Diskontinuität und Konsensfiktion

Ich denke gerade über zwei Begriffe nach, die mir gestern in verschiedenen Medien untergekommen sind. Sie stehen beide in der Überschrift.

In einem Artikel im NYT Magazine zeigt sich die Autorin Elizabeth Weil über die vielen Waldbrände in Kalifornien irritiert: „This Isn’t the California I Married.“ Bevor sie und ihr Ehemann in diesen US-Staat zogen, war ihnen theoretisch klar, dass Waldbrände eine immer wieder auftretende Gefahr waren. Nun aber sind sie ständig präsent: „Living in California now meant accepting that fire was no longer an episodic hazard, like earthquakes. Wildfire was a constant, with us everywhere, every day, all year long, like tinnitus or regret.“ War der orangefarbene Himmel, der 2020 öfter vertwittert wurde, ein Hinweis auf die drohende Apokalypse? Alex Steffen, laut seiner Twitter-Bio und dem Artikel ein „climate futurist“, erklärt:

„We have this idea that the world is either normal and in continuity with what we’ve expected, or it’s the apocalypse, it’s the end of everything — and neither are true,” he said. That orange sky in 2020? “We’re all like, Wow, the sky is apocalyptic! But it’s not apocalyptic. If you can wake up and go to work in the morning, you’re not in an apocalypse, right?”

The more accurate assessment, according to Steffen, is that we’re “trans-apocalyptic.” We’re in the middle of an ongoing crisis, or really a linked series of crises, and we need to learn to be “native to now.” Our lives are going to become — or, really, they already are (the desire to keep talking about the present as the future is intense) — defined by “constant engagement with ecological realities,” floods, dry wells, fires. And there’s no opting out. What does that even mean?

We’re living through a discontinuity. This is Steffen’s core point. “Discontinuity is a moment where the experience and expertise you’ve built up over time cease to work,” he said. “It is extremely stressful, emotionally, to go through a process of understanding the world as we thought it was, is no longer there.” No kidding. “There’s real grief and loss. There’s the shock that comes with recognizing that you are unprepared for what has already happened.”

Der letzte Absatz ließ mich an den derzeitigen Umgang mit Corona denken bzw. im Nachgang auch über mein verändertes Denken über deutsche Politik und, auch durch die Dissertation, generell mit meinem Gefühl, in diesem Land zu leben. Wo ich mich jahrelang durchaus als Verfassungspatriotin bezeichnet habe, suche ich derzeit wieder etwas festeren Boden unter den Füßen. Ich weiß noch, wo ich stehe, aber ich spüre, dass sich der Boden unter mir verändert hat. Oder anders: dass der Boden nie der war, für den ich ihn hielt.

Ich lese gerade das Buch Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocaust von Stefan Kühl (hier eine gute Rezension bei hsozkult). Kühl belegt, dass der Großteil der Täter im NS-Staat innerhalb bestimmter Organisationen funktioniert hat (SA, SS, Wehrmacht), was für ihn der Hauptgrund für die Teilnahme an Tötungsaktionen war. Innerhalb einer Organisation besteht von vornherein eine gewisse Übereinkunft über ihre Grundlagen und Ziele; genau deshalb schließt man sich ihr an. In Bezug auf die immer schwerwiegenderen Einschränkungen der jüdischen Bevölkerung im „Dritten Reich“ und ihrer medialen Begleitung benutzt Kühl den Begriff der

„antisemitischen Konsensfiktion, die sich während der Dauer des NS-Regimes immer weiter verfestigt hat. Konsensfiktion heißt, so der Definitionsvorschlag Niklas Luhmanns, dass man ‚bei einer Begegnung mit anderen zunächst von der Gemeinsamkeit wechselseitiger Erwartungen ausgehen‘ kann, ‚ohne jeweils im Einzelnen abklären und aushandeln zu müssen, wie weit die Zustimmung wirklich geht.‘ Ein Angehöriger der Ordnungspolizei, der in einem Gespräch in Übereinstimmung mit der NS-Propaganda verkündete, dass die Juden das ‚Unglück des deutschen Volkes‘ seien, konnte etwa davon ausgehen, sich im Rahmen einer abgesicherten Konsensfiktion zu bewegen. Die Zustimmung basiert nicht vorrangig auf der Internalisierung von Normen oder Überzeugungen, sondern kann sich auf die ‚ungeprüfte Unterstellung‘ verlassen, dass ‚alle anderen zustimmen.’“ (S. 102/103)

Da ich von Soziologie keine Ahnung, aber dafür Google habe, was Sie bitte nicht mit einer ernsthaften wissenschaftlichen Auseinandersetzung verwechseln sollten, fragte ich die allwissende Müllhalde nach dem Begriff der Konsensfiktion und stellte interessiert fest, dass er nicht auf mörderische Organisationen begrenzt ist, sondern auch Paarbeziehungen und Businessmeetings mit ihr funktionieren oder dass über sie im Bezug auf Demenzkranke und ihre Pflege geforscht wurde.

