statt der verkauften eingelegt, so daß er nichts merkt, wenn er sie antastet. Und wenn er sie nur antasten und nachzählen kann (er hat die Reihenfolge genau in Erinnerung), so hat er genau dieselbe Freude, wie wenn er sie früher mit seinen offenen Augen sah. Sonst ist ja niemand in diesem kleinen Städtchen, den Vater je für würdig gehalten hätte, ihm seine Schätze zu zeigen … und er liebt jedes einzelne Blatt mit einer so fanatischen Liebe, ich glaube, das Herz würde ihm brechen, wenn er ahnte, daß alles das unter seinen Händen längst weggewandert ist. Sie sind der erste in all diesen Jahren, seit der frühere Vorstand des Dresdner Kupferstichkabinetts tot ist, dem er seine Mappen zu zeigen meint. Darum bitte ich Sie …‹

Und plötzlich hob das alternde Mädchen die Hände auf, und ihre Augen schimmerten feucht.
›… bitten wir Sie … machen Sie ihn nicht unglücklich … nicht uns unglücklich … zerstören Sie ihm nicht diese letzte Illusion, helfen Sie uns, ihn glauben zu machen, daß alle diese Blätter, die er Ihnen beschreiben wird, noch vorhanden sind … er würde es nicht überleben, wenn er es nur mutmaßte. Vielleicht haben wir ein Unrecht an ihm getan, aber wir konnten nicht anders: man mußte leben … und Menschenleben, vier verwaiste Kinder, wie die meiner Schwester, sind doch wichtiger als bedruckte Blätter … Bis zum heutigen Tage haben wir ihm ja auch keine Freude genommen damit; er ist glücklich, jeden Nachmittag drei Stunden seine Mappen durchblättern zu dürfen, mit jedem Stück wie mit einem Menschen zu sprechen. Und heute … heute wäre vielleicht sein glücklichster Tag, wartet er doch seit Jahren darauf, einmal einem Kenner seine Lieblinge zeigen zu dürfen; bitte … ich bitte Sie mit aufgehobenen Händen, zerstören Sie ihm diese Freude nicht!‹
Das war alles so erschütternd gesagt, wie es mein Nacherzählen gar nicht ausdrücken kann. Mein Gott, als Händler hat man ja viele dieser niederträchtig ausgeplünderten, von der Inflation hundsföttisch betrogenen Menschen gesehen, denen kostbarster jahrhundertealter Familienbesitz um ein Butterbrot weggegaunert war – aber hier schuf das Schicksal ein Besonderes, das mich besonders ergriff. Selbstverständlich versprach ich ihr, zu schweigen und mein Bestes zu tun.

Wir gingen nun zusammen hin – unterwegs erfuhr ich noch voll Erbitterung, mit welchen Kinkerlitzchen von Beträgen man diese armen, unwissenden Frauen betrogen hatte, aber das festigte nur meinen Entschluß, ihnen bis zum Letzten zu helfen. Wir gingen die Treppe hinauf, und kaum daß wir die Türe aufklinkten, hörten wir von der Stube drinnen schon die freudig-polternde Stimme des alten Mannes: ›Herein! Herein!‹ Mit der Feinhörigkeit eines Blinden mußte er unsere Schritte schon von der Treppe vernommen haben.

›Herwarth hat heute gar nicht schlafen können vor Ungeduld, Ihnen seine Schätze zu zeigen‹, sagte lächelnd das alte Mütterchen. Ein einziger Blick ihrer Tochter hatte sie bereits über mein Einverständnis beruhigt. Auf dem Tische lagen ausgebreitet und wartend die Stöße der Mappen, und kaum daß der Blinde meine Hand fühlte, faßte er schon ohne weitere Begrüßung meinen Arm und drückte mich auf den Sessel.

›So, und jetzt wollen wir gleich anfangen – es ist viel zu sehen, und die Herren aus Berlin haben ja niemals Zeit. Diese erste Mappe da ist Meister Dürer und, wie Sie sich überzeugen werden, ziemlich komplett – dabei ein Exemplar schöner als das andere. Na, Sie werden ja selber urteilen, da sehen Sie einmal!‹ Er schlug das erste Blatt der Mappe auf. ›Das große Pferd.‹

Und nun entnahm er mit jener zärtlichen Vorsicht, wie man sonst etwas Zerbrechliches berührt, mit ganz behutsam anfassenden schonenden Fingerspitzen der Mappe ein Passepartout, in dem ein leeres vergilbtes Papierblatt eingerahmt lag, und hielt den wertlosen Wisch begeistert vor sich hin. Er sah es an, minutenlang, ohne doch wirklich zu sehen, aber er hielt ekstatisch das leere Blatt mit ausgespreizter Hand in Augenhöhe, sein ganzes Gesicht drückte magisch die angespannte Geste eines Schauenden aus. Und in seine Augen, die starren mit ihren toten Sternen, kam mit einemmal – schuf dies der Reflex des Papiers oder ein Glanz von innen her? – eine spiegelnde Helligkeit, ein wissendes Licht.

›Nun‹, sagte er stolz, ›haben Sie schon jemals einen schöneren Abzug gesehen? Wie scharf, wie klar da jedes Detail herauswächst – ich habe das Blatt verglichen mit dem Dresdner Exemplar, aber das wirkte ganz flau und stumpf dagegen. Und dazu das Pedigree! Da‹ – und er wandte das Blatt um und zeigte mit dem Fingernagel auf der Rückseite haargenau auf einzelne Stellen des leeren Blattes, so daß ich unwillkürlich hinsah, ob die Zeichen nicht doch noch da waren –, ›da haben Sie den Stempel der Sammlung Nagler, hier den von Remy und Esdaile; die haben auch nicht geahnt, diese illustren Vorbesitzer, daß ihr Blatt einmal hierher in die kleine Stube käme.‹
Mir lief es kalt über den Rücken, als der Ahnungslose ein vollkommen leeres Blatt so begeistert rühmte, und es war gespenstisch mitanzusehen, wie er mit dem Fingernagel bis zum Millimeter genau auf alle die nur in seiner Phantasie noch vorhandenen unsichtbaren Sammlerzeichen hindeutete. Mir war die Kehle vor Grauen zugeschnürt, ich wußte nichts zu antworten; aber als ich verwirrt zu den beiden aufsah, begegnete ich wieder den flehentlich aufgehobenen Händen der zitternden und aufgeregten Frau. Da faßte ich mich und begann mit meiner Rolle.

›Unerhört!‹ stammelte ich endlich heraus. ›Ein herrlicher Abzug.‹ Und sofort erstrahlte sein ganzes Gesicht vor Stolz. ›Das ist aber noch gar nichts‹, triumphierte er, ›da müssen Sie erst die »Melancholia« sehen oder da die »Passion«, ein illuminiertes Exemplar, wie es kaum ein zweites Mal vorkommt in gleicher Qualität. Da sehen Sie nur‹ – und wieder strichen zärtlich seine Finger über eine imaginäre Darstellung hin – ›diese Frische, dieser körnige, warme Ton. Da würde Berlin kopfstehen mit allen seinen Herren Händlern und Museumsdoktoren.‹

