Vaya con dios

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Auf Salon schreibt Anne Lamott in ihrer Kolumne über politisch liberale Christen und wie es sich anfühlt, in einem Land zu leben, in dem nur die rechtgerichteten, die fundamentalistischen Christen Gehör zu finden scheinen – vielleicht, weil sie am lautesten brüllen: God doesn’t take sides.

What the right has “appropriated” has nothing to do with God as most of us believers experience God. Their pronouncements about God are based on the great palace lie that this is a Christian country, that they were chosen by God to be his ethical consultants, and that therefore they alone know God’s will for us. The opposite of faith is not doubt: It is certainty. It is madness. You can tell you have created God in your own image when it turns out that he or she hates all the same people you do. The first holy truth in God 101 is that men and women of true faith have always had to accept the mystery of God’s identity and love and ways. I hate that, but it’s the truth.

I just think Bush and his people have gotten it so wrong.

Hierzulande ist das Gefälle ähnlich ausgeprägt, auch wenn wir keine christlichen Fundamentalisten in der Regierung sitzen haben. Noch nicht. Wenn ich mir die derzeitigen Umfrageergebnisse anschaue, könnten die Tage der rot-grünen Koalition gezählt sein. Leider. Denn bei einem Machtwechsel stehen vielleicht nicht nur politische Themen auf der Agenda, über die man mal dringend reden müsste, sondern auch ethische Fragen. Wenn ich mir die Position der CDU und vor allem der CSU zum Beispiel in der Abtreibungsfrage anschaue oder der Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern oder ähnlichen Fragen, die nicht in das eher altmodische Weltbild der Schwesterparteien passen, ahne ich, in welche Richtung Änderungen gehen würden.

Ich frage mich in solch „moralischen“ Diskussionen immer, auf welches Christentum bzw. auf welche Werte des Christentums sich die Diskussionsteilnehmer berufen, wenn sie z.B. vehement die „Homo-Ehe“ als ersten Schritt auf dem Weg ins ewige Verderben sehen und ungerührt Sozialleistungen kürzen, denn wer arbeiten will, der findet ja bekanntermaßen auch immer was. Wo ist das Mitgefühl, wo ist der – für mich – christliche Wunsch danach, dass es allen meinen Mitmenschen gut geht?

Ich bin keine Pastorin, ich habe nicht Theologie studiert, ich habe nicht mal einen Volkshochschulkurs zum Alten Testament belegt. Ich habe zwar die Bibel fast komplett gelesen, aber ich habe das Gefühl, dass sie sich selbst so oft widerspricht, dass man eigentlich nur einen Grundtenor und keine in Stein gemeißelten Gesetze aus ihr herauslesen kann (aber diese Position ist nicht unumstritten, ich weiß). Diesen Grundtenor finde ich im Neuen Testament in den Predigten von Jesus und den Gleichnissen, die er erzählt. Er bedeutet für mich: Respekt zu haben vor anderen Menschen, ihren Gedanken, Taten und Lebensentwürfen. Mitgefühl zu haben mit den Schwachen. Hilfe anzubieten, wenn sie erforderlich ist. Er bedeutet für mich, dass ich mich tagtäglich bemühe, ein guter Mensch zu sein, so altmodisch und banal sich das auch anhören mag. Es bedeutet aber auf keinen Fall, vor Abtreibungskliniken für Zellhaufen zu kämpfen (am besten mit geladenen Waffen) oder Schulleiter davon zu überzeugen, dass Of Mice and Men der Bibel widerspricht, weil Behinderte darin vorkommen, oder dass Sexualkunde ne ganz doofe Idee sei oder dass wir ganz dringend die Todesstrafe bräuchten („Auge um Auge“, siehe ein paar Absätze weiter unten).

