Tagebuch Donnerstag bis Sonntag, 21. bis 24. Januar 2021 – Autobahn, Franzbrötchen, „Junge Frau“

Seit Donnerstag ringe ich mein langes, langes Autobahnkapitel nieder. Bei dem dachte ich, ich müsste am wenigstens korrigieren, weil ich diesen vielen Einzelteilen ja eh die größte Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Aber aus den vielen Einzelteilen wird jetzt ein einziger Teil, und daher feile ich gerade an der Grundstruktur des Kapitels, damit man nicht einschläft bei 100 Seiten Autobahn, den Übergängen von einem Jahr mit acht Werken zur RAB von Protzen bis zur nächsten Ausstellung mit derartigen Gemälden bis zum nächsten Jahr mit fünf Werken zur RAB usw. Oder ich werfe die Struktur dieses Kapitels nochmal über den Haufen, ich bin gerade so schön im Flow. Nebenbei wühle ich weiterhin in Datenbanken nach neuer Literatur, um die Fragen und Anmerkungen, die mein Doktorvater im Dokument hinterlassen hat, einzuarbeiten (oder auch nicht, um sie in sehr wenigen Fällen zu ignorieren).

Am Freitagvormittag traute ich mich bei gerade eis- und schneefreien Radwegen mal wieder aufs Fahrrad, um die U-Bahn zu vermeiden. Ich brauchte ein neues Rezept von meiner Hausärztin, und Freitags ist dort immer am wenigsten los. Wenn ich schon mal da war, fragte ich nach einer Grippeimpfung, die im Herbst wegen des fehlenden Impfstoffs nicht möglich gewesen war; jetzt war welcher da, ich wurde geimpft und kriegte einen schönen Stempel in den Impfpass. Ich hoffe, ich muss nicht mehr allzu lange auf den nächsten Stempel warten. Ich bin in Gruppe 3 für die Covid-Impfung und richte mich seelisch auf Mai oder so ein.

In diesem Zusammenhang dachte ich über die mögliche Bevorzugung Geimpfter nach: Sie dürften von mir aus gerne wieder in Restaurants, Museen und Fitnessstudios, Schulen und Bibliotheken. Macht alles auf, kontrolliert die Impfpässe, fertig. Ich meine, im Deutschlandfunk wurde argumentiert, dass das keine Privilegien wären, sondern im Gegenteil, die Wiederherstellung von Grundrechten. Menschen, die (hoffentlich, das ist ja noch nicht klar) keine Gefahr mehr für andere darstellen, dürfen schlicht nicht an der Bewegungsfreiheit und ähnlichen Rechten gehindert werden. Fand ich einleuchtend. Von mir aus dürfen die geimpften 80-Jährigen auch gerne jetzt schon Partys feiern, so lange die Enkelkinder noch draußen bleiben.

Auf dem Rückweg von der Ärztin holte ich mir Semmeln vom Lieblingsbäcker, um den Hunger bis abends zu überbrücken. F. trug uns wieder Köstlichkeiten aus dem Broeding an den Tisch. Ich buk das kleine Karottenbrot noch mal auf, obwohl das nicht in der Bedienungsanleitung stand, aber bisher mussten wir jedes Brot noch einmal aufbacken, also tat ich das einfach. Dazu gab es Schmalz.

Danach freuten wir uns über eine Kartoffelterrine mit Beten und schwarzer Walnuss, zum Hauptgang gab es geschmorte Ochsenschulter mit Wurzelgemüse und als Nachtisch Marzipan-Stollen-Mousse mit irgendwas, ich habe nach Marzipan-Stollen-Mousse nicht mehr weitergelesen. Das klang in der Vorschau nach einem richtig klassischen Broeding-Menü und das war es dann auch.

F. brachte außerdem einen PetNat mit sowie einen Zweigelt, bei denen ich nie verstehe, warum meine Nase sie hasst (bzw. sie meine Nase, die stinken immer!), mein Gaumen sie aber mag.



Samstag war wieder Schreibtischtag, die Autobahn. Zwischendurch gewann aber immerhin Augsburg gegen Union und ich durfte mir ein Geschenk aus der Packstation holen. Das begann ich, wie ich vorgestern beim Dankeschön-Eintrag schrieb, gleich abends im Bett. Und gestern tagsüber las ich es dann zuende. Hiermit eine große Empfehlung für Alena Schröders Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid. Mit Lesebändchen!

Das Buch wechselt in jedem Kapitel die Perspektive: Mal folgen wir der unmotiviert promovierenden Germanisten Hannah, wie sie unmotiviert ihre Oma im Altersheim besucht oder sich unmotiviert in eine Affäre stürzt, dann sind wir plötzlich in den 1920er-Jahren, wo wir Hannahs Urgroßmutter kennenlernen – und dementsprechend auch erneut ihre Oma, dieses Mal als Kind. Der rote Faden ist nicht nur die Familiengeschichte, sondern auch ein vermeintliches Vermeer-Gemälde, nach dem Hannah auf der Suche ist. Oder auch nicht, sie ist da etwas unmotiviert. Es gehörte den Eltern des Ehemanns ihrer Urgroßmutter, die 1942 nach Treblinka deportiert wurden, und damit sind wir beim unangenehmen Teil des Buchs.