Und so ging dieser rauschende, redende Triumph weiter, zwei ganze geschlagene Stunden lang. Nein, ich kann es Ihnen nicht schildern, wie gespenstisch das war, mit ihm diese hundert oder zweihundert leeren Papierfetzen oder schäbigen Reproduktionen anzusehen, die aber in der Erinnerung dieses tragisch Ahnungslosen so unerhört wirklich waren, daß er ohne Irrtum in fehlerloser Aufeinanderfolge jedes einzelne mit den präzisesten Details rühmte und beschrieb: die unsichtbare Sammlung, die längst in alle Winde zerstreut sein mußte, sie war für diesen Blinden, für diesen rührend betrogenen Menschen noch unverstellt da, und die Leidenschaft seiner Vision so überwältigend, daß beinahe auch ich schon an sie zu glauben begann. Nur einmal unterbrach schreckhaft die Gefahr eines Erwachens die somnambule Sicherheit seiner schauenden Begeisterung: Er hatte bei der Rembrandtschen ›Antiope‹ (einem Probeabzug, der tatsächlich einen unermeßlichen Wert gehabt haben mußte) wieder die Schärfe des Druckes gerühmt, und dabei war sein nervös hellsichtiger Finger, liebevoll nachzeichnend, die Linie des Eindruckes nachgefahren, ohne daß aber die geschärften Tastnerven jene Vertiefung auf dem fremden Blatte fanden. Da ging es plötzlich wie ein Schatten über seine Stirn hin, die Stimme verwirrte sich. ›Das ist doch … das ist doch die »Antiope«?‹ murmelte er, ein wenig verlegen, worauf ich mich sofort ankurbelte, ihm eilig das gerahmte Blatt aus den Händen nahm und die auch mir gegenwärtige Radierung in allen möglichen Einzelheiten begeistert beschrieb. Da entspannte sich das verlegen gewordene Gesicht des Blinden wieder. Und je mehr ich rühmte, desto mehr glühte in diesem knorrigen, vermorschten Manne eine joviale Herzlichkeit, eine biederheitere Innigkeit auf. ›Da ist einmal einer, der etwas versteht‹, jubelte er, triumphierend zu den Seinen hingewandt. ›Endlich, endlich einmal einer, von dem auch ihr hört, was meine Blätter da wert sind. Da habt ihr mich immer mißtrauisch gescholten, weil ich alles Geld in meine Sammlung gesteckt: Es ist ja wahr, in sechzig Jahren kein Bier, kein Wein, kein Tabak, keine Reise, kein Theater, kein Buch, nur immer gespart und gespart für diese Blätter. Aber ihr werdet einmal sehen, wenn ich nicht mehr da bin – dann seid ihr reich, reicher als alle in der Stadt, und so reich wie die Reichsten in Dresden, dann werdet ihr meiner Narrheit noch einmal froh sein. Doch solange ich lebe, kommt kein einziges Blatt aus dem Haus – erst müssen sie mich hinaustragen, dann erst meine Sammlung.‹

Und dabei strich seine Hand zärtlich, wie über etwas Lebendiges, über die längst geleerten Mappen – es war grauenhaft und doch gleichzeitig rührend für mich, denn in all den Jahren des Krieges hatte ich nicht einen so vollkommenen, so reinen Ausdruck von Seligkeit auf einem deutschen Gesichte gesehen. Neben ihm standen die Frauen, geheimnisvoll ähnlich den weiblichen Gestalten auf jener Radierung des deutschen Meisters, die, gekommen, um das Grab des Heilands zu besuchen, vor dem erbrochenen, leeren Gewölbe mit einem Ausdruck fürchtigen Schreckens und zugleich gläubiger, wunderfreudiger Ekstase stehen. Wie dort auf jenem Bilde die Jüngerinnen von der himmlischen Ahnung des Heilands, so waren diese beiden alternden, zermürbten, armseligen Kleinbürgerinnen angestrahlt von der kindlich-seligen Freude des Greises, halb in Lachen, halb in Tränen, ein Anblick, wie ich ihn nie ähnlich erschütternd erlebt. Aber der alte Mann konnte nicht satt werden an meinem Lob, immer wieder häufte und wendete er die Blätter, durstig jedes Wort eintrinkend: So war es für mich eine Erholung, als endlich die lügnerischen Mappen zur Seite geschoben wurden und er widerstrebend den Tisch freigeben mußte für den Kaffee. Doch was war dies mein schuldbewußtes Aufatmen gegen die aufgeschwellte, tumultuöse Freudigkeit, gegen den Übermut des wie um dreißig Jahre verjüngten Mannes! Er erzählte tausend Anekdoten von seinen Käufen und Fischzügen, tappte, jede Hilfe abweisend, immer wieder auf, um noch und noch ein Blatt herauszuholen: Wie von Wein war er übermütig und trunken. Als ich aber endlich sagte, ich müsse Abschied nehmen, erschrak er geradezu, tat verdrossen wie ein eigensinniges Kind und stampfte trotzig mit dem Fuße auf, das ginge nicht an, ich hätte kaum die Hälfte gesehen. Und die Frauen hatten harte Not, seinem starrsinnigen Unmut begreiflich zu machen, daß er mich nicht länger zurückhalten dürfe, weil ich sonst meinen Zug versäume.

Als er sich endlich nach verzweifeltem Widerstand gefügt hatte und es an den Abschied ging, wurde seine Stimme ganz weich. Er nahm meine beiden Hände, und seine Finger strichen liebkosend mit der ganzen Ausdrucksfähigkeit eines Blinden an ihnen entlang bis zu den Gelenken, als wollten sie mehr von mir wissen und mir mehr Liebe sagen, als es Worte vermochten. ›Sie haben mir eine große, große Freude gemacht mit Ihrem Besuch‹, begann er mit einer von innen her aufgewühlten Erschütterung, die ich nie vergessen werde. ›Das war mir eine wirkliche Wohltat, endlich, endlich, endlich einmal wieder mit einem Kenner meine geliebten Blätter durchsehen zu können. Doch Sie sollen sehen, daß Sie nicht vergebens zu mir altem, blindem Manne gekommen sind. Ich verspreche Ihnen hier vor meiner Frau als Zeugin, daß ich in meine Verfügungen noch eine Klausel einsetzen will, die Ihrem altbewährten Hause die Auktion meiner Sammlung überträgt. Sie sollen die Ehre haben, diesen unbekannten Schatz‹ – und dabei legte er die Hand liebevoll auf die ausgeraubten Mappen – ›verwalten zu dürfen bis an den Tag, da er sich in die Welt zerstreut. Versprechen Sie mir nur, einen schönen Katalog zu machen: Er soll mein Grabstein sein, ich brauche keinen besseren.‹

Ich sah auf Frau und Tochter, sie hielten sich eng zusammen, und manchmal lief ein Zittern hinüber von einer zur andern, als wären sie ein einziger Körper, der da bebte in einmütiger Erschütterung. Mir selbst war es ganz feierlich zumute, da mir der rührend Ahnungslose seine unsichtbare, längst zerstobene Sammlung wie eine Kostbarkeit zur Verwaltung zuteilte. Ergriffen versprach ich ihm, was ich niemals erfüllen konnte; wieder ging ein Leuchten in den toten Augensternen auf, ich spürte, wie seine Sehnsucht von innen suchte, mich leibhaftig zu fühlen: Ich spürte es an der Zärtlichkeit, an dem liebenden Anpressen seiner Finger, die die meinen hielten in Dank und Gelöbnis.

Die Frauen begleiteten mich zur Türe. Sie wagten nicht zu sprechen, weil seine Feinhörigkeit jedes Wort erlauscht hätte, aber wie heiß in Tränen, wie strömend voll Dankbarkeit strahlten ihre Blicke mich an! Ganz betäubt tastete ich mich die Treppe hinunter. Eigentlich schämte ich mich: Da war ich wie der Engel des Märchens in eine Armeleutestube getreten, hatte einen Blinden sehend gemacht für eine Stunde nur dadurch, daß ich einem frommen Betrug Helferdienst bot und unverschämt log, ich, der in Wahrheit doch als ein schäbiger Krämer gekommen war, um ein paar kostbare Stücke listig abzujagen. Was ich aber mitnahm, war mehr: Ich hatte wieder einmal reine Begeisterung lebendig spüren dürfen in dumpfer, freudloser Zeit, eine Art geistig durchleuchteter, ganz auf die Kunst gewandter Ekstase, wie sie unsere Menschen längst verlernt zu haben scheinen. Und mir war – ich kann es nicht anders sagen – ehrfürchtig zumute, obgleich ich mich noch immer schämte, ohne eigentlich zu wissen, warum.

