Tagebuch Dienstag, 24. März 2020 – Euphorie und Crash & Burn

Vom Wecker geweckt worden, brav aufgestanden, noch vor dem Kaffee an den Rechner gegangen, um unsere Klassik-Playliste zu finalisieren, an der wir bis Mitternacht gebastelt hatten. Wir, also Manuel, Gabriel und ich, schoben bergeweise Musik, die wir mögen, auf Spotify rum, besprachen den Namen, Manuel sortierte, und gestern vormittag machten wir das Ding dann öffentlich. Bitteschön, elf Stunden Musik: Meine Nerven! Klassik für (und gegen) die Krise.

Ich persönlich freue mich darüber, ein Lied aus dem Weißen Rössl in die Liste gekriegt zu haben sowie diverse zeitgenössische Tracks – sehr viele davon habe ich in den letzten Jahren in München live gehört. Und das war dann auch der kleine Wermutstropfen: Ich finde die Liste toll, aber der Wunsch nach einem Liveerlebnis wird dadurch nicht kleiner, ganz im Gegenteil. Gerade vor lausigen zwei Wochen saß ich noch im Gasteig, durfte Beethoven hören und habe dort mal wieder gemerkt, wie anders das Erlebnis ist, wenn du in einer großen Gruppe in einem dunklen Saal vor einem Orchester sitzt anstatt zuhause alleine vor YouTube.

Gabriel hat übrigens noch weitere Klassik-Playlists, die ich alle abonniert habe und sehr gerne höre, weil sie deutlich weniger mainstreamig sind als unsere gemeinsame. Hier ist sein Spotify-Profil, falls Sie da auch mal reinhören wollen.

Das hat sehr gut getan, an etwas anderes zu denken als das Virus, und es hat ebenfalls gut getan, sich auf Dinge zu konzentrieren, von denen ich weiß, dass sie mir – genau – gut tun. Welche Stücke trösten mich, welche machen mir gute Laune, welche bringen mich in positivem Sinne zum Weinen. Dass mein liebstes Volkslied „In einem kühlen Grunde“ und eine meiner liebsten Operettenmelodien „Reich mir zum Abschied noch einmal die Hände“ vom Titel her gerade einen sehr falschen Eindruck machen, ist mir zu spät aufgefallen. Ich empfinde die Lieder als sehr zärtlich und zugewandt, mal mir selbst, mal einem anderen, daher sind sie jetzt eben auch in der Liste.

Vom Basteln und Online-Stellen sehr positiv gestimmt gewesen, energiegeladen an die Diss gesetzt und die Korrektur von vorgestern korrekturgelesen, was ich halt so mache, jeder Text liest sich nach einer Nacht Rumliegen anders.

Der kompletter Einleitungsteil steht jetzt. Ich habe das Inhaltsverzeichnis begonnen, noch ohne auf Schickizität zu achten. Ja, ich mache das händisch, don’t @ me. Ich mag diese Handarbeit, ich finde Software-Automatismen an meinen Textinhalten doof, ich habe das Gefühl, durch diese Beschäftigung einen gewissen Überblick zu behalten. Ich tippe auch brav jeden einzelnen Literaturtitel ins Verzeichnis anstatt mit einer Literaturverwaltung zu arbeiten. Die haben sich mir nie erschlossen, mehrfach versucht. Still: Don’t @ me. Ich bin fast fertig mit meinem akademischen Schreiben, ich fang jetzt nix Neues mehr an. Oma Gröner over and out.

Haha, gerade beim Bloggen gemerkt, dass ich das Inhaltsverzeichnis doch nochmal ändern werde. Immer gut, Dinge in einem anderen Medium zu sehen. Aus 2 wird 2.1 und das ganze Kapitel kriegt den Titel „Die Reichsautobahnen“.

