Tagebuch Sonntag, 17. Januar 2021 – Lesetag

Endlich Hedwig Richters Demokratie: Eine deutsche Affäre ausgelesen. Das begann ich kurz vor dem Jahreswechsel, dann kam wieder Kram dazwischen, aber immer wenn ich mich für längere Zeit an das Buch setzte, las ich gleich zwei Stunden lang. So wie auch Samstag Abend, als ich nur noch so drei, vier Seiten zum Einschlafen überfliegen wollte und dann war es plötzlich zwei Uhr morgens.

Ich erspare mir eine lange Rezension, das haben andere schon erledigt; beim Perlentaucher sieht man ganz gut die Spanne an Besprechungen, die von „Finger weg“ zu „Find ich gut“ reichen. (Hier ausführlich.) Ich mochte den gut lesbaren Schreibstil und dass oft genug darauf hingewiesen wird, dass vieles erst einmal für weiße Männer gilt und dann lange nichts kam, bis sich Dinge eben ändern. Dass genau das in einigen Kritiken bemängelt wird, kann ich nachvollziehen, aber nachdem ich hundert Bücher gelesen habe, in denen mit „Menschen“ immer „Männer“ gemeint sind, fand ich die Abwechslung sehr angenehm.

Mit dem Kapitel zum „Dritten Reich“ hadere ich etwas, weil es – natürlich – in einem Buch, das die Demokratie als eine in Deutschland längst etablierte Regierungsform feiert, ein fieser Stopper ist und sich auch eher auf Nebenschauplätzen verliert. Ein roter Faden durch das Buch ist der Fokus auf den menschlichen Körper – auch hier gerne wieder auf den weiblichen, der jahrhundertelang eher mies wegkam. Dementsprechend geht es in diesem Kapitel eher um Tod und Vernichtung, was sich ein bisschen wie eine, ganz vorsichtig formuliert, Verlegenheitslösung anfühlt, weil die nicht vorhandene Demokratiegeschichte zur NS-Zeit nur eine halbe Seite brauchen würde.

Ich wurde immerhin daran erinnert, dass auch die NS-Machthaber weiter Wahlen abhielten, auch wenn diese ihren Namen nicht verdienten, und dass auch der Reichstag vorerst weiter bestand und als Legitimation diente, obwohl er längst eine Attrappe war. Das hatte ich schon wieder vergessen. Die DDR-Volkskammerwahlen wurden mir dann etwas zu sehr in diese Nähe gerückt, und generell war mir der immer durchscheinende Antikommunismus ab und zu ein bisschen zu viel, während der Erfolg der Demokratie sehr oft mit dem Erfolg des Kapitalismus gleichgesetzt wird. So liest man zu den 1960er-, 1970er-Jahren etwas flapsig formuliert: „Glück bedeutete für viele Menschen ein Leben mit Zentralheizung, Wurst und Italienurlaub.“ (S. 288)

An generell dem Schreibstil arbeitet sich Franziska Augstein in der SZ ab. Hier ein Zitat aus ihrer Rezension, auch unter obigem Link zu finden, das mit einem Zitat aus dem Buch beginnt: „‚Demokratiegeschichte – das ist die dritte These dieses Buches – ist wesentlich eine Geschichte des Körpers, seiner Misshandlung, seiner Pflege, seines Darbens – und seiner Würde.‘ Historiker sind nicht genötigt, gut zu schreiben. Freilich, diese Wörter sind so miserabel zusammengesucht, dass sie wehtun. Knochentrockene Sätze, wofür deutsche Historiker früher bekannt waren, sind eiernder Expressivität bei Weitem vorzuziehen.“ Das sehe ich sehr anders. Erstens lese ich hier kein Rumeiern, sondern den Versuch, eben nicht knochentrocken zu schreiben – oder so, wie es englischsprachigen Historiker:innen zugestanden wird. Zweitens, denn das kam auch in der Rezension nicht gut weg, mochte ich die Idee, eine historische Entwicklung auch als Körpergeschichte zu formulieren. Mit dieser theoretischen Richtung hatte ich mich gerade erst für einen Abstract für einen Vortrag erstmals ausführlicher beschäftigt und finde es daher noch sehr spannend, aus einer amorphen Masse Mensch, der historisch irgendwas zustößt, einzelne Menschen, einzelne Körper zu machen, über die sie immer mehr selbst verfügen können. Klar, wenn man davon schon 20 Bücher gelesen hat, mag es nichts Neues mehr sein. Ich ahne aber, dass die Masse an Leser:innen – denn für die Masse ist es geschrieben – vermutlich eher zu diesem Buch greifen wird, um einen sehr knappen Überblick über 200 Jahre Demokratie in Deutschland zu erhalten, anstatt sich in fachspezifischen Diskussionen zu ergehen.