Vielleicht ist das eine naive Sichtweise von Christentum. Vielleicht ist es aber auch nur eine persönliche Sichtweise des Christentums. Und genau das, finde ich, sollte sie sein. Religion ist etwas sehr Persönliches. An wen oder was man glaubt, ist privat und hat mit den Staatsgeschäften aber sowas von gar nichts zu tun. Ich glaube an Gott und seinen Sohn. Andere glauben an Allah, an Jehova, sie beten zu goldenen Elefanten oder von mir aus auch zu rosafarbenen Kaninchen. Wer auch immer dein Gott oder deine Göttin ist – solange es dir dabei gut geht und du mich damit in Ruhe lässt: fein. Alles kein Thema. Aber wer mich davon überzeugen möchte, dass sein Glaube der einzig Wahre ist, hat einfach schon verloren. Vor allem, wenn er oder sie mir mit der Bibel (oder dem Koran oder Dianetik) beweisen will, dass er Recht hat, denn schließlich steht in den heiligen Büchern doch alles. Das sehe ich nicht so.

Anne Lamott hat zu Heiligen Büchern bzw. dem Neuen Testament auch noch kurz was zu sagen:

And speaking of the New Testament, I read it daily, and just cannot find the part where Jesus says that everyone should get out their guns, the part where he says that arming the angriest racists among us is an excellent idea, or the part where he discusses tax cuts.

Aber vielleicht hat Jesus ja was zu Steuersenkungen geschrieben und wir überlesen es nur? Thoralf hat mir als Nachklapper zu diesem Eintrag vor ein paar Tagen einen interessanten Link zu Nikodemus.net geschickt, der sich mit der biblischen Rechtfertigung der Todesstrafe befasst. Ich kann der Argumentation, die mit vielen Zitaten belegt wird, durchaus folgen, auch wenn ich, wie schon angedeutet, komplett anderer Meinung bin, aber wirklich beeindruckt hat mich der letzte Absatz:

Von der Bibel her, ist die Todesstrafe als Ausübung staatlicher Gewalt okay. Darüber hinaus gibt es manche Gründe, die dafür und die dagegen sprechen, dieses Mittel einzusetzen. Diese Antwort muß jede Gesellschaft bzw. Nation für sich selber geben.

Na, Fundis, darüber schon mal nachgedacht? Selbst wenn die Bibel das Okay gibt (und selbst das ist für mich immer noch Interpretationssache), heißt das noch lange nicht, dass man es auch so umsetzen muss. Es gibt eben noch andere Institutionen, die für die Gesetzgebung zuständig sind. Womit wir bei der Trennung von Kirche und Staat wären. Vielleicht könnte mal jemand der christlichen Rechten stecken, dass nicht die Bibel, sondern das eigene Gewissen und die Verfassung des jeweiligen Landes die erste und letzte moralische Instanz sein sollte. Und das gilt nicht nur für die Jungs und Mädels in den USA, sondern auch für die Politiker und Politikerinnen, die sich vielleicht demnächst hier anschicken, die Regierung zu bilden. Was immer ihr glaubt – lasst mich damit in Ruhe. Ich hab meinen Glauben schon. Ich brauche euren nicht.

17 Antworten:

  1. Von Herzen Dank, Frau Gröner. Da gibt es für mich nichts mehr hinzuzufügen.

  2. hierzu fällt mir nur folgende begebenheit aus dem alltäglichen politwahnsinn vom 23.4.05 ein, nachzulesen in voller länge unter:

    http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,353102,00.html

    „Der Spitzenkandidat Jürgen Rüttgers der nordrhein-westfälischen CDU für die Landtagswahl in vier Wochen hatte in der Sendung “Studio Friedman” des Nachrichtensenders N 24 gesagt: “Als Katholik glaube ich, dass unser christliches Menschenbild das Richtige ist und nicht vergleichbar ist mit Menschenbildern, die es anderswo auf der Welt gibt”. Auf Nachfrage von Moderator Michel Friedman nach der etwaigen Ãœberlegenheit der katholischen Kirche und ihres Menschenbildes sagte Rüttgers: “Ich glaube, dass es das Richtige ist, wenn Sie wollen auch überlegen.”