Schon stand ich unten auf der Straße, da klirrte oben ein Fenster, und ich hörte meinen Namen rufen: Wirklich, der alte Mann hatte es sich nicht nehmen lassen, mit seinen blinden Augen mir in der Richtung nachzusehen, in der er mich vermutete. Er beugte sich so weit vor, daß die beiden Frauen ihn vorsorglich stützen mußten, schwenkte sein Taschentuch und rief: ›Reisen Sie gut!‹ mit der heiteren, aufgefrischten Stimme eines Knaben. Unvergeßlich war mir der Anblick: dies frohe Gesicht des weißhaarigen Greises da oben im Fenster, hoch schwebend über all den mürrischen, gehetzten, geschäftigen Menschen der Straße, sanft aufgehoben aus unserer wirklichen widerlichen Welt von der weißen Wolke eines gütigen Wahns. Und ich mußte wieder an das alte wahre Wort denken – ich glaube, Goethe hat es gesagt –: ›Sammler sind glückliche Menschen.‹«

Tagebuch 20. Oktober 2015 – Nur noch ein bisschen erkältet

Am Freitag rollte ich innerlich noch mit den Augen in Richtung meiner hustenden Kommilitoninnen – heute werde ich selbst zu einer trötenden Nervensäge werden. Allerdings nur im Seminar, die Vorlesung lasse ich ausfallen und gehe stattdessen wieder unter die Bettdecke.

Bis ich wieder was Spannendes erlebe, das über Taschentuchcount und gelbgrünen Auswurf hinausgeht (Oh look, made an MTV logo), möchte ich euch zwei lange Artikel aus der NYT ans Herz legen, die ich auch schon vertwitterte.

In The Lonely Death of George Bell wird erzählt, was passiert, wenn jemand in New York stirbt, der zunächst mal niemanden hat, der sich um ihn oder seine Hinterlassenschaft kümmert. Ein schönes Porträt eines bisher Unbekannten. Ich bin allerdings zweimal über obese gestolpert, ein Wort, von dem ich nicht wusste, was es in beiden Zusammenhängen zu suchen hatte, aber da mag ich inzwischen überempfindlich geworden sein.

The Strange Case of Anna Stubblefield ist anstrengender zu lesen, denn es geht um eine hochgebildete Frau, die sich (angeblich) in einen ihrer Schützlinge, einen Mann mit Lernschwierigkeiten verliebt, was schließlich vor Gericht landet. Ich hatte noch nie von facilitated communication gehört, um die es ebenfalls im Artikel geht.

Tagebuch 16. bis 19. Oktober 2015 – Erkältet

(Nur für die innere Statistik. Liege im Bett.)

Tagebuch 15. Oktober 2015 – E-Mails

Zum ersten Mal in einer Mail ein süddeutsches Idiom verwendet. Anstatt zu schreiben „Ich bleibe lieber zuhause“, schrieb ich, ohne lange darüber nachzudenken „Ich bleibe daheim.“ Ich stutzte erst, als die Worte da standen.

Wenn ich zuhause alleine rumpuschele, begleite ich manchmal das, was ich tue, mit Selbstgesprächen. (Ja, ich werde eine von den alten Frauen werden, die auf der Straße vor sich hinmurmeln.) Als ich gestern ein paar T-Shirts in die Wäsche warf, sagte ich laut: „Ihr kommts jetzt auch in die Wäsche.“ Anstatt „Ihr kommt jetzt auch in die Wäsche.“

Ich weiß noch nicht, ob mich das freut, dass sich hier Bairisch in mein wundervolles Hannoveraner Hochdeutsch einschleicht oder ob das wieder ein Teil des Abschiednehmens ist, der eher weh tut. Zefix!

Ein freundlicher Leser fragte mich etwas per Mail und ich zitiere mal (ich hoffe, ich darf):

„Ich habe ebenfalls kürzlich Inside Out gesehen und bei dem Film spontan an Sie und den Bechdel-Test (bestanden – sofern die Emotionen als Frauen durchgehen, oder?) gedacht. Insgeheim habe ich damit gerechnet, dass Sie die Darstellung von Sadness als pummeliges Mädchen mit Brille stereotypisch finden und war von Ihrer positiven Einschätzung überrascht.

Darf ich fragen: Wie kommts?“

Darüber musste ich, ehrlich gesagt, etwas nachdenken.

Ich meine mich daran zu erinnern, bei den ersten Bildern auch gedacht zu haben, ja nee klar, die Traurige ist dick. Oder andersrum: Die Dicke ist traurig. Geht ja auch gar nicht anders, wir wissen ja alle, dass dicke Menschen gar nicht glücklich sein können, sie sind ja schließlich dick.

Diese Gedanken rutschten aber bald in den Hinterkopf, weil Sadness im Film eine wichtige Rolle hat und sie der ewig und fast manisch gut gelaunten Joy etwas entgegenstellen kann – vielleicht auch durch ihr Körpergewicht. Ich mochte das gern, dass eine der beiden Hauptfiguren dick ist, denn jede positive Repräsentation eines dicken Menschen, auch wenn es hier eine computergenerierte Emotion ist, ist gut und wichtig bei der Normalisierung dieser Körperform in den Medien. Je mehr dicke Menschen ich sehe, desto mehr gewöhne ich mich an sie und empfinde sie nicht mehr als anders oder gar falsch. Außerdem mochte ich, dass Sadness alleine durch ihre Optik geerdeter ist, fester auf ihren Beinen steht, nicht so sprunghaft und hektisch umherrast wie Joy, sondern bedächtiger und überlegter unterwegs ist.

Ich habe ihre Fülle besonders in der Szene mit Bingbong als schön empfunden. Als die beiden sich gegenseitig trösten, ist bei mir der Eindruck des Anschmiegens geblieben, das Ankuschelnkönnens. Das heißt natürlich nicht, dass man sich nicht auch an schlanke Menschen rankuscheln kann. Aber die meisten von uns, glaube ich wenigstens, greifen bei Kuschelbedürfnis dann doch eher zum dicken Kissen oder der mummeligen Bettdecke, wenn kein Mensch in der Nähe ist, anstatt zum dünnen Joggingshirt und einem Handtuch.

Und eine Brille ist nie stereotyp. Eine Brille ist immer sexy.

Tagebuch 14. Oktober 2015 – Zwei neue Dozentinnen

Gestern wartete mein erstes Seminar auf mich: Ost-West-Dialoge. Zweimal deutsche Kunst nach 1960. Das hatte ich im ersten Belegverfahren nicht bekommen, im Nachrückverfahren schon. Dachte ich jedenfalls.

Die Dozentin ging die übliche Namensliste durch, auf der ich nicht auftauchte. Dann die Liste der Menschen, die im Nachrückverfahren einen Platz bekommen hatte, auf der ich auch nicht auftauchte. Dann fragte sie, wer hier säße, ohne einen Platz zu haben, und ich meldete mich zusammen mit drei Damen, die ähnlich sparsam guckten wie ich.

