„Sie waren in Rom, …

… und Ania lebte, wie sie rauchte, mit Hast und Gier, und sie nahm jede Stunde als die letzte [das Kind des Fürsten, das Moskau hatte brennen sehen oder eine andere Stadt an der Wolga] und suchte ihren Gehalt an Lust bis zur Neige zu erschöpfen. Friedrich war erstaunt und belustigt. Es war nett, es war einfach, es war ein Spaß, Mädchensachen, die bei ihm rumlagen, und jemand, der „schlaf auch gut“ sagte, wenn die Nacht kam, und „los, die Sonne scheint“ am Morgen, während zwei Beine mit kleinen, blanken Zehen die Decke schon zur Seite strampelten. Aber: „Bin dieser Mensch ich?“ fragte er sich, während sie in einer Droschke mit einem Pferdchen im kleinen Trab aus dem Verkehrsstrom des Corso über die Piazza Venezia in die Via del’Impero einbogen. „Bin dieser Mensch ich, der mit einem Mädchen im Wagen vorbeifährt an der Kulisse der historischen Jahrhunderte dem Colosseum zu, um hinter dem Palatinischen Hügel die Thermen des Antonius zu sehen?“ Stieg das Unglaubhafte, das er deutlich spürte, aus der Schau des Horizonts wie eine Flut um ihn hoch, oder fiel es mit den Strahlen der Sonne, die warm im Winter schien, auf ihn herab, oder war es nicht dies, daß ihm etwas widerfuhr, sondern das andere, daß er handelte, daß aus ihm ein Gehen kam, ein Vorwärts oder ein Seitwärts, ein Sichbewegen in Richtungen, wie Irren im Dickicht eines Waldes, wenn man fühlt, ich gehe einen falschen Weg, aber den richtigen Pfad dennoch und jedem Gefühl zum Trotz nicht einzuschlagen weiß? Er träumte, aber er wurde der Traumhandlung nicht froh. Es war auch kein Alpdruck, der ihm die Luft klemmte. Es war der Traum einer Ohnmacht. Die verschwimmenden Bilder am Rande der Wirklichkeit. Liebte er Ania? Es war wollüstig, nicht allein zu sein, aber war es nicht feige und mindernd? Es kam vor, daß er Ania Geld für den Kutscher gab und aus dem Wagen sprang und in einem Gewirr kleiner Gassen sich verlor. Er besuchte die Viertel der Armen, die grauen Hütten am Ufer des Tiber. Er wollte gut sein, weil er sich ungut fühlte. Er kaufte Früchte und verteilte sie an schmutzige, halbnackte Kinder. „Sie sind schön“, dachte er, „unter der Kruste von Staub sind sie schön.“ Er beugte sich zu einem Knaben herab und küßte die Wangen, die das Blut straffte, das in den Legionen die Macht der Cäsaren getragen hatte. Er wurde beschimpft, und er verstand die Worte nicht. Er sah ein Büro der Telegraphenregie und schrieb einen Text: „Ich liebe dich, nur dich, dennoch, immer“ und begriff es erst als Tatsache, daß er eine Depesche an Sibylle aufgegeben hatte, als sie schon im Drahtnetz der Verwaltung Sibylle zueilte. Er folgte Matrosen und Soldaten nach in das Abenddunkel eng gebauter Straßen und glaubte, sie gingen zu den Mädchen in die Bordelle. Er dachte: „Wäre ich wie sie, auf einem Schiff in die Arbeit, und im Hafen voll Vertrauen zu den Vergnügungen der Stunde.“ Er haßte das Denken. Er mißtraute ihm. Er dachte an Sibylle, an Ania, an Fedor, an Magnus, und er sagte sich: „Ich denke nichts anderes als meine Wünsche. Es ist keine Wahrheit dadrin.“ In der Größe der Ewigen Stadt war er ein Punkt. „Selbst dies ist Hochmut“, dachte er.“

Wolfgang Koeppen: „Eine unglückliche Liebe“, Frankfurt am Main 1978 (Erstausgabe 1934), S. 145/146.

Die „Trilogie des Scheiterns“ von Koeppen fand ich großartig, auch wenn ich mit der Zeichnung seiner Frauenfiguren hadere. Hier hadere ich mit fast allem, aber die beiden Seiten mochte ich sehr.