    was soll man dazu noch sagen? rürgen rüttgers, der cdu-terrier mit dem kassengebiss, eben auch so ein unverbesserlicher…

    ein indianisches sprichwort geht ungefähr so: dieser stein in meiner hand kann ein geschenk sein, wenn ich ihn dir gebe, er kann tausend ringe auf die wasseroberfläche zaubern, wenn ich ihn ins wasser werfe, er kann zu einer waffe werden, wenn ich dich damit erschlage, was auch immer ich damit tue, es bleibt immer der selbe stein–

    was soll uns das sagen? vielleicht, egal wie ich den gegenüber, an den ich glaube, benenne, ob gott, buddah, allah oder rosa kaninchen, es bleibt der selbe (gott)– nichts und niemand, und schon gar nicht das nordrhein-westfälische kassengebiss, noch papa ratzi dürfen den anspruch auf die einzig wahre treppe aufwärts erheben.

    meine meinung… gutes buch dazu: schiffbruch mit tiger!

  3. Ich finde es immer wieder bezeichnend.
    Die, die Ahnung von Religion haben (und sei es nur ein wenig) setzen sich kritisch mit ihr auseinander.
    Die, die aber ihre christliche Religion für das nonplusultra halten, haben meist kaum Ahnung und werden daher in ihrem primitiven Wirfüralleglauben bleiben.
    Gut – das ist eine Unterstellung, eine sehr weit gefasste und vorurteilsvolle, aber sehr leicht überprüfbar wie ich finde.
    Werde mir jetzt mal den Todesstrafentext zu Gemüte führen. Aber wie kann ein ernsthafter Christ das Leben einer Person über das Leben einer anderen Stellen? Und wie möchte Christ ernsthaft über Leben und Tod richten?
    Für mich ist das Schwachsinn.
    Aber vielleicht ist das ja der personalisierte Glaube, der böööse.
    Opium für’s Volk?

  4. Müsste man da nicht auch hinschauen, wo auf *allen* Seiten Unterstellungen gebraucht werden.

    Gibt es nicht mehr Leute, die ohne Waffen sich für ungeborene Kinder einsetzen, als solche, die das mit Waffen tun? Und die den Einsatz von Waffen für diesen Zweck *nicht* gut heißen?

    Und ist es nicht auch eine sehr eigennützige Entscheidung von ausgewachsenen Zellhaufen, wenn sie zwar ihre Existenz als Menschenrecht begründen, aber die Vernichtung von ungeborenen und unbequem werdenden oder gar absolut störenden frischen Zellhaufen de facto erlauben und freigeben?

  5. Meine Aufzählung, was der christliche Glaube für mich nicht bedeutet, ist keine Unterstellung, sondern eine Aneinanderreihung von Dingen, die sich im Namen des Glaubens so abspielen. Täglich. Es ist nicht mein Glaube, das ist alles, was ich gesagt habe.

    (PS: Ich bin kein ausgewachsener Zellhaufen, ich bin ein Mensch. Ein Zellhaufen in einer Gebärmutter ist ein Zellhaufen in einer Gebärmutter. Aber das ist auch nur meine Meinung, und ich weiß, dass viele Menschen das anders sehen. Darum geht es aber in meinem Posting nicht.)

  6. Weil ich es überlesen habe: eigenes Gewissen und lokale Verfassung als erste und letzte moralische Instanz? Was denn jetzt? Und wenn sich beide widersprechen?

    Und woher bezieht eine Verfassung ihre Prinzipien und Werte? Kommen Politiker oder Verfassungskonvente einfach so auf die Idee, diese und jene Grundwerte zu formulieren?

    Und das Gewissen? Ich erinnere mich an lang vergangene Zeiten – gymnasiale Oberstufe 1976 – 1979-, wo das Gewissen ein Null-Thema war – bis zu dem Tag, als die jungen Männer es zwecks KDV aktivierten. Klar: wir alle haben auch vorher unser Gewissen eingesetzt, aber irgendwie war es als Spaßverderberin Verruf gekommen.

    Aber wenn ich es nicht bilde, schärfe, pflege, denn wird es lockerer und ich habe weniger Probleme, wenn ich meinen Spaß will… Womit wir wieder bei den Quellen der Moral wären.

  7. “Weil ich es überlesen habe: eigenes Gewissen und lokale Verfassung als erste und letzte moralische Instanz? Was denn jetzt? Und wenn sich beide widersprechen?”

