Tagebuch Dienstag, 18. Mai 2021 – Alte Taschenbücher

F. wurde gestern erstgeimpft, alles andere ist eigentlich egal.

OMG ich wollte nie eine von den Frauen werden, die auf die Frage „Wie geht’s?“ mit „Ach, mein Herzblatt hat grad Kopfschmerzen“ antwortet. Aber jetzt sind (fast) alle in meiner Blase der letzten 15 Monate mindestens erstgeimpft und das erleichtert mich sehr. Meine Mutter ist bereits zweimal geimpft, ich bin es ab morgen auch, Väterchen wartet noch bis Juli auf die zweite Dosis (AZ), meine Schwester in Niedersachsen ergatterte letzte Woche spontan einen Termin bei einem ihrer Fachärzte, die Eltern von F. sind auch erstgeimpft, nur mein Schwager ist zu schlank, zu jung und zu gesund, um schon eine Dosis abbekommen zu haben. Und so sehr ich mich darüber freue, wenn alle sich um einen Termin bemühen können, die es jetzt noch nicht können, halte ich die Aufhebung der Priorisierung zu Anfang Juni noch für verfrüht. Eben im Deutschlandfunk die launige Aussage von (vergessen) gehört, dass ja bereits 70 Prozent der Risikopatienten mindestens erstgeimpft sind. Ich kann nicht beurteilen, ob das meine inzwischen antrainierte Angst vor allem ist oder diese wissenschaftlich gerechtfertigt ist, aber wären 100 Prozent nicht besser? Rhetorische Frage, hat ja eh keinen Einfluss auf irgendwas, was gerade beschlossen wird.

Ich begann gestern ein neues (altes) Buch und schaute, warum auch immer, mal nach, von wem die Titelillustration ist: Sie stammt vom Ehepaar Karl Gröning jr. und Gisela Pferdmenges.

Aus purer Neugier guckte ich mal im Regal nach, ob ich noch weitere von den beiden gestaltete Titel hatte. Hatte ich.


(Auf Twitter sind die Bilder größer.)

Beim Googeln stieß ich auf diese Rezension eines Sammelbands über die „Taschenbücher der 1950er Jahre und ihre Gestalter“ (2016):

„Was haben Hemingways “Fiesta” und Camus’ “Die Pest” mit Kiplings “Dschungelbuch” und Tucholskys “Schloss Gripsholm” gemein? Nichts, außer dass sie 1950 bei Rowohlt erschienen in einer brandneuen Taschenbuchreihe, die das Buchgeschäft – Herstellung, Vertrieb und Verkauf – revolutionierte und die Lesegewohnheiten der Deutschen vom Kopf auf die Füße stellte. Rowohlts Rotationsromane, abgekürzt rororo, hieß das Logo, das aus der Nachkriegs- und Wirtschaftswunderzeit der BRD nicht wegzudenken ist, weil es nicht bloß den Umgang mit Büchern, sondern auch die Mentalität der Leser nachhaltig veränderte. […]

Ich habe die zitierten Titel mit Bedacht gewählt, weil nicht nur die Texte der Taschenbücher, sondern auch ihre künstlerisch gestalteten Umschläge Ikonen sind, die wie Filmplakate, Plattenhüllen und Hits der Fünfzigerjahre Erinnerungsschübe auslösen – nicht bloß bei Veteranen der Nachkriegsgeneration, zu der ich gehöre. Statt im Reißwolf oder Papierkorb zu landen, wie von Kulturpessimisten prophezeit, haben die Billigbücher ihr Verfallsdatum überlebt. […]

[N]och bevor er das Buch aufschlägt und den ersten Satz liest, ist er in die beklemmende Atmosphäre des Romans eingetaucht. Das ist das Verdienst von Karl Gröning jr. und Gisela Pferdmenges, die zehn Jahre lang die Umschläge entworfen und alle rororo-Bände gelesen haben sollen – kein Wunder, dass Gröning 1958 mit Burn-out-Syndrom in psychiatrische Behandlung kam. Die grafische Gestaltung war ein Alleinstellungsmerkmal, das die rororo-Bände von anderen Taschenbuchreihen unterschied und verkaufsfördernde Déjà-vu-Effekte auslöste – heute sagt man Markenbindung dazu. Das Umschlagbild ersetzte den Klappentext und war das Signum von rororo, so wie die zu Sechsecken stilisierten Fische der Fischer Bücherei.“