Gegen 14.30 Uhr gedacht, dass ich mal Mittag machen könnte. Das wurde dann eine schnöde Tiefkühlpackung Fischfilet Bordelaise, die’s mal im Angebot gegeben hatte. Zwei Folgen Masterchef UK nachgeguckt, ein bisschen traurig geworden, weil ich nicht gleich rausrennen und Gemüse kaufen konnte. Irgendwann eingenickt. Auch nach dem Schläfchen traurig gewesen und zum ersten Mal seit der selbstgewählten Fast-Quarantäne ein bisschen in meinen Teddy geheult. Danach natürlich peinlich berührt gewesen, in Stofftiere weinen zu müssen, aber andererseits verhandeln wir gefühlt gerade sehr viel neu. Vielleicht ist das demnächst wieder en vogue, seine Gefühle an Teddybären weitergeben zu dürfen, weil gerade niemand anders da ist. Ihr habt Kinder und Katzen, ich habe Teddy.

Daraufhin habe ich mir die Traurigkeit gegönnt, hey, wir haben Pandemie, da darf man auch mal unproduktiv sein. Aber selbst diesen Satz musste ich mehrfach vor mir selbst rechtfertigen, verdammte protestantische Arbeitsethik. Ich hatte abends nicht mal Lust, Igor zuzuhören. Kurz in Manuels Mozartarbeit von 2017 reingeguckt, aber Mozart-Opern werden bei mir anscheinend nie funktionieren. Keine 20 Minuten durchgehalten.

Dann die brillante Idee gehabt, unsere eigene Playlist anzuklicken, und meine Damen und Herren, ich weiß schon, warum ich die Tannhäuser-Overtüre reingenommen habe. Etwas bessere Laune bekommen.

Abends mit F. per Facetime gesprochen. Das hat auch gut getan. Wir haben festgestellt, dass man sich dann doch an die seltsamen Umstände gewöhnt. Letzte Woche hatte ich ernsthaft Entzugserscheinungen nach meinen geliebten Lesesälen, diese Woche kann ich damit schon resigniert umgehen, ist dann jetzt so, machste halt vorerst mit dem weiter, was dein Bücherregal und das Internet hergeben.

Zu diesem seltsamen Achterbahngefühl noch einen Artikel im Bett gelesen, den ich sehr nachvollziehbar fand: That Discomfort You’re Feeling Is Grief.

Das Gespräch der Harvard Business Review mit David Kessler bringt ganz gut auf den Punkt, was wir eventuell alle fühlen: Wir durchschreiten gerade die fünf Stufen der Trauer Ungläubigkeit, Wut, Verhandeln, Traurigkeit und Akzeptanz. Kessler plädiert für eine sechste: Bedeutung. Was bedeutet das alles, wie verändert sich die Welt gerade, was kann ich persönlich dafür tun, dass Dinge danach besser sind?

„What do you say to someone who’s read all this and is still feeling overwhelmed with grief?

Keep trying. There is something powerful about naming this as grief. It helps us feel what’s inside of us. So many have told me in the past week, “I’m telling my coworkers I’m having a hard time,” or “I cried last night.” When you name it, you feel it and it moves through you. Emotions need motion. It’s important we acknowledge what we go through. One unfortunate byproduct of the self-help movement is we’re the first generation to have feelings about our feelings. We tell ourselves things like, I feel sad, but I shouldn’t feel that; other people have it worse. We can — we should — stop at the first feeling. I feel sad. Let me go for five minutes to feel sad. Your work is to feel your sadness and fear and anger whether or not someone else is feeling something. Fighting it doesn’t help because your body is producing the feeling. If we allow the feelings to happen, they’ll happen in an orderly way, and it empowers us. Then we’re not victims.

In an orderly way?

Yes. Sometimes we try not to feel what we’re feeling because we have this image of a “gang of feelings.” If I feel sad and let that in, it’ll never go away. The gang of bad feelings will overrun me. The truth is a feeling moves through us. We feel it and it goes and then we go to the next feeling. There’s no gang out to get us. It’s absurd to think we shouldn’t feel grief right now. Let yourself feel the grief and keep going.“

Abends den morgens gefütterten Ansatz aus dem Kühlschrank geholt, mich über den frischen Geruch gefreut und einen Sauerteig gebastelt, mit dem ich heute backen möchte. Vor dem Bloggen schon zu einem Teig verwandelt. Mal sehen, ob’s was wird.