    Dann iss eben mal schluß mit lustig. Schluß mit den ausgestanzten Binsenweisheiten, dann muss man die Synapsen zum feuern bringen und sehen, wie man zu einer Antwort im Konkreten gelangt. Nichts dagegen ist trauriger, als in so einer konkreten Problematik auf die Autobahn der Katechese, ob nun der Religion oder der Partei, abzurauschen.

  8. schön (differenziiert) gesagt, frau gröner.

  9. “Hierzulande ist das Gefälle ähnlich ausgeprägt, auch wenn wir keine christlichen Fundamentalisten in der Regierung sitzen haben. Noch nicht. Wenn ich mir die derzeitigen Umfrageergebnisse anschaue, könnten die Tage der rot-grünen Koalition gezählt sein. Leider. Denn bei einem Machtwechsel stehen vielleicht nicht nur politische Themen auf der Agenda, über die man mal dringend reden müsste, sondern auch ethische Fragen. Wenn ich mir die Position der CDU und vor allem der CSU zum Beispiel in der Abtreibungsfrage anschaue oder der Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern oder ähnlichen Fragen, die nicht in das eher altmodische Weltbild der Schwesterparteien passen, ahne ich, in welche Richtung Änderungen gehen würden.”

    Ist es nicht schön, dass Rot-Grün-Jüngern jetzt mal das gleiche durch den Kopf geht, wie einigen Jahren zuvor den Christdemokraten?

    Oh ja, mein Schatz, dass ist es, oh ja, oh ja!

  10. Ach ja? Haben Anhänger der “christlichen” Parteien auch Angst vor der altmodischen SPD und den konservativen Grünen?

  11. Vielen Dank, wunderbar auf den Punkt gebracht :-)

  12. Sie wissen schon, wie es gemeint war. Auch Rot-Grün hatte ethische Themen im Reisegepäck. Und diesen dem Wählervolk dann aufgezwungen. Zur Freude der eigenen Anhänger, zur Verzweiflung der politischen Gegnerschaft.
    Ist ja auch nicht weiter schlimm, das ganze nennt sich dann Demokratie.
    Auch wenn Ihnen das dann nicht schmeckt.

  13. Danke für die Aufklärung. Endlich weiß ich, was Demokratie ist.

  14. claus, welche ethischen themen wurden dem wählervolk denn aufgezwungen? nennen sie einem vergesslichen alten mann mal ein, zwei themen.

    p.s.: wie schmeckt denn demokratie?

  15. Bin über den ZEIT Blogger Salon hierher gekommen…

    Um nur einen Punkt – die Abtreibung – herauszugreifen:
    Warum verlangt man eigentlich dauernd, dass andere (der Papst, Lebensschützer oder sonstwer) es gut finden sollen, dass Kinder umgebracht werden? Warum schreien zwar alle Unbeteiligten beim Mord an einer Schwangeren: “oje, auch noch das Baby!”; wenn aber die gleiche Frau abgetrieben hätte, dann hat sie nur einen Zellhaufen beseitigt?

    Und warum nimmt man eigentlich immer an, dass Menschen, die sich für ungeborene Kinder einsetzen, Frauen, die eine Abtreibung erwägen, verachten oder verfolgen? Schwangerenhilfeorganisationen machen doch genau das Gegenteil – die Frau unterstützen (auch finanziell), damit sie ihr Kind zur Welt bringen kann!

    Und: warum sagt die Gesellschaft eigentlich einer schwangeren Frau, die in bedrängten finanziellen Umständen ist: “Bring dein Kind doch um, dann geht’s dir zwar finanziell auch nicht besser, aber du bekommst keine zusätzliche Belastung dazu”? Schließlich sagt man einer Frau, die von der Sozialhilfe ihr Kind kaum versorgen kann, ja auch nicht: “Bring Dein Kind doch um, dann hast du mehr zum Leben”…

  16. Erstens möchte ich keiner „Abtreibungswilligen“ (in Ermangelung eines besseren Wortes) unterstellen, dass sie ihr Kind rein aus finanziellen Gründen abtreibt. Ich war netterweise noch nie in der Situation, darüber nachdenken zu müssen; würde ich jetzt allerdings schwanger werden, wäre das Geld der letzte Grund bzw. überhaupt keiner, um nicht Mutter werden zu wollen. Da gibt es genügend andere.