Ich mochte den ständigen Perspektivwechsel gerne, kam aber zunächst nicht mit der ebenfalls veränderten Ausdrucksweise zurecht. Schröder versucht netterweise nicht, Dialoge zu sehr historisch klingen zu lassen bzw. die heutige Sprache zu lässig zu verwenden, aber manchmal stolperte ich schon darüber, eben noch von einem Volksempfänger gelesen zu haben und zwei Seiten später von WhatsApp. Daran gewöhnte ich mich aber schnell, und ich ahne inzwischen, dass auch das ein großer Reiz dieses Buchs ist. Es gibt genügend Kapitel, die wirklich keine gute Laune machen, wie das halt so ist mit Kapiteln, die in der NS-Zeit spielen, aber man hat kaum Zeit, das Buch deswegen weglegen zu wollen, weil man sich ein Kapitel später wieder mit Hannah zusammen über irgendwas aufregen kann. Der arme Historiker, der ihr bei der Recherche hilft, kommt mir persönlich natürlich viel zu schlecht weg, Achtung, totale Übertreibung: ARCHIVE SIND SUPER! MENSCHEN, DIE GERNE IN ARCHIVE GEHEN, AUCH. Aber das war wirklich das einzige, was ich am Buch äußerst subjektiv zu bequengeln habe. Die 350 Seiten lasen sich extrem gut weg, und obwohl ich behaupte, von dem Thema wirklich Ahnung zu haben, habe ich mich nicht gelangweilt, ganz im Gegenteil. Auch das liegt sehr wahrscheinlich an der cleveren Stuktur.

(Überlege gerade, wie ich die für die Diss klauen kann, aber naja.)

Mir gefiel außerdem, dass Schröder fast nebenbei verschiedene Lebensentwürfe von Frauen unter die Lupe nimmt, ohne sie zu werten. Sehr amüsant fand ich das kurze Kapitel, in dem die kleine philosemitische und sehr bemühte Gruppe um den Historiker ihr Fett weg bekommt, wobei ich mir da selber auch ein winziges bisschen an die Nase gefasst habe mit dem vielleicht zu eifrigen Gedenken und ja alles richtig machen zu wollen.

Und ein Absatz kriegte mich dann richtig. Ich will nicht spoilern, daher mache ich einen Namen mal unkenntlich im Zitat: „Nein, Hannah wollte keine Torte mehr. Sie war aufgeregt, und es kam ihr vor, als würde [Person X] den Goldmanns und auch ihrer Urgroßmutter, dieser ganzen vergangenen Zeit, eine neue und vielleicht die bislang fehlende Dimension verleihen. So als könnte sie erst jetzt glauben, dass sie wirklich gelebt hatten und nicht nur als Archivmaterial existieren.“
(S. 313)

Das ist ein bisschen mein Problem mit Protzen und seinem Werk. In unkonzentrierten Momenten halte ich ihn für ein Subjekt, das unter meinem Mikroskop liegt und vergesse, dass sein Werk ohne ihn als Person nicht existieren würde. Ich vergesse manchmal, dass er eine Familie hatte und Menschen, die ihn kannten und schätzten und liebten, während ich mir hier nur anhand seines Nachlasses ein manchmal hartes Urteil über ihn erlaube. Das liegt natürlich auch daran, dass niemand von den Menschen, die ihn oder seine Frau noch hätten kennen können, mit mir kommunizieren wollte, was aber ein schönes anderes Fass aufmacht, auf das ich vielleicht in der Überarbeitung der Diss noch eingehen werde: wie schwierig es ist, Dinge zu rekonstruieren, die die allermeisten Beteiligten sehr gerne vergessen möchten. Auch das klingt im Buch des Öfteren an. Große Leseempfehlung.

Sonntag ist bekanntlich Hefeteigtag, es gab mal wieder Franzbrötchen. Die sahen leider fürchterlich aus, viel zu trocken, so dachte ich, aber sie schmeckten ganz hervorragend. Endlich mal die richtige Klietschigkeit hingekriegt, die ich so an diesem Backwerk mag.

Zwei davon verpackte ich mehrfach und hängte sie F. an die Wohnungstür, immer schön Kontakte vermeiden, aber trotzdem gut essen.

Ja, fürchterlicher Gesamteindruck, ich weiß, aber schauen Sie sich die vielen schönen Knusperschichten an! Herrlich! Immer zweimal mehr tourieren als im Rezept angegeben, totaler Geheimtipp.

Während die Franzbrötchen vor sich hingingen, stundenlang, freute ich mich über meinen ebenso lustig aufgehenden, weil frisch gefütterten Sauerteig, links Wehner, rechts Rosinante. Rosinante riecht allerdings arg nach Nagellackentferner, da muss ich wohl mal gegensteuern.

Und weil gestern die Sonne schien, traute sich sogar Sadness kurz aus ihrer Höhle, jedenfalls sah es so aus. Ich fotografierte das gestern spontan für Insta und überlegte, ob ich vorher noch staubwischen sollte, aber bis ich das Staubtuch geholt und alles wieder hübsch arrangiert hätte, wäre der Sonnenstrahl weitergewandert. Jetzt wisst ihr alle, was ich seit gut zwei Jahren weiß: Diese Wohnung ist ein einziger Staubmagnet. Ich habe noch in keiner Wohnung – theoretisch – so oft abstauben gemusst wie hier, wo ich es irgendwann aufgegeben habe. Es gibt Wichtigeres.