Die Platzvergabe läuft bei uns in Kunstgeschichte so: Im ersten Durchgang wählt man online alles, was man haben will oder muss und setzt per Drop-Down-Menü eine Priorität; das Seminar muss ich haben (Prio 1), das hier wäre toll (Prio 2), das hier ist nur dafür da, falls alles andere schiefgeht (Prio 3) usw. Sobald man einen Kurs angewählt hat, taucht er im elektronischen Stundenplan auf. In dieser Phase steht bei jedem Kurs „Angemeldet“, was aber nur heißt, dass man diesen Kurs gerne hätte. In den wenigen Tagen, in denen das System, das ich intern gerne HAL nenne, die Kurse vergibt, steht da „Platzvergabe noch nicht abgeschlossen, bitte warten“. Hat man einen Platz bekommen, steht da „Zugelassen“, ansonsten verschwindet der Kurs einfach vom Stundenplan.

In der Nachrückphase gilt: nix mehr mit Priorisieren, jetzt zählt Schnelligkeit. Wenn ein Kurs schon voll ist, kann er gar nicht mehr angeklickt werden. Hat man einen noch wählbaren und damit noch freien Kurs geklickt, erscheint das Seminar im Stundenplan, zusammen mit dem wunderbaren Wort „Zugelassen“.

So ergeben sich auch die zwei Namenslisten: Zuerst kamen die Glücklichen, die HAL nett fand, dann die Nachrücker. Und warum wir vier nicht auf einer dieser Listen standen, konnte uns die Dozentin auch nicht erklären. Wir haben von ihr alle einen Platz bekommen, hatten aber den Nachteil, uns bei der Referatsvergabe zurückhalten zu müssen, denn zuerst durften alle, die auf den Listen standen, sich ihre Sahnetorte raussuchen und wir kriegten dann die Selleriepizza.

Da der Kurs aber überfüllt ist, mussten die Referate sowieso doppelt und teilweise dreifach vergeben werden. Und das ist eigentlich etwas, was ich wirklich verabscheue: gemeinsam ein Referat erarbeiten zu müssen. In meinem Heimatkurs in Geschichte hatte ich das schon mal, aber da konnten wir drei ganz unterschiedliche Themen unabhängig voneinander bearbeiten. Hier lautet mein/unser Thema „Anselm Kiefer und die deutsche Mythologie“, und momentan fällt mir nur ein, dass wir uns jeder ein oder zwei Werke vornehmen und die getrennt voneinander vorbereiten. Wir werden sehen.

Wenn ich auf einer der Listen gewesen wäre, hätte ich mir ein Thema vorgeknöpft, das sonst keiner haben will. Das hat bis jetzt immer gut geklappt, und ich mag das eigentlich, Dinge so zu lernen, weil ich sie sonst schlicht nicht gelernt hätte. Da ich aber wusste, dass ich mich eh an jemanden ranhängen musste, konnte ich immerhin ein Thema wählen, das so halbwegs in meine drei großen Interessensgebiete passt, die ich im Master vertiefen will: Architektur, digitale Kunstgeschichte (die rückt allerdings immer mehr in den Hintergrund) und die Kunst des Nationalsozialismus. Kiefer hat sich in seinem Werk intensiv mit der NS-Zeit und ihrer Ikonografie auseinandergesetzt, und daher fand ich es logisch, ihn zu meinem Referatsthema zu machen. (Mal abgesehen davon, dass ich seine Kunst gerne anschaue.)

Was mir trotz der Überfüllung und der doofen Referatsvergabe gut gefallen hat, war die Dozentin und wie sie uns auf den Kurs eingestimmt hat. Sie begann mit den üblichen Formalien und teilte auch gleich einen Zettel aus, auf dem üppige Literaturhinweise waren (das erwarte ich eigentlich gar nicht, vor allem nicht in einem Hauptseminar – umso schöner, dass ich es bekomme) sowie eine genaue Aufstellung darüber, wie sie sich das Handout zum Referat und die Hausarbeit vorstellt. Sie erzählte uns dann noch, dass sie gerne kommentierte PDFs verschicke – „Da steht dann auch die Note drauf, dann haben Sie die eher, als sie im LSF (HAL) auftaucht.“ Sowas mag ich: alle Infos, die ich als Studi haben will, auf dem Silbertablett. Auch die Einführung in die einzelnen Referatsthemen war sehr gut, man wusste sofort, was das jeweils Reizvolle an jedem Thema war und wie es ins Gesamtseminar passte. Das Seminar selbst klang natürlich auch spannend, und obwohl mich das gemeinsame Referat per se erstmal nervt, möchte ich diesen Kurs ganz dringend weitermachen.

Heute nachmittag gucke ich mir einen Alternativkurs an, aber der muss sich schon verdammt lang machen.

Zwei Stunden später radelte ich ins Hauptgebäude, wo ich endlich mal wieder in meinem geliebten B201 saß; den baugleichen B101 nehme ich sogar noch lieber, dann muss ich nur in den ersten Stock klettern, was sich bei den riesigen Freitreppen des alten Gemäuers schon wie in den dritten Stock Altbau anfühlt. Der Hörsaal sieht auf allen Bildern wie ein schlimmer Holzsarg aus, aber ich mag die breiten Sitze gerne, man sieht überall gut, die Akustik ist angenehm und die Klimaanlage funktioniert (meist sogar zu gut, im Sommer habe ich hier immer ein Jäckchen dabei).

Auch hier eine für mich neue Dozentin, was aber kein Wunder ist, denn die Dame ist eine Vertretung. Ihr Vorlesungsthema: Artists on the Move. Künstlerische Reiseerfahrung seit der Frühen Neuzeit. Darunter konnte ich mir nur sehr schwammig etwas vorstellen, was auch leider nicht sofort entschwammt wurde. Die Dozentin präsentierte erst eine Viertelstunde vor Schluss ihren Seminarplan, den ich gerne von Anfang an gehabt hätte, um überhaupt zu wissen, wo die Reise (haha) hingehen soll.

Stattdessen sprang sie etwas hin und her, von Pilger- zu Handelsreisen und Forschungsexpeditionen, auf denen Künstler zugegen waren, vom Paradigmenwechsel, der sich um 1750 zutrug, als die Antikenbegeisterung nachließ und man sich auf die Heimat besonn, was bedeutete, dass die Grand Tour durch Italien etwas aus der Mode kam und man lieber im Harz wandern ging. Das erste Bild, das wir uns anschauten, war dann auch Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer, wofür sie sich fast entschuldigte – vermutlich guckten alle ähnlich wie ich, so „Was, den ollen Friedrich? Kenn ich, weiter!“ Spannend war dann aber der Kontrast, den sie zu diesem Bild aufmachte. Sie zeigte nämlich anschließend einen Blick vom Corcovado von Augustus Earle, der ähnlich angelegt ist wie der Wanderer. Wir sehen eine männliche Figur in Rückansicht, die beide über eine Berglandschaft schauen. Bei Friedrich sieht es so aus, als ob der Mensch die Natur bezwungen habe, bei Earle hingegen scheint der Mann völlig überwältigt zu sein von der Schönheit, die sich ihm bietet.

Und damit waren wir beim Thema Augenzeugenberichte, als die künstlerische Umsetzung von Landschaften gelten können, die aber niemals objektiv sind und dementsprechend vorsichtig interpretiert werden müssten. Wir sprachen über die kulturelle Voreingenommenheit von reisenden Europäern, wenn sie andere Kontinente bereisten, wir lernten, dass Reisen in der Frühen Neuzeit ein fast ausschließlich männliches Phänomen war (I am Jack’s total lack of surprise), wir hörten, dass viele Expeditionen bestimmte Künstler anfragten, damit sie die Reise visuell begleiteten. Das klang alles so spannend, wie ich es mir erhofft hatte – der einzige Wermutstropfen bleibt die momentan noch etwas unkoordiniert scheinende Rangehensweise ans Thema und dass die Dozentin leider fast komplett abliest. Das strengt mich beim Zuhören ungemein an, und leider produziert ein derartig strenges Skript gerne Sätze, die gelesen super sind, gehört aber nur schwer verständlich.