    Ich glaube auch nicht, dass Menschen, die sich für das ungeborene Leben einsetzen, Frauen verachten, die abtreiben wollen. Wie du schon sagtest: Die Beratungsstellen kümmern sich ja zuerst um die Frauen und erst in zweiter Linie um das Baby. Was ich im Artikel angesprochen habe, sind die Hardliner, die Ärzte umbringen, die Abtreibungen vornehmen und die Frauen stigmatisieren, die sich für eine Abtreibung entschieden haben.

    Ich weiß, dass gerade aus christlicher Sicht die Position zur Abtreibung eine sehr schwierige ist. Ich denke aber trotzdem, dass man sich sowohl dafür als auch dagegen einsetzen kann. Und nebenbei: Vom Papst erwarte ich nicht wirklich, dass er bei dieser Debatte die Position der Schwangeren übernimmt :-)

  17. Sind die Verbrechen ein “Betriebsunfall”?

    Eine mögliche Erklärung für diese Barberei liegt im Inhalt dieser Religion.

    Das Christentum behauptet, eine Religion der Liebe zu sein. Nächstenliebe sei angeblich die große Neueinführung in die Menschheitsgeschichte gewesen. Das ist in dieser Form nicht wahr, denn dem Menschen ist es in der Regel angeboren, seinem Nächsten in Notlagen zu helfen. Hätte er das nicht schon seit Jahrtausenden getan, so wäre der Mensch in der Zeit, als er noch Jäger und Sammler war, gar nicht zum Überleben fähig gewesen. Hier beruft sich das Christentum auf etwas, was schon Jahrtausende vor ihm da war und von der Natur geschaffen wurde.

    Das Christentum verabsolutiert aber in unzulässiger Weise die Nächstenliebe, setzt ihn als einzigen Wert und stilisiert ganz bewußt den “Ärmsten der Armen”, den Untüchtigen und aus eigener Kraft nicht Lebensfähigen zur Gallionsfigur hoch. Ihn sollen die Tüchtigeren unterstützen, ihm ihr Geld geben, möglichst durch die Hände der Kirche; ihm sollen sie all das geben, was jener sich nicht selbst schaffen kann oder will.

    Der Lebensuntüchtige als Vorbild für die anderen – das ist fast mehr als widernatürlich! Diese Einstellung zum Leben ist für die christliche Lehre aber geradezu kennzeichnend, insbesondere bei ihrem Verhältnis zur Natur, in der die besseren Plätze selbstverständlich von den stärkeren Lebewesen erobert werden.

    Nietzsche nennt das Christentum eine Religion des Neinsagens zum Leben, die eine negative Anthropologie entwickelt hat. Die überwiegend destruktiven menschlichen Anlagen wie Abkehr vom Irdischen, Kampf gegen natürliche Triebe, Herabwürdigung geistiger Bildung werden idealisiert. Dadurch ist es eine negative Religion und somit “ungöttlichen” Inhalts, unserem Sinne nach.

    Wie dargelegt, setzte sich die erste Anhängerschaft des behaupteten biblischen Jesus aus Verachteten, Verbrechern und Sündern zusammen. Wie auf sie zugeschnitten erscheint die Auffassung von Jesus, daß eher an ihn glaubende Sünder als die Gerechten in das Himmelreich kommen. Und da bei der erwiesenen Schlechtigkeit seiner Anhänger, für die der Verrat des Judas nur ein Beispiel ist, die Hoffnung auf Besserung durch die Lehre eines emporziehenden Ideals vergebliche Liebesmüh zu sein schien, wurde das, was für die “allerärgsten Lumpen” (Barnabas-Brief) sicherlich galt, für alle Menschen ausgesagt: Der Mensch sei mit Erbsünde behaftet. Kriminalität kann ererbt werden; die Zwillingsforschung hat dafür alle Beweise erbracht. Hier schlossen aber die ersten Anhänger von Jesus von sich auf andere. Das war unzulässig, denn auch für Hilfsbereitschaft und Opfersinn gibt es eine genetische Disposition.

