Ein abstraktes Dankeschön …

… an Herrn oder Frau Unbekannt, es lag leider kein Absendezettel dabei, der oder die mir ein dickes Paket zukommen ließ, in dem sich Pepe Karmels Abstract Art: A Global History befand. Das Buch landete nach einem Artikel in der NY Times auf meinem Wunschzettel, eine Liste der besten Kunstbücher des Jahres 2020. Hat das Jahr doch was Gutes hervorgebracht.

Ich zitiere die kurze Besprechung vollständig:

„This large coffee table/art history book announces its singularity with its cover, a painting by Hilma af Klint, whose recently rediscovered achievement upended the history of modernist abstraction. A herculean effort, it reproduces the efforts of over 200 artists from all seven continents, usually with sharp capsule discussions. It provocatively divides abstraction according to subject matter (the body, the cosmos, landscape, architecture), increasing its accessibility. The book’s inclusions and theories can be debated, but it sets a standard for future efforts.“

Eine globale Geschichte, die das Werk einer Frau auf den Titel packt, hat bei mir von vornherein viele Sympathiepunkte. Und dass sie global ist, ebenso, denn das ist leider immer noch die Crux unseres Faches und vermutlich vieler anderer Richtungen der Geisteswissenschaften: Unser Verständnis fängt beim Kanon westlicher, weißer, meist männlicher Kunst an, an die sich alles andere andockt. Das ändert sich netterweise seit einigen Jahren, aber der Weg ist noch sehr weit. Ich erinnere mich an mein Staunen in der grundlegenden Ausstellung im Haus der Kunst, Postwar, die mein eigenes Bild von Kunst über jeden Haufen geworfen hat, den ich im Kopf hatte. Daher klang dieses Buch genau wie das richtige, um mich mal eingehender der Abstraktion zu widmen.

Mein Interesse an der Kunst des NS führt dazu, dass ich mich eher im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert auskenne als danach, und zudem liegt mir dementsprechend die naturalistische Kunst mehr. Ich schaue mir aber sehr gerne abstrakte Kunst an, gerade weil sie mir Dinge zeigt, die sonst in meinem Leben – oder auf diesem Planeten – ohne sie nicht vorkommen.

Die Idee, Werke, die nichts Nachvollziehbares abbilden, in Kategorien zu ordnen, die genau das tun – Körper, geöffnete Fenster, Sonnen und Planeten –, klingt erstmal sehr abwegig. Ganz durchhalten kann Karmel das auch nicht, einige Angaben im Inhaltsverzeichnis lauten „Embryos and Blobs“, „Vibrations“ oder auch schlicht „Calligraphy“. Wie die Times anklingen lässt, kann man darüber streiten wie über alles, aber beim ersten Durchblättern fand ich es ganz schlau gemacht. Karmel ordnet nicht, wie es die bisherigen Narrative der Kunst es tun, nach Jahreszahlen, Schulen oder Kontinenten, sondern wirft alles wild durcheinander – um es in eine neue Ordnung zu bringen. Oder er versucht es zumindest.

David Carrier schreibt auf Hyperallergic in seiner guten Rezension die entscheidenden Sätze:

„Karmel’s originality and literary skill are praiseworthy. But his account is not a history. There is no reason given to suggest that the later artists further developed the forms of abstraction explored by their predecessors. […] I imagine that Thames & Hudson would have vetoed calling Karmel’s book A Global Charting of the Varieties of Abstraction, with Reference to Its Figurative Roots, though that title would give a clearer view of his achievement. Karmel has, in fact, proven that a global history of abstraction is impossible. This is an important achievement, for it opens the way to constructive analysis. Today’s art world has an essentially different structure from Gombrich’s Eurocentric tradition or Clement Greenberg’s New York-centric era; we must now recognize that writing a global art history demands that we give up historical thinking.“

Das trifft, soweit ich das überblicken kann, auch durchaus in Teilen auf die naturalistische Kunst zu. Ich twitterte im Dezember diesen Link zum Deutschlandfunk über afrikanische Kunst. Die letzte Abbildung hat mich völlig umgehauen: Sie zeigt eine menschliche Figur mit deutlich abstrahierten Zügen, aber in einer fluiden Bewegung erstarrt und stammt aus dem 13. Jahrhundert. Diese Art der Darstellung bekam Europa erst Anfang des 20. Jahrhunderts hin und fand sich irre innovativ (siehe z. B. die Demoiselles d’Avignon, die Skulpturen kamen noch einige Jahre später). Dass man nun komplett darauf verzichtet, historisch zu denken, halte ich allerdings für einen Fehlschluss, ich hänge schon noch an der Theorie, dass wir bei sehr vielen Leistungen auf den Schultern unserer Vorgängerinnen stehen. Wir vergessen sie nur gerne wieder.

Wie gesagt, ich habe das Buch erst einmal durchgeblättert und mich über Eva Hesse und Gego gefreut, aber bis jetzt gefällt mir der Brocken, auch in seiner Inklusion von vielen Künstlerinnen und Menschen außerhalb von Europa und den USA, ausgesprochen gut, auch in seiner wirklich üppigen Aufmachung. Es war beim Blättern ein bisschen, wie durch eine Ausstellung zu bummeln, was mir doch mehr fehlt als ich dachte. Das tat sehr gut.

Vielen Dank für das Geschenk, ich habe mich sehr gefreut.