Wobei ich gestern etwas sah, das ich noch nicht kannte: Mehrere Kommilitoninnen ließen die ganzen 90 Minuten ihr Smartphone auf Aufnahme mitlaufen, um den Ton mitzuschneiden. So haben sie immerhin auch die Antwort auf die übliche Erste-Sitzung-Scheißfrage aus den hinteren Reihen: „Kommen in der Klausur mehr Multiple-Choice- oder mehr Essay-Fragen dran?“

*schnauf*

Tagebuch 13. Oktober 2015 – Barockes

Morgens einen Termin bei meiner Hausärztin gehabt. Ich muss am Sendlinger Tor aus der U-Bahn steigen, um zu ihr zu kommen, und anstatt den nächstgelegenen Ausgang zu nehmen, nehme ich den, bei dem ich durchs Tor gehen kann. Damit trete ich kurz in das mittelalterliche München, denn das Tor war eins der vier Stadttore, die unter Ludwig dem Bayern gebaut wurden, und gucke stadtauswärts in Richtung Italien. Bzw. heute in Richtung Lindwurmstraße.

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Ich kann mich bei Bildern mit mehreren Geraden nie entscheiden, welche ich parallel zur Bildkante setze. Wenn das Tor gerade ist, ist die Straße schief, und das sah in diesem Fall noch seltsamer aus als das Bild, das jetzt hier oben steht. Ich muss mich allmählich mal von meiner Freundin beraten lassen, wie man Architektur anständig abbildet.

Nach dem Termin schlenderte ich die wenigen Meter zur Asamkirche, die eigentlich St. Johann Nepomuk heißt, aber außer vielleicht von Kunsthistoriker_innen (hust) nicht so genannt wird. Barocker wird’s in München nicht mehr, wie man an den Bildern erahnen kann. Ich glaube, jede/r Münchner_in schleppt Besuch von auswärts in diese Kirche, weil sie so einzigartig ist. Sie ist ziemlich klein für das, was alles an Deko in ihr drin ist, und überwältigt beim ersten Ansehen völlig.

Mich überwältigt sie immer noch, und ich habe auch immer noch nicht alle Details gesehen, weil mein Kopf irgendwann nach der klaren Romanik wimmert und nach Hause möchte.

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Wenn man die Sendlinger Straße entlanggeht, fällt die Kirche kaum auf. Sie ist ziemlich schmal, und auch wenn die Fassade hier ordentlich vor sich hinbarockt (ein Schwung hier, einer da, ach komm, ich lass die Mauer noch mal vor- und zurückspringen, hier noch einen Pilaster, dort noch ne Säule, oh hey, ich hab noch Platz für ein Motivfeld, wo-hoo, und JETZT dengele ich noch Ornamente dran), sieht sie im Straßenbild längst nicht so bombastisch aus wie das Foto vermuten lässt. Vielleicht auch, weil sie nicht frei steht, sondern direkt von Gebäuden umschlossen ist.

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Nach einem kleinen Vorraum, der durch ein Gitter vom Hauptraum abgetrennt ist, steht man dann drin. Und so sieht’s in Richtung Altar aus. Vielleicht mal hinsetzen und gucken? Zum Beispiel, wo eigentlich das Licht herkommt. Einmal durch das große Fenster über dem Altarraum. Aber dann scheint es auch hinter dem oberen Sims hervor, ohne dass wir sehen können, wo genau es herkommt. Das ist mein Lieblingserstaunen in barocken Kirchen – die Lichtführung.

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Noch toller ist es, wenn wir uns wieder in Richtung Ausgang drehen und nach oben schauen. Über dem Gitter, das ich eben erwähnte und das natürlich auch ein winziges bisschen verziert ist, beginnt das Emporengeschoss. Gegenüber vom Altar ist ein zweites Fenster, und das Licht, was hier hereinscheint, finde ich sogar noch effektvoller. Das pastellige Deckengemälde sieht noch weicher aus, die goldenen Ornamente scheinen zu leuchten. Und gestern war nur ein diesiger, grauer Tag. Stellt euch das mal bei richtigem Sonnenschein vor.

Die Wand im Emporengeschoss ist natürlich nicht plan – wir sind schließlich im Barock –, sondern durch unter anderem Halbsäulen und Motivfelder unterteilt. Das heißt, das Licht scheint nicht einfach so banal auf eine Wand, sondern wird durch die Wandgestaltung modelliert. Es entstehen Schattenkanten, die die Wand effektvoll aufteilen.

Hier sieht man auch die Balustrade ganz hübsch. Die ist nicht gerade, sondern geschwungen und springt dazu auch noch manchmal nach vorne, wie hier mit dem kleinen Motivfeld unter der Säule im Emporengeschoss. Dieses Vor- und Zurückspringen ist das simpelste Unterscheidungsmerkmal zur Renaissance. Jene Fassaden haben zwar auch schon Säulen und Pilaster und Zeug, sind aber relativ aufgeräumt. Der Barock, die ADHS-Epoche der Kunstgeschichte, kann nie seine Einzelteile stillhalten und hüpft dauernd hin und her.

Mir ist nach den Dutzenden von Kirchen, die ich mir in den letzten Jahren angeguckt habe, aufgefallen: Ich schaue gerne nach hinten zum Ausgang. Dass der Altar vorne was von mir will, ist ja klar. Aber ich finde es viel spannender zu sehen, was im hinteren Teil der Kirche passiert, dort, wo die Raummodellierung beginnt, die ich vorne sehe und spüre.

Aber ich gucke auch bei Autos lieber die Heckpartie an. Front kann ja jeder.

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So geht das Emporengeschoss weiter. Die Vorhänge, die unter dem runden Fenster und auf der Balustrade hängen, sind nicht aus Stoff, sondern aus bemaltem Holz. Mein Lieblingsdetail hier sind die goldenen Girlanden, die farbig in den Marmorpilastern wieder aufgegriffen werden, fast wie ein heller Schatten.

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Der Nachteil an Barockkirchen: Man kriegt nie alles aufs Bild, was man haben möchte. Hier musste ich mich zwischen den Engelsflügeln entscheiden und dem Jesus, der ganz oben unter der Kirchendecke hängt. Ich habe den Heiland ganz gelassen und die Flügel etwas beschnitten.

Abends waren F. und ich noch im Theater, wo ich mich eine gute Stunde langweilte und ärgerte (schnarchige Technologiekritik). Dazu habe ich nur einen Tweet als Feedback.

Nach dem Theater saßen wir noch auf ein Bierchen im Blauen Haus und daddelten auf unseren iPhones rum. (Vielleicht war die Technologiekritik doch nicht so falsch.) Dabei erinnerte ich mich an die URL, die uns Sonntag im Theater mitgeteilt wurde und klickte mal auf Download. Montag in der Kritik noch rumgetönt, klar, Mein Kampf runterladen und lesen, würd ich alles machen, kein Ding. Aber jetzt, wo es in meiner iBooks-Bibliothek steht, fühlt sich das auf einmal doch sehr unangenehm an. Mal sehen, wie lange es dauert, bis ich es lösche.

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Tagebuch 12. Oktober 2015 – 12 von 12 im Oktober

Zwölf Bilder vom Tag. Andere gibt’s wie immer bei Draußen nur Kännchen.

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Mein übliches Frühstück (aus dem Hintergrund: „Boring!“) aus Cappuccino und Multivitaminsaft. Auf meinem Tablett lag auch noch das Programmheft zum Theaterabend vom Sonntag, den ich verbloggen wollte.

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Hiermit erledigt.