    Das Verhängnisvolle an der Erbsündenlehre aber ist, daß sie die Menschen erst schlecht machen kann. Wir werden in unserem moralischen Verhalten durch unsere Erbanlage und Umwelteinflüsse geprägt. Wenn man einem labilen Menschen sagt: “Du bist mit der Erbsünde behaftet, schlecht, alles dein Tun oder gute Werke sind vergeblich, nur der Glaube an Jesus kann Dich erlösen”, wird er entmutigt, ein anständiges Leben zu führen; er braucht es ja auch nicht, denn entscheidend ist der Erlösungsglaube. Was wir heute noch an Moral in unserem Volk haben, haben wir nicht wegen des Christentums, sondern trotz des Christentums. Der Philosoph und Religionswissenschaftler Sören Kierkegaard nennt das Christentum deswegen “Satans Erfindung” und schreibt:

    “… um Christ zu werden, muß man sich selbst aufgeben, ins Dunkle springen und aus dem Glauben an das Absurde handeln.” Bis in die Gegenwart, neuerdings wieder in einer Reihe von Staaten der USA, werden vom Christentum sogar entwicklungsgeschichtliche Vorgänge geleugnet und bekämpft. Christlichen Vorstellungen zufolge war angeblich jedes Geschöpf von Anfang an da und hat sich seitdem nicht mehr verändert. Die Darwinsche Evolutionstheorie sei angeblich geeignet, “die Ãœberzeugung und moralischen Werte des Kindes zu unterminieren”. Und bei uns erscheinen Bücher wie “Die Biologie der zehn Gebote – Warum die Natur für uns kein Vorbild ist.” Der Verfasser propagiert “christliche Wissenschaft.”

    Während einerseits versucht wird, das Christentum angeblich “wissenschaftlich” abzusichern, zeigen andere Vorgänge, daß die führenden Christen selbst nicht mehr an das glauben, was sie offiziell vertreten. Nach ihrer Auffassung ist die Bibel ja “das Wort Gottes”, und an dem Wort des Allmächtigen dürfte demnach von jemandem, der wirklich gläubig ist, nicht gerüttelt werden. Gleichwohl scheuen die offiziellen Vertreter des christlichen Glaubens sich nicht, die Worte ihres Gottes zu fälschen. Seit Jahrhunderten heißt es in der Bibel an der Stelle 2. Samuel 12,31 über den Feldzug Davids und der Israeliter gegen die Ammoniter: “Aber das Volk darinnen führete er heraus, und legte sie unter eiserne Sägen, und Zacken und eiserne Keile, und verbrannte sie in Ziegelöfen. So tat er allen Städten der Kinder Ammon. Da kehrte David und alles Volk wieder gen Jerusalem.”

    Zu dieser Stelle heißt es im “Berliner Sonntagsblatt” vom 25. Jan. 1987: “Denen, die sich auch nach 1945 noch nicht vom Nationalsozialismus trennen und von deutscher Schuld nichts wissen wollten, war diese Bibelstelle natürlich willkommen. So konnte man vor Jahren, als der Fernsehfilm “Holocaust” ausgestrahlt wurde, in einer württembergischen Zeitung einen Leserbrief lesen, in dem es hieß, zwar sei schon viel von den [BöseBöseBöse]-Verbrechen geschrieben worden, noch nichts aber von denen des Alten Testaments.”

    Weil “unzulängliche” Ãœbersetzungen der hebräischen Bibel “zu anti-judaistischen Tendenzen in der christlichen Theologie” geführt hätten, sei es erforderlich gewesen, Abänderungen vorzunehmen.