In diesem Spiegel-Artikel von 1951 erstaunte mich die damalige Beurteilung der heute so putzig-braven Cover:

„Der Druck des zweimillionsten ro-ro-ro-Taschenbuches gab im Druckhaus Chr. Jessen Sohn im schleswig-holsteinischen Städtchen Leck Anlaß zu einer Fête. […] Vom 17. Juni 50 bis zum 17. Juni 51 wurden von 32 verschiedenen Taschenbuch-Romanen 1,5 Millionen Exemplare umgesetzt. »Rechnet man ein Jahr mit 300 Arbeitstagen zu je acht Geschäftsstunden, dann ergibt sich: Alle fünf Sekunden wurde in Deutschland und der Welt ein ro-ro-ro-Taschenbuch gekauft!« verkündet Rowohlt triumphierend den Werbe-Slogan für die kommende Saison. […] Mittlerweile ist die Reihe bei 36 Titeln und annähernd zwei Millionen angelangt. Jeden Band statteten Karl Gröning jr. und Gisela Pferdmenges mit dem reißerischplakativen Umschlag aus, der ahnungslosen Lesern die Befangenheit vor literarischem Niveau nehmen soll.“

Sehr viel mehr habe ich über die beiden noch nicht herausfinden können, kein Nachlass irgendwo, nichts im Hamburger Staatsarchiv, bei dem ich geguckt hatte, weil zumindest Gröning in Hamburg-Ohlsdorf bestattet wurde, laut Wikipedia. Ist jetzt nicht wirklich wichtig, lenkte gestern kurz ab. Und ich konnte mich mal wieder über mein Bücherregal freuen und an Omi denken, denn der habe ich die Speyer-Bände und den Vaszary mal aus ihrem kleinen Regal geklaut.

(„Fête“, hihi. DIE DEUTSCHE SPRACHE IST IN STEIN GEMEISSELT DIE KANN SICH NICHT ÄNDERN DIE STERNCHEN MACHEN ALLES UNLESERLICH.)

Die Historikerin Fabiana Kutsche beschreibt gut, was mein Problem mit dem Instagram-Account von „Sophie Scholl“ ist. Ich habe es nur wenige Tage ausgehalten, dem Account zu folgen, bevor ich ihn schlicht unangenehm fand, aber es nicht weiter hinterfragt, warum eigentlich. Gut, wenn andere das tun:

„Darüber hinaus – und hier wird es hochproblematisch – tritt die Figur Sophie Scholl mit ihren Follower*innen in Kontakt. Dieser aus werbepsychologischer Sicht nur allzu logische Schritt bringt in der Umsetzung von historischen Stoffen jedoch große Probleme mit sich. Die bewusst „radikal subjektive“ Erzählung Sophies (SWR 2021c) muss an dieser Stelle mit dem Versuch der Bewahrung von historischer Authentizität brechen. Das historische Subjekt Sophie Scholl kann nicht mit uns interagieren. Während die bis zum 22.02.2022 vorgeskripteten Bild- und Videoinhalte zu einem gewissen Maße durch Recherchen und Drehbücher gelenkt werden können, kann nicht vorausgesehen werden, wie die Follower*innenschaft die Inhalte aufgreift. […]

Auch wenn mir darüber hinaus viele Gesichtspunkte des Projekts stilistisch missfallen, ist die vom Produktionsteam getroffene Entscheidung, mit den Nutzer*innen zu interagieren, der Dreh- und Wendepunkt, der das Projekt @ichbinsophiescholl meiner Meinung nach zu einer tickenden Zeitbombe macht. Das gewählte Format verlöre seine Vorteile und die gewünschte Social-Media-Authentizität, wenn Sophie aus der Rolle fiele und plötzlich moderierend auftreten würde. Der „radikal subjektive“ Ego-Bericht einer historischen Figur auf Instagram funktioniert nur in persona. Auf welcher Quellen- und Entscheidungsgrundlage diese Subjektivität beruht und wer über sie entscheidet, bleibt allerdings vollkommen schleierhaft. Zu keinem Zeitpunkt ist den Nutzer*innen bewusst, welche Äußerungen oder Entscheidungen historisch belegt oder fiktiven Ursprungs sind. Der Tauschhandel einer grundlegenden Quellenkritik gegen eine höhere Social-Media Authentizität wird nicht erst dann gefährlich, wenn die Kommentator*innen in antisemitische, rassistische und geschichtsrevisionistische Sphären driften.“