Tagebuch Dienstag, 2. Februar 2021 – Über Fotografie nachdenken

Montag war ich schon um 4 wach, gestern immerhin erst seit kurz vor 6, yay, aber dann daddelte ich wieder zwei Stunden im Bett am Handy rum mit der inneren Ausrede, ach, mein Arbeitsweg ist ja so kurz, ich bin brav um 9 am Schreibtisch. Das klappte dann mit Duschen und Teekochen aber nur so gerade eben und so hatte ich gleich morgens das Gefühl, zu spät gekommen zu sein, bescheuert.

Das Tagwerk war, mal wieder, immer noch, an der Dissüberarbeitung zu puscheln. Gestern beendete ich die noch ausstehenden Zwischenfazite, die noch zum Teil der Arbeit gehören, die vor 1945 spielt. Heute kommt dann alles bis zu Protzens Tod 1956 dran, und da ich im allerletzten Teil „Einordnung und Ausblick“ vermutlich am wenigsten ändern muss, würde ich das jetzt alles gerne mal komplett lesen, bevor ich zu eben diesem Schluss komme. Wir werden sehen.

Christian veröffentlicht in seinem Blog sehr oft Fotos, immer schon breit und groß und so, dass man sie sich vernünftig angucken kann, nicht so’n Pixelkram wie in anderen Weblogs *hust* hier *hust*, und ich sehe die immer gerne an. Einen seiner Buchtipps verschenkte ich bereits an F., der auch gerne etwas minimalistischer unterwegs ist, und soweit ich das beurteilen kann, hat ihm das Buch gefallen und genützt.

Vorgestern schrieb Christian etwas ausführlicher über seinen Weg zu seinen Bildern, gerne gelesen. Gestern beschnitt er zwei der Bilder neu, die er am Vortag gezeigt hatte, um den Unterschied klarzumachen, wie sehr Nachbearbeitung nötig ist. Und da musste ich dann doch mal einen meiner seltenen Blogkommentare loslassen, und daraus entwickelte sich die Frage, wie sehr man als Künstlerin überhaupt schon weiß, was man da tut, während man es tut, ich zitiere Christian: „Was sagt eigentlich die Fachfrau zu der Frage, wie bewusst das dem Künstler beim Anfertigen des Kunstwerkes ist? Plant die Künstlerin das beim Heben des Handys irgendwo im Mendener Feld? Tut sie das unbewusst? Gibt es die Schwelle zu „man spürt die Absicht und ist verstimmt“?“

Zur Beantwortung dieser Frage zückte ich eins der wenigen Theoriebücher, die ich mir als Bachelor mal angeschafft hatte, verfluchte meine übliche Abneigung gegen Theorie, die dazu geführt hatte, dass das eins der wenigen geblieben war, und antwortete:

„Wie bewusst der Künstlerin das ist, was sie tut, lässt sich recht einfach beantworten: sehr, sonst würde sie nicht fotografieren, malen, skulptieren. Ich zitiere mal einen meiner fachlichen Lieblinge, wo es eher um Kunstwerk und Betrachterin geht, aber ich meine, das kann man erweitern: „Kunstwerk und Betrachter kommen unter Bedingungen zusammen; sie sind keine klinisch reinen und isolierten Einheiten. Und so wie der Betrachter sich dem Werk nähert, so begegnet ihm das Kunstwerk: antwortend und seine Tätigkeit anerkennend.“ Die „Prämisse der Rezeptionsästhetik“ und meiner Meinung nach auch der der künstlerischen Tätigkeit: „dass die Betrachterfunktion im Werk vorgesehen ist.“

Ob du nun genau diesen Vogel ablichten wolltest oder genau diesen Sonneneinfall, ist zweitrangig; wichtig ist, dass du etwas gesehen hast, was du festhalten – und herzeigen wolltest. Das heißt, wenn ich ein Foto von dir betrachte, weiß ich, dass du es mit dieser Funktion aufgenommen hast. Ob ich darüber verstimmt bin, liegt dann wieder nicht mehr in deiner Hand – und macht ein ganz anderes Fass auf: Wie reagieren wir auf Kunst?

Zitate: Wolfkamp Kemp: „Kunstwerk und Betrachter. Der rezeptionsästhetische Ansatz“, in: Hans Belting (u. a.) (Hrsg.): Kunstgeschichte: Eine Einführung, Berlin 2008 (Erstauflage 1985), S. 247–265, hier S. 248.“

„Wir reagieren wir auf Kunst“ ist einer unserer liebsten Running Gags im Podcast, gerade wenn es um Fotos geht. Flo fotografiert schon ewig und kann viel zur Technik sagen, F. versucht sich daran erst seit ungefähr einem Jahr ernsthaft und vergleicht sich, gefühlt, dauernd und viel zu viel mit anderen, ich komme immer mit dem female gaze um die Ecke und wir meckern alle über Instagram. Auch darüber gibt es in dem eben erwähnten schlauen Buch natürlich Aufsätze: Wie nähert man sich einem Kunstwerk über die formanalytische Methode, wie über die ikonologische, wie über die sozialgeschichtliche usw. Jede:r von uns bringt einen ganz eigenen Rucksack an Erfahrungen mit, und deswegen sieht jedes Werk für jede:n anders aus bzw. transportiert andere Dinge.

Mir fiel nur gestern wieder mal auf, dass wir bloggenden Menschen immer etwas herzeigen. Christian zeigt ja nicht nur seine Bilder, sondern schreibt auch einen Text dazu, genau wie ich, die sich hier in Worten präsentiert. Immer ausgewählt, nie vollständig, gerne auch mal hübsch redigiert, aber ich zeige immer etwas, ich stelle immer etwas zur Schau. Nach fast 20 Jahren Rumgeblogge fiel mir zum ersten Mal auf, wie quatschig mein Motto da oben links eigentlich ist: „Blog like nobody’s watching“ war mal als Gedankenstütze gedacht, von der Leber weg zu erzählen und eben nicht auszuwählen und zu redigieren, wie ich das im beruflichen Alltag mache(n muss). Aber es bleibt quatschig.

Vielleicht kehre ich zu meinem ersten Blogmotto zurück: „The person you love is 72% water.“ Aber so cleveres Wortgeklingel hat überhaupt nichts mehr mit mir zu tun, da kann ich ja gleich meinen Facebook-Account wieder öffnen. Hm. Ich denke da mal weiter drüber nach.