    Das Berliner Sonntagsblatt weiter:

    “Ohne den Holocaust kann sich der Christ heute nicht mehr definieren. Der katholische Theologe Johann Baptist Metz schreibt: “Es gibt keinen theologisch zu benennenden Sinn der Geschichte, den man mit dem Rücken zu Auschwitz retten könnte, keine Wahrheit der Geschichte, die man mit dem Rücken zu Auschwitz verteidigen und keinen Gott, den man mit dem Rücken zu Auschwitz anbeten könnte.” Hinzufügen muß man beim Thema Bibelübersetzung: Es darf keine deutsche Ãœbersetzung der Heiligen Schrift mit dem Rücken zu Auschwitz geben. Die ernstzunehmenden Ãœbersetzer unserer Tage haben aus dieser Erkenntnis Konsequenz gezogen.”

    Abschließend stellt das Berliner Sonntagsblatt dann befriedigt fest: “Mittlerweile gibt es keine seriöse Bibelausgabe mehr, in der die frühere Ãœbersetzung “in Ziegelöfen” zu finden ist. In dem 1964 vorgelegten revidierten alten Testament der Luther-Bibel, das bis heute gilt, heißt es: David führte die Besiegten “heraus und stellte sie als Fronarbeiter an die Sägen, an die eisernen Pickel und an die eisernen Äxte und ließ sie an den Ziegelöfen arbeiten!”

    Auf die Unsinnigkeit dieser Ãœbersetzung braucht hier nicht eingegangen werden, wieso jemand einige Arbeiter herausführen soll, um sie wenige Tage an Ziegelöfen zu stellen, und dann zurückzukehren. Was hat er dann mit den angeblichen Arbeitern gemacht? Und welcher antike Feldherr hätte Kriegsgefangenen Äxte, also wirksame Waffen, in die Hand gegeben? Auf einen Sinn dieser Fälschung kommt es aber gar nicht an – es geht darum, die Bibel von allem zu “reinigen”, soweit das “Wort Gottes” ein schlechtes Bild auf das Volk Israel werfen könnte. _

    Dies ist übrigens nicht die einzige Stelle, wo die Bibel “geschönt” wird. Im Psalm 94 war jahrhundertelang vom “Gott der Rache”, vom “Richter der Welt”, “der die Heiden züchtigt” und sie “vertilgen wird”, die Rede. Dies paßt nicht mehr in den Zeitgeist. Der in Frankfurt lebende jüdische Prof. Pinchas Lapide kritisierte diese Ãœbersetzungen, weil Jahwe angeblich ein Gott der Liebe sei, der Partei ergreife für Schwache und Verfolgte. Mit Rücksicht darauf wurde Psalm 94 “anders übersetzt”.

    Was ist von einer “Heiligen Schrift” zu halten, die dem Zeitgeist entsprechend laufend umgeschrieben wird?

    Was ist das “Wort Gottes” wert, wenn es alle paar Jahre mit Rücksicht auf veränderte Umstände abgeändert wird ? Wie kann jemand die Stirn besitzen, dies alles als “Offenbarung” anzusehen, wenn zeitgeistgemäß laufend neue Versionen der Bibel auftauchen, gemäß dem Grundsatz, daß nicht sein kann, was nicht sein darf? Wer so mit seiner heiligen Schrift umgeht, zeigt selbst, daß er keine innere Bindung hieran hat, sondern die Kirche lediglich als Mittel zu anderen Zwecken verwenden will. Die Kirchenoberen haben offensichtlich Orwells Buch “1984” gut gelesen, allerdings dabei die Stelle, wo Schriftstücke der Vergangenheit laufend umgeschrieben werden und neuen Verhältnissen angepaßt werden, nicht als abschreckendes Beispiel gesehen, sondern als vorbildliches Manipulierungsinstrument.

    Während so einerseits bei führenden Vertretern der christlichen Kirchen der Glaubensverlust offenbar wird, finden wir andererseits Rückfälle ins finsterste Mittelalter. Da werden zunehmend “Teufelsaustreibungen” vorgenommen. Katholische Priester sind als Exorzisten tätig. Todesfälle hat es bei der Ausübung dieses Wahnsinns gegeben. Unbeeindruckt davon bestellte der Turiner Erzbischof, Kardinal Anastasio Ballestro, jetzt sechs zusätzliche kirchenamtliche Exorzisten. Das ist auch nicht verwunderlich, erhalten die Jünger doch nach Matth. 10,8 ausdrücklich den Auftrag, Teufel auszutreiben. Die kirchlichen Teufelsjäger seien “Männer mit breiter Kultur, festem Glauben und Nerven aus Stahl.”