Ich stieß aber auch auf eine Publikation, die sich genau mit der Frage beschäftigt, die ich hatte: ob sich nämlich die sogenannten Spaziergänger auf ihren Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen innerhalb einer Konsensfiktion des Widerstands befänden. Der Artikel stammt vom Juli 2020 und nennt überraschend genau diese Maßnahmen bzw. die zustimmenden und warnenden Berichte und Tweets über sie eine Konsensfiktion. Also genau das Gegenteil von meiner Annahme:

„An die Stelle demokratischer Aushandlung und Debatte traten dagegen zunehmend Konsensfiktionen, also sprachliche und andere symbolische Praktiken, die einen gesellschaftlichen Konsens lediglich behaupteten, inszenierten oder manipulativ einforderten, um damit politische Entscheidungen gegen Kritik zu immunisieren. Hierzu gehör(t)en vor allem Einheitsparolen verbunden mit moralischen Appellen, Ermahnungen und Belehrungen mit latenten sozialen oder explizit-[wider]rechtlichen Sanktionsandrohungen bei nonkonformem Verhalten (vgl. etwa zwischenzeitlich populäre Twitter-Hashtags wie #wirbleibenzuhaus nebst allen Varianten, #FlattenTheCurve, #ApplausFuerDieHelden etc.; […]). Wir-Rhetoriken nahmen temporär genauso sukzessive zu wie etwa die Adjektive gemeinsam (ein Schlagwort der Unionsparteien) und solidarisch (einst Fahnenwort linker/Arbeitnehmer-bezogener Interessensgruppen). […]

Konsensfiktionen und Alternativlos-Rhetoriken sind in vielerlei Hinsicht problematisch: Erstens verhindern sie eine offene und kritische Debatte; zweitens ver- oder überdecken sie tatsächliche soziale Unterschiede, Problemlagen und Bedürfnisse (etwa die Abhängigkeit von Gesundheit und sozialer Herkunft); drittens befördert sich schwelende Unzufriedenheit, die sich früher oder später Bahn bricht, den sozialen Frieden gefährdet und/oder Orientierung in allem sucht, was nach ‚Nicht-Establishment‘ aussieht (langfristig dürfte die AfD daher von der Corona-Diskurskonstellation profitieren).“

Die AfD scheint mir bisher glücklicherweise nicht überproportional von diesen Debatten profitiert zu haben; ihr Ergebnis bei der Bundestagswahl 2021 lag unterhalb dem von 2017 (10,3 vs. 12,6%). Profitiert haben eher die außerparlamentarischen Gruppierungen, für die ich nicht mal einen gemeinsamen Oberbegriff habe. Der eben verlinkte Artikel zeigt sich pikiert über Begriffe wie Covidioten oder Aluhüte und kommt zu einer in meinen Augen gefährlichen Folgerung:

„Der Ausdruck Verschwörungstheoretiker (u.ä. wie Aluhutträger) wurde und wird im Pandemie-Diskurs äußerst flexibel gegen alle Akteure eingesetzt, die sich von der jeweiligen Mehrheitsposition (insb. von politischen Maßnahmen gegen die Pandemie) zu weit entfernen. Eine diskursspezifische Variante sind etwa die Neologismen Coronademo und Covidioten, die teilweise pauschalisierend jeglichen öffentlichen (Straßen-)Protest abwerten und Unterstützung oder gar (An)Teilnahme verunmöglichen. Das heißt freilich nicht, dass einige der so referierten Äußerungen oder Diskursakteure ob ihrer Substanz- bzw. Evidenzmängel nicht zurecht zu kritisieren wären. Aus diskursanalytischer Perspektive ist der Punkt vielmehr, dass der Einsatz von Kontaminationswörtern nicht das Ende einer argumentativen Auseinandersetzung bildet, sondern umgekehrt die ‚Sinnlosigkeit‘ jeglicher Kritik oder Befassung bereits unterstellt (vgl. dazu Vogel 2018 sowie Knobloch 2018; eine genauere Einordnung von Kontaminationswörtern auf empirischer Grundlage ist derzeit Gegenstand laufender Forschung).“

Und da sind wir wieder bei dem schwankenden Boden, mit dem ich derzeit hadere. Das mag sein, dass der Begriff „Covidiot“ einem partnerschaftlichen Diskurs im Wege steht, aber Pappgalgen, auf denen „Für Merkel“ steht, Telegram-Kommunikationen, in denen zu Tötungen aufgerufen werden, Fackelaufmärsche vor Privatwohnungen von Politiker*innen und Gewalt gegen Polizist*innen, die die Demonstrationen der sogenannten Spaziergänger begleiten, die sich stur über derzeitiges Recht hinwegsetzen, sind in meinen Augen auch nicht gerade offenherzige Gesprächsangebote.