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Gestern ging das WS 2015/16 los – oder anders: mein erstes Semester im Master. Ich freue mich seit Tagen, ach, Wochen wie ein Idiot. Die erste Amtshandlung in jedem Semester ist immer, den Stundenplan auszudrucken, weil ich mir erst nach zwei Wochen gemerkt habe, in welche Gebäude und Räume ich muss. Die Uhrzeiten weiß ich schon vorher auswendig.

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Mein geliebter Le 7 (Rosé-Perlwein) geht zur Neige. Ich habe nur noch lausige 20 Flaschen, wobei ich immerhin in Hamburg noch eine Kiste mit sechs Fläschchen fand, was meinen Umzugsschmerz kurz lindern konnte. allemanfang hatte aber einen guten Tipp parat, was meine Ersatzdroge werden könnte. Auf den Mann höre ich blind, wenn’s um Wein geht. Bestellt.

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Nach so viel Tippen und Geld ausgeben war ich hungrig. Frühstück Teil 2 mit dem letzten selbstgemachten Lemon Curd. Gleich mal neuen anrühren, so herrlich wie er immer aussieht.

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Und dann war es endlich halb 12 und ich durfte zur Uni. Ich mag es am liebsten, wenn die Uni um 10 anfängt, aber das klappt in diesem Semester nur ein einziges Mal. Sonst ist es immer mindestens 12, und wenn ich einen Kurs behalte, bei dem ich noch nicht weiß, ob ich das will, fange ich sogar an einem Tag erst um 16 Uhr an. 16 Uhr?! Da denkt mein Kopf doch schon an Feierabend und „Was koche ich denn nachher?“

Im Bild mein Hamburgfahrrad. Im wahrsten Sinne des Wortes.

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Erste (und für heute einzige) Vorlesung: Baukunst der frühen Neuzeit – Barock und Klassizismus. Wir begannen mit der Definition von Barock und Rokoko, ordneten ihn zeitlich ein – 1570/80 bis 1630 Frühbarock, 1630 bis 1700/20 Hochbarock, 1710/20 bis 1760/80 Spätbarock. Rokoko fällt zeitlich ungefähr zusammen mit dem Spätbarock, ist aber nicht das gleiche: Rokoko ist ein reiner Ausstattungs- und Dekorstil und beschränkt sich auf den Innenraum. Beides hat sich aber natürlich gegenseitig beeinflusst.

Die Bezeichnungen für diese beiden Stilrichtungen waren zunächst negativ und zeigten den Unterschied zur Klassik. Barock bedeutet übertragen „schief, ungeformt, gekrümmt“, Rokoko kommt von der geschwungenen Form der Rocaille. Heute gilt Barock als eine der prachtvollsten Epochen der Kunstgeschichte. Das wusste ich alles so halb von verschiedenen Kunstwerken, fand es aber nett, es nochmal gerafft und sinnvoll geordnet präsentiert zu bekommen.

Wir lernten kurz etwas zum historischen Hintergrund, den Unterschied zwischen den Barockkirchen in Rom und den Barockschlössern in Frankreich und besahen uns dann den ersten großen Barockbau: den Neubau des Petersdoms. Die Baugeschichte dieser Kirche war mir schon im ersten (oder zweiten) Semester in der Einführung zur Kunstgeschichte begegnet. Damals hatte mich die lange und komplizierte Baugeschichte völlig überfordert. Jetzt mit ein bisschen mehr Vorwissen und architektonischem Vokabular ausgestattet, war die Entwicklung von einem Zentralbau zu einem Longitudinalbau total nachvollziehbar.

Der Petersdom war zu Michelangelos Tod ein Zentralbau, dem allerdings noch die Ostfassade fehlte. 1607 wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben, bei dem die Fassade endgültig zu den Akten gelegt wurde, denn nun meinte man, ein Langhaus wäre echt super. (Ich persönlich fand das Langhaus eher doof. Wobei mir die Rom-Einträge aus kunsthistorischer Sicht heute sehr peinlich sind, aber da müssen wir jetzt durch. Ich vor allem.) Carlo Maderno gewann die Ausschreibung und machte nun nicht das, was der Dozent in einem kurzen Seitenhieb vielen heutigen Architekt_innen vorwirft, nämlich dass sie eher auf Kontrast gehen anstatt auf Einheit. Maderno zeigte stattdessen Respekt vor dem Ausgangsmaterial, griff den Stil der Bramante’schen Säulen und die der klassischen Proportionen Michelangelos auf und schuf ein Bauwerk, das trotz diverser Architekten und einer Bauzeit von 120 Jahren so ziemlich wie aus einem Guss aussieht.

Ein Detail faszinierte mich besonders:

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(Das ist aus der PowerPoint unseres Dozenten; ich habe leider keine Quellenangabe.)

Der deutlich sichtbare Schildbogen trennt den alten Zentralbau (hinten) vom neuen Langhaus (vorne). Der flache Pilaster des Zentralbaus wird zu einem deutlich plastischeren im Langhaus; man sieht den Unterschied, aber das Neue ist eine gewollte Referenz an das Alte. Außerdem zu sehen: Das Tonnengewölbe vom Langhaus setzt weiter außen an; das Langhaus ist breiter als der Zentralbau, was das Bauwerk etwas großzügiger macht. Das Licht kommt allerdings nicht mit. Der neue Petersdom ist eine Saalkirche mit verschatteten Abseiten. Eine Abseite ist quasi ein Nebenraum zum Hauptschiff; es ist aber kein Seitenschiff, denn es kann nicht durchschritten werden, sondern besteht aus einzelnen Kammern, bzw. hier Kapellen. Jede dieser Kapellen ist mit einer Kuppel ausgestattet, die die große Hauptkuppel Michelangelos zitiert. Neu ist hier die ovale Form, die durch die rechteckigen Anlage der Abseiten bedingt wird.

Hier sieht man eine Abseite vorn rechts im Bild, man kann die Kuppel erahnen.

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Wir sprachen abschließend noch über die Fassade, die eigentlich zwei Türme seitlich der Kuppel hätte bekommen sollen, aber anscheinend sind alle ganz froh, dass das nicht geklappt hat und St. Peter heute so aussieht wie er eben aussieht.

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Von der großen Kirche in den kleinen Keller: Als ich nach Hause kam, zerrte ich die zweite Matratze meines ehemaligen Bettes aus der Wohnung. Das Bett hatten F. und ich auseinandergebaut, bevor die Umzugsjungs kamen, es steht von Kartons verdeckt rechts an der Wand. Eigentlich wollte ich die Matratze erst runterschleppen, wenn die Kartons abgeholt wurden, aber das scheint noch zu dauern. Die Matratze lehnte aber genau vor der Heizung, und genau die wollte ich heute endlich mal anmachen.

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Done. Die Farbspritzer sind noch von meiner Vormieterin und mir sehr egal.

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Wäsche zusammengelegt. Vorne auf dem Wäscheständer hängt mein Dirndl, das jetzt nicht mehr nach Oktoberfest riecht. Oben drauf liegen zwei meiner geliebten Geschirrtücher, die mir Mama vor 100 Jahren zum Auszug mitgab. Sie müssten aus den 70er Jahren sein und ich habe die letzten 25 Jahre damit zugebracht, einen adäquaten Ersatz zu finden, weil sie ja doch recht schlicht aussehen. Ich habe aber nie wieder ein Handtuch gefunden, das so streifen- und fusselfrei abtrocknet. Daher werde ich diese Handtücher benutzen, bis sie auseinanderfallen.

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Dank F. ist seit gestern wieder mein Lieblingsdarjeeling im Haus. Gleich mal eine Kanne davon aufgebrüht.

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Zum Abschluss des Tages verarbeitete ich die letzte übriggebliebene Roulade von Samstag zu einer Bœuf-Stroganoff-Variante (Weißwein, Sahne, Zwiebel, fertig). Das Rote ist kein blutiges Fleisch, sondern der Schinkenspeck aus dem Inneren der Roulade.