    Priester behindern mit der “letzten Ölung” die Notfallversorgung von Unfallverletzten durch anwesende Rettungssanitäter, und Gebete sollen angeblich Antibiotika einsparen, weshalb die schwedischen Gesundheitsbehörden sich genötigt sahen, Gebete als Behandlung von Kranken zu verbieten.

    Aber noch Erstaunlicheres tut sich. Da wird von “weinenden Madonnenbildern” berichtet, auch ein Osterei mit aufgemaltem Christuskopf soll “geweint” haben, Reliquien schwitzen angeblich Blut, in Zentralafrika ist ein schwarzer Christus aufgetaucht, in Kairo soll Maria in einer Kirche erschienen sein.

    Wie ganz anders denken wir Heiden. Sicherlich kann die Naturwissenschaft nicht auf jede Frage eine Antwort geben. Die Antworten der Naturwissenschaft sind aber wenigstens ehrlich und für jeden nachprüfbar und dürfen mit fortschreitendem Wissen einer Überprüfung unterzogen werden.

    Vor 2300 Jahren hat Empedokles im antiken Griechenland eine Elementtheorie skizziert und einen Evolutionsprozeß für die Entwicklung der Lebewesen geschildert, bei der dem Zufall bei der Artenbildung erhebliche Bedeutung zukommt. Dies unterscheidet sich nur wenig von Darwins Erkenntnissen. Nur – eine erschreckend lange, dunkle, christliche Zeit liegt dazwischen. “Wir haben in unserer Geistesentwicklung mindestens anderthalb Jahrtausende den Vorstellungen nomadisierender Ziegenhirten in Palästina opfern müssen” schreibt ein bekannter Autor von Büchern mit dem Thema Umweltschutz. Daß dies nicht wieder vorkommt – dazu sind wir aufgerufen!

    Indogermanische Religionsformen – in der Gegenwart ist es unser Artglaube – haben stets den Leistungsfähigen, den nach Wissen Strebenden, den nach Göttergleichheit verlangenden, genialen Menschen als Vorbild herausgestellt. In der Antike wurde dem Herkules nach Vollbringen seiner außergewöhnlichen Taten ein Sternbild am Himmel gewidmet. Hervorragende Menschen konnten in der Erinnerung unsterblich, göttergleich werden. Beim Christentum wird Streben nach Wissen, Weisheit, letztlich Gottähnlichkeit schwer bestraft. Schon im alten Testament werden die ersten Menschen aus dem Paradies vertrieben, weil sie nach Erkenntnis suchten. Ein merkwürdiger Gottvater muß das schon sein, sicher kein germanischer, eben ein orientalischer, der seine eigenen Kinder verstößt, weil sie ihm ähnlich werden wollen. Verständnis in die außerordentlich komplexen Vorgänge des Naturgeschehens läßt sich nur gewinnen, wenn man nach Erkenntnis der Zusammenhänge strebt. Hier haben wir ein Defizit von mehr als tausend Jahren aufzuholen. Nur wenn man die Wunder der Natur ringsumher studiert, ihnen nachspürt und nicht nur etwas glaubt aufgrund der Erzählungen “wahrheitsliebender” Orientalen, nur dann stellt sich das Staunen vor diesen Mechanismen und die Ehrfurcht vor dem Leben ein. Wenn hingegen eine Idee auf die Ablehnung des mühevollen Strebens nach Wissen gegründet ist, wenn diese Idee zudem vorgibt, das primitive Verlangen der Masse nach einem besseren Leben nur im Jenseits erfüllen zu können, dann dürfen die Vertreter dieser Idee zu Recht augenzwinkernd von sich behaupten, ihre Kirche auf einen ewigen Felsen gegründet zu haben – denn Dummheit ist unvergänglich, gegen sie kämpfen selbst Götter vergebens. Ein hartes Wort?