Die Gewalt, die ich derzeit aus sicherer Entfernung über das Internet verfolge und der ich persönlich nicht ausgesetzt bin, beunruhigt mich mehr als das Virus oder die Maßnahmen, die zu seiner Bekämpfung gelten und ständig neu verhandelt werden. (Weswegen sie meiner Meinung nach gerade keine Fiktion eines Konsens erzeugen; von Anfang an wurden sie von der Mehrheit der Bevölkerung mitgetragen.) Mich beunruhigt es sehr, dass sich inzwischen ein gewisser Teil der Bevölkerung vom gemeinschaftlichen Konsens nicht nur abgewandt hat, sondern ihn aktiv bekämpft – und dazu noch der Meinung ist, im Recht zu sein. Dass sich diese Menschen ausgerechnet mit der jüdischen Bevölkerung im „Dritten Reich“ gleichsetzen, ist für mich äußerst schwer verständlich. Allerdings: Der Begriff der Konsensfiktion hat mich immerhin dazu gebracht, über diese Gleichsetzung nachzudenken. Wenn man von seiner Umgebung immer wieder signalisiert bekommt, im Widerstand zu sein, gegen eine Diktatur aufzustehen und keine Korrektive wie andersklingende Medien mehr zulässt, kann ich diese Denkart sogar nachvollziehen. Mir ist nur immer noch nicht klar, wie man diese Fiktion auflösen kann bzw. den ihr Anhängenden klarzumachen, dass sie sich in einer fiktiven Welt mit fiktiven Gegnern bewegen.

Was mich wieder zum Anfang des Blogeintrags und dem Begriff der Diskontinuität bringt. Ich zitiere: Diskontinuität bedeutet, dass alle Erfahrungen und Expertisen, die ich mir in den vergangenen Jahren angeeignet habe, auf einmal nicht mehr stimmen, und dass ich nicht angemessen auf diesen Zustand der Unsicherheit vorbereitet bin.

Ich ahne, dass viele Spaziergänger und ich gar nicht so weit voneinander entfernt sind. Ich bin im – vielleicht naiven, weißen, mittelschichtlichen – Bewusstsein aufgewachsen, dass der Staat und seine Organisationen für mich da sind. Ich halte mich an Regeln, zahle Steuern, fahre nicht zu schnell Auto und verprügele niemanden, weil mir seine Nase nicht passt. Dafür erwarte ich zum Beispiel, dass der Staat mir eine Schulbildung zukommen lässt, in Krankenhäusern Platz für mich ist und ich vor Menschen geschützt werde, die mich verprügeln wollen, weil ihnen meine Nase nicht passt. Seit fast zwei Jahren ist dieses Vertrauensverhältnis allerdings angeknackst. Schule scheint inzwischen mehr ein Glücksspiel zu sein, das auf den Schultern von Lehrenden, Eltern und Kindern ausgetragen wird. Wie schlecht der Zustand des Gesundheitssystems ist, war mir in diesem Ausmaß nicht klar. Aber am meisten bin ich davon überfordert, dass der Staat sein Gewaltmonopol aus den Händen gibt, das er bei Demonstrationen linker Gruppierungen, G20-Gipfeln oder Fußballspielen doch immer sicher beherrschte. Ich bin davon überfordert, dass Menschen sich in deutlich wahrnehmbaren Zahlen gegen den Staat wenden, dass sie kurz davor sind, den Reichstag zu stürmen, dass ihnen in meinen Augen sinnvolle Regeln des Zusammenlebens – Rücksicht, Solidarität, Ansteckungsvermeidung – schon zu viel und eine Einschränkung ihres persönlichen Freiheitsbegriffs sind. Ich bin davon überrascht, mehr Staatsgewalt gegenüber den Spaziergängern zu fordern, wo ich sonst überhaupt keine Freundin von eben dieser Staatsgewalt war. Ich bin überfordert davon, dass meine kleine Welt nicht mehr so funktioniert wie noch vor zwei Jahren, und ich komme aus dieser Fassungslosigkeitsschleife kaum wieder heraus. Und ich fange gar nicht erst an, über die drohende Umweltkatastrophe nachzudenken, weil diese mich in ihrer Unfasslichkeit noch mehr überfordert.

Ich ahne, dass auch einige der Spaziergänger eher aus Fassungslosigkeit und der daraus folgenden Wut demonstrieren und (hoffentlich) nur ein kleiner Teil gewaltbereit und offensichtlich staatsfeindlich ist. Aber auch hier greift mein Gefühl der Diskontinuität: Früher hätte ich vehement dafür plädiert, zu reden, zu diskutieren, Fakten zu kommunizieren, um Menschen zu überzeugen. Aber das hat sich spätestens mit dem Einzug der AfD in diverse Parlamente erledigt. Ich komme sehr schwer damit zurecht, dass ein Teil der Menschen in meinem Staat sich freiwillig und anscheinend bewusst und wissentlich in Konsensfiktionen begibt, die theoretisch mit gutem Willen und Lesekompetenz widerlegt werden könnten. Ich hätte schlicht nicht damit gerechnet, dass das passiert. Und ich weiß immer weniger, wie ich meine ehemals halbwegs heile Welt wieder zusammenstückeln kann, ohne ständig das Gefühl zu haben, in einer Apokalypse zu leben, die keine ist, sondern ein Dauerzustand.