Tagebuch 11. Oktober 2015 – MK

Morgens entspannt neben F. aufgewacht und mich mal wieder darüber gefreut. Der Herr brach allerdings recht zeitig auf, weil er mir einen großen Gefallen tun wollte.

Ich hatte eine Kiste Crémant in meine Packstation um die Ecke bestellt. Selbst wenn die Kiste nicht ordentlich in meinen Gepäckträger passen sollte, ist die Packstation so nahe zu meiner Haustür, dass ich die Kiste unordentlich, also schräg, in den Gepäckträger packen und mein Fahrrad nach Hause schieben könnte, damit das herrliche Gut nicht runterfällt und kaputtgeht. Aber: Die Kiste landete nicht in dieser, sondern in einer weiter entfernten Packstation, und weil F. mich und meine Puddingärmchen plus memmigen Rücken kennt (der tut seit Jahren nicht mehr weh, aber ich tue auch alles dafür, dass er das eben nicht mehr macht und dazu gehört auch, keine verdammten Sektkisten zu schleppen), wollte er sich mal eben flugs in Bus und Tram setzen und die Kiste holen.

Wer in München wohnt, weiß, was gestern war: Marathon. Und natürlich führte die Strecke quasi genau an der Packstation vorbei. Das merkte F. allerdings erst, als er in der Tram saß, die warten musste. Der gute Mann war über eine Stunde unterwegs, bis er wieder bei mir war (höchst genervt). Und das Sahnehäubchen: In der Packstation war keine schwere Kiste Alkohol, sondern eine luftig-leichte Kiste Tee, von der die Versandbestätigung drei Tage nach der des Crémant kam und mit der ich deswegen noch gar nicht gerechnet hatte.

Als Entschädigung kochte ich mal eben drei Gänge zum Mittag, entkorkte einen anständigen Roten und schmiss ne Runde Espresso.

Abends gingen wir in die Kammerspiele und sahen Adolf Hitler: Mein Kampf, Band 1 & 2. Das Stück ist eine Art dokumentarische Performance, die nicht von Schauspieler_innen, sondern von Laien ausgeführt wird. Auf der Bühne versammelten sich mehrere Anwält_innen, darunter ein jüdischer, in Tel Aviv geboren, in den USA aufgewachsen, ein Buchrestaurator aus Weimar, ein Musiker mit türkischen Vorfahren und ein blinder Redakteur. Sie alle erzählen von ihren Erfahrungen mit dem Buch.

Die Anwältin Sibylla Flügge las das Buch erstmals 1965 als Jugendliche. Und weil sie noch ein Weihnachtsgeschenk für ihre Eltern suchte, fasste sie das Buch zusammen, tippte es ab, band es hübsch ein und verschenkte es: „Mein Kampf von Adolf Hitler. Gekürzt von Sibylla Flügge.“ Die junge Anwältin Anna Gilsbach fragte per Brief bei der deutschen Antarktisstation nach, ob das Buch dort in der Bibliothek zu lesen sei. Der blinde Redakteur konnte mit dem Symbol auf der Braille-Ausgabe zunächst nichts anfangen, er wusste schlicht nicht, wie ein Hakenkreuz aussieht. Für ihn hat das Buch hingegen einen Klang, den die Akteur_innen im Laufe des Stücks nachzubilden versuchten.

Als ich gestern aus dem Theater kam, wusste ich noch nicht so recht, was ich davon halten sollte. Mittendrin kam mir der Vergleich „Das ist ein bisschen so, als ob man zuhört, wie jemand einen Wikipedia-Artikel vorliest“, weil im Stück viele Fakten und Daten zum Werk präsentiert werden, es wurden Ausschnitte vorgelesen und aufs Bühnenbild projiziert, wir bekamen diverse Ausgaben aus der ganzen Welt gezeigt, und wir lernten, dass das Buch als antiquarische Ausgabe nicht verfassungswidrig ist, denn die Verfassung der Bundesrepublik existierte ja noch gar, als das Buch gedruckt wurde.

Die ganzen Fakten wurden aber von den persönlichen Geschichten zusammengehalten, wie eben die skurrile von Flügge oder auch die fast schon obsessive von Alon Kraus, dem jüdischen Anwalt. Er las das Buch zunächst auf Englisch, dann auf Hebräisch, schließlich auf Deutsch, und er meint, es gehört zu den wichtigsten Büchern überhaupt, es müsse gelesen werden. Dem gegenüber steht die deutlich weiter verbreitete Meinung, dass das Buch Schrott sei und ignoriert werden darf. Grund für die theatralische Auseinandersetzung mit dem Werk ist das am 1. Januar 2016 auslaufende Urheberrecht. Seit Jahren arbeiten Historiker_innen an einer kommentierten Fassung, auf die ich persönlich sehr gespannt bin.

Ich habe das Buch vor sehr langer Zeit mal angefangen, bin aber nicht über ungefähr 80 Seiten hinweggekommen. Ich glaube auch nicht, dass das Buch ignoriert werden sollte, denn es ist ein wichtiger Quellentext. Im Stück bekamen wir auch Ausschnitte aus einer Knesset-Debatte präsentiert, als es um die hebräische Ausgabe ging. Auch dort reichte das Meinungsspektrum von „Verbieten“ über „Ignorieren“ bis zu „Wissenschaftlich aufarbeiten und zugängig machen“. Ein Geschichtsprofessor aus Tel Aviv (?, weiß ich nicht mehr genau) erzählte, wie schwierig es anfangs in Israel war, an diesen Text zu kommen, so dass schließlich Teile selbst übersetzt und weitergereicht wurden, weil es keine offizielle Ausgabe gab.

Das ganze Stück rannte in für mich derzeit weit offene Türen. Mein Interesse an der Kunst des Nationalsozialismus ist gerade sehr groß, und ich weiß, dass noch lange nicht alles kunsthistorisch aufgearbeitet ist, was zwischen 1933 und 1945 produziert wurde. Die Argumente sind ähnlich wie die im Umgang mit Hitlers Buch: „Das ist Schmuddelkram, das braucht keiner mehr, das ignorieren wir einfach weg.“ Was ich für einen Fehler halte. Ich würde gerne mal NS-Kunst auf Bezüge zu Mein Kampf untersuchen; das müsste ja, bei einer Verbreitung von 12 Millionen Exemplaren, wie ich gestern gelernt habe, doch ein halbwegs bekannter Text gewesen sein, der sich vermutlich auch in der Ikonografie niedergeschlagen hat. Man könnte die NS-Kunst genauso brav auf schriftliche Quellen abklopfen, wie die Kunstgeschichte das seit 200 Jahren mit Bibelstellen in christlicher Kunst gemacht hat. (Wobei es sicher noch schlauere Rangehensweisen gibt, aber das wäre halt eine.)

Ich fand das Stück sehr interessant, auch wenn es ein bisschen Mühe kostet, sich in das, vorsichtig ausgedrückt, Laienschauspiel einzuhören. Was mir überhaupt nicht gefallen hat, waren die kurzen Schlenker zum Linksterrorismus sowie zu Hitlers Geburtshaus in Braunau. Das war für mich Zeitschinden und ging mir zu weit vom Buch weg. Denn der Rest des Abends beschäftigte sich wirklich nur mit dem Inhalt und den Auswirkungen dieses Werks. Eine hübsche Idee war, das Buch mal eben aus dem Internet zu laden und auszudrucken, wobei Gilsbach nicht müde wurde zu betonen, dass das gerade Urheberrechtsverletzung sei. Aber mit dem Ausdruck war es nicht getan: Buchrestaurator Hageböck fertigte aus dem Ausdruck flugs ein gebundenes Buch – das er dann an einen Gast im Publikum reichte, gleich mit Leselicht. Auch das ist laut Strafgesetzbuch schon grenzwertig, denn wer weiß, wer der Gast in Reihe 3, Platz 4 war und wie er auf diese Schrift reagierte. Die Verteilung zum Zweck der Volksverhetzung ist strafbar, die zu historischen Studien nicht.