Das einzige, was ich wirklich zu bemängeln habe, ist der Titel: „Eine deutsche Affäre“? Das hat sich mir bis zum Ausblick im Buch nicht erschlossen. Auch „Angelegenheit“ als Ersatz für dieses doch eher sexualisierte Wort passt nicht so recht, weil „Deutschland zumeist ein recht gewöhnlicher Fall der Demokratiegeschichte war“ (S. 325). Also ist Demokratie eher eine Welt-Affäre? Was noch seltsamer klingt.

Fazit: Ich mochte es, habe es gern gelesen und doch einiges gelernt bzw. wurde an einige Details wieder erinnert. Daher von mir eine Empfehlung.

Danach begann ich ein Buch, das vermutlich weitaus weniger gute Laune machen wird: Jörg Osterlohs »Ausschaltung der Juden und des jüdischen Geistes«: Nationalsozialistische Kulturpolitik 1920–1945. Gestern schaffte ich nur die Einleitung, aber die reichte schon für fünf angekreuzte Bücher im Literaturverzeichnis, die ich für die Diss-Überarbeitung konsultieren möchte. Oder generell aus Interesse. Ich merkte allerdings schon da, dass der Forschungsschwerpunkt natürlich ein sehr anderer als mein eigener ist, was sich auch in ein paar Allgemeinplätzen zeigte, die bildende Kunst betreffend, die hier nur eine kulturelle Richtung unter vielen ist (Radio, Presse, Theater, Musik). Ich dachte wieder über Forschung über Täter und Opfer nach und fragte mich, wie so oft in den letzten Jahren, ob ich mir die falsche Seite ausgesucht hatte, über die ich mehr wissen will.

F. und ich zogen am Freitag zur Date Night wieder Gesprächskarten, das macht Spaß, sich Themen zuzuwerfen. Dieses Mal wollte die Karte „3 gute Romane“ von uns wissen. F. fing an und nannte Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit und Joyces Ulysses, was mich beides null überraschte. Die beiden hätte ich auch genannt, einfach weil sie für mich beide einmalige Leseerlebnisse waren (Proust, Joyce). Seine dritte Wahl war Hermann Brochs Tod des Vergil, an den ich mich noch nicht herangetraut habe.

Gegen diese drei Werke konnten meine nur abstinken, aber ich entschied mich als erstes für Jeffrey Eugenides’ Middlesex, denn mit Familiengeschichten kriegt man mich immer. Danach nannte ich Alex Garlands The Beach, ja, schon gut, aber das ist das einzige Buch, das ich durchlas – und sofort noch einmal von vorne begann, weil ich es nicht aus der Hand legen wollte. Mein drittes Werk war ein Feuchtwanger, der musste in die Liste; ich entschied mich für Exil, weil ich das von den drei Werken der Wartesaal-Trilogie am besten fand. Am anstrengendsten und schmerzhaftesten, aber eben auch am besten.

Erst als ich wieder vor dem Bücherregal stand, fiel mir noch Donna Tartt ein, deren Secret History ich seit 20 Jahren nochmal lesen will, aber dann doch nicht. Oder Douglas Coupland, von dem ich bis auf einen alle Romane besitze, aber ich ahne, dass seine Werke eher Zeitkapseln sind, die sind vermutlich nicht wirklich gut gealtert.