Die Truppe führte vor der gestrigen Premiere ein kleines Experiment durch: Sie gaben sich selbst zwei Stunden Zeit und 120 Euro Budget, um ein Mein Kampf in München aufzutreiben. Ich verrate nicht, ob sie Erfolg hatten, dafür müsst ihr schon selbst in die Kammerspiele gehen, was ich euch sehr ans Herz legen möchte.

Ich schrieb oben, dass ich nach Stückende noch nicht so recht wusste, was ich davon halten sollte. Aber: Direkt danach diskutierten F. und ich darüber, und auch heute morgen war das unser erstes Gesprächsthema. Es werden einem viele Brocken hingeworfen, die einen beschäftigen, und wo ich gestern dachte, naja, das war halt ein buntes Potpourri und nu? denke ich heute: Da ist eine Menge Zeug, aus dem ich was machen kann.

Die erste Reaktion heute morgen war, mal im OPAC zu gucken, ob wir das Buch eigentlich in der Uni-Bibliothek haben. Haben wir – in diversen Ausführungen, in verschiedenen Zweigstellen, größtenteils als Originalausgaben von vor 1945. Und die stehen offen rum, zum Beispiel im Historicum, und nicht im Giftschrank. Die Stabi hatte, laut Performance, mal 300 Exemplare, aber jetzt sind nur noch gut 70 vorhanden, die man auch nur im Lesesaal lesen und nicht ausleihen darf.

Das Kürzel MK im Titel dieses Eintrags ist von Gilsbach entliehen, die ihre E-Book-Version nur unter diesen zwei Buchstaben auf ihrem Smartphone gespeichert hat. Im Stück kam auch die Frage auf: Würdet ihr euch mit diesem Buch ins Café setzen und es offen lesen, was Raunen im Publikum hervorrief. Darüber denke ich auch seit gestern nach: Ich würde es runterladen oder kaufen. Ich würde es lesen. Aber ich hätte ein komisches Gefühl dabei, es in der Öffentlichkeit zu tun.

Auch deswegen noch mal der Schlenker zur Kunst bzw. zur #GegenKunst, die gerade in der Pinakothek der Moderne zu sehen ist. Nichts entmystifiziert diesen Kram mehr als eine direkte, persönliche Auseinandersetzung damit. Guckt euch diese Bilder an, lest das Buch. Und geht ins Theater.

Tagebuch 10. Oktober 2015 – Guess who’s coming to dinner

Gestern lud ich den ehemaligen Mitbewohner zum spontanen Dinner ein. Diese grandiose Idee hatte ich allerdings erst Mittags, daher hatte ich nicht viel Zeit, um über ein Menü nachzudenken und einzukaufen, geschweige denn irgendwas groß vorzubereiten. Also musste etwas schnell Kochbares her und etwas, das keine 8000 Zutaten erforderte, für die ich durch die halbe Stadt musste.

Geworden sind es ein Feldsalat mit Radieschen und meinem geliebten Kartoffeldressing als Vorspeise, Rinderrouladen mit Pesto und Sellerie-Tomaten-Gemüse als Hauptgang sowie eine schlichte Mokkacreme auf Basis der Bayerischen Creme zum Dessert. Das Kochen war eine größere Herausforderung als ich dachte, und ich habe mal wieder gemerkt, dass dieser Umzug immer mehr einer Entwurzelung gleicht, an der ich länger zu knabbern habe.

Ich habe in unserer Hamburger Küche Kochen gelernt. Dort nahm mich Lu vor gerade mal sechs Jahren unter ihre Fittiche, um mir die basicsten Basics beizubringen, meine Faszination für Wein zu wecken und überhaupt in mir die kleine Köchin wachzurütteln, die anscheinend schon länger da war, aber jemanden brauchte, der sie in die richtige Richtung schubste. Vieles von dem, was mir Lu beibrachte, ist mir in Fleisch und Blut übergegangen, vieles habe ich verändert, anderes wieder sein gelassen. Aber meine ganze Entdeckungsreise zu genussvollem Essen und als unerwartete Folge zu einem neuen, positiven Körpergefühl hat in unserer Hamburger Küche begonnen. Ich konnte irgendwann alle Handgriffe im Schlaf, wie man das eben so in der eigenen Wohnung kann; genau wie man nachts den Weg aufs Klo findet, ohne Licht anmachen zu müssen – man ist da halt zuhause und alles ist da, wo es hingehört.

Mir ist schon klar, dass alle Handgriffe in einer anderen Wohnung neu erlernt werden müssen. Genau das habe ich die letzten drei Jahre hier in München gemacht – aber eben mit meiner rudimentären Münchner Kücheneinrichtung, die nie für das große Galadinner vorgesehen war. Jetzt ist mein Bratentopf hier, mein geliebter Zerkleinerer, mein Mörser, die richtig guten Messer, das Goldrandgeschirr und mein Silber. Ich fasste gestern also vieles an, das mir seit Jahren vertraut ist, aber nun auf einmal an einem ganz anderen Ort liegt. Für das Geschirr ging ich nicht zum Esszimmerschrank, sondern zog eine Umzugskiste aus der Abstellkammer, in der Silber und Geschirr liegt, weil es schlicht keinen Schrank mehr gibt, in das es passt. Für den Zerkleinerer musste ich auf meine Leiter steigen, weil er oben auf dem Küchenschrank liegt anstatt in Griffhöhe in der Speisekammer. Die guten Messer liegen nicht griffbereit rechts neben, sondern hinter mir auf der metallenen Anrichte, die ich mir vor drei Jahren kaufte, um überhaupt irgendeine Arbeitsfläche in der Küche zu haben, die aber eher Abstellfläche geworden ist. Als ich den Bratentopf mit den Rouladen aus dem Backofen zog, merkte ich, dass ich ihn nicht plan auf den vier Herdplatten abstellen konnte, während das in Hamburg auf dem flachen Induktionsherd ging. Ich stieß beim Kochen und Servieren dauernd an irgendein Hindernis, was mich innerlich doch mehr Kraft kostete als ich dachte.

Ob mein Duschvorhang jetzt nach rechts (Hamburg) oder links (München) aufgeht, ob ich Treppen steige (Hamburg) oder den Fahrstuhl nehme (München), um in meine Wohnung zu kommen – alles egal. Aber Kochen bedeutet mir sehr viel; ich weiß, wie gut es mir getan hat, es zu lernen, ich weiß, wie gut es mir immer noch tut, genussvoll zu essen und es nicht mehr als notwendiges Übel, eine Sünde, eine Herausforderung anzusehen. Es ist mir gestern erst aufgefallen, dass Dinge, die mir am Herzen liegen, nicht ganz so einfach verpflanzt werden können wie andere.

Ich verbrachte den kompletten Nachmittag mit Vorbereitungen, Kochen und Tischdecken, was normalerweise viel schneller gegangen wäre, hier aber gefühlt ewig dauerte, weil die Wege neu und anders waren und sich doch alles in meinen Händen so vertraut anfühlte. Über allem lag die anscheinend derzeit dauerpräsente Traurigkeit und ich habe mich in meiner eigenen Küche, mit meinen eigenen, geliebten Gerätschaften gefühlt, als würde ich bei jemand anders kochen, obwohl ich hier seit drei Jahren wohne.

Wenigstens hat’s geschmeckt.

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