Tagebuch Montag, 31. August 2020 – Drei Jahre (von acht)

Gute-Laune-Programm für den Vormittag: zur Bibliothek des Deutschen Museums radeln und dort in alten Büchern blättern. Habe ich gemacht, war gut; das Paper, das mir vorschwebt, ist damit in Arbeit und wird demnächst als Abstract eingereicht.

Ich stieß mal wieder auf die üblichen Lustigkeiten zwischen NS-Staat und Bundesrepublik, rollte mit den Augen und blätterte weiter. Stunde Null my ass.

Nachmittags erinnerte mich @ellebil an einen alten Tweet von mir:

Den retweetete ich, woraufhin @bilsandbytes meinte, ich sei die erste, die sie kenne, die das wirklich in drei Jahren geschafft hätte.

Nun.

Dafür bin ich jetzt pleite, und an miesen Tagen frage ich mich ab und zu immer noch, ob das alles so eine schnafte Idee gewesen ist. Ich denke an das Ende einer Beziehung mit einem guten Kerl, an eine nette Stadt mit netten Menschen, in der ich nicht mehr wohne und ja, an den verdammten Kontostand, der mal ganz anders aussah und aus dem ich durchaus Selbstbewusstsein und Seelenruhe schöpfen konnte. Gut, München hat sich als noch nettere Stadt entpuppt und der neue Kerl ist auch super, aber das Geld macht mir wirklich etwas Sorgen, gerade weil München, du verdammtes überteuertes Nest.

Aber dann denke ich daran, dass ich beruflich, wenn man das Studium mal als Beruf ansieht, noch nie so viel Spaß gehabt habe wie in den letzten acht Jahren. Ich denke daran, dass ich aus so ziemlich jedem Seminar und jeder Vorlesung mit einem breiten Grinsen oder mit ungläubigem Staunen, aber immer mit riesiger Neugier und Leselust gekommen bin und es kaum erwarten konnte bis zur nächsten Einheit. Die 8-Uhr-morgens-Vorlesungen mal ausgenommen, und bei den 16-Uhr-Seminaren war mein Kopf auch schon arg auf Feierabend eingestellt, aber das waren Lerneffekte aus den ersten Semestern. Ich denke daran, wie gerne ich die allermeisten universitären Aufgaben erledigt habe; dämliches Faktenbüffeln für die Klausuren weniger, lasst mich einfach noch ein paar Hausarbeiten schreiben, den selbst erabeiteten Kram merke ich mir nämlich jahrelang und nicht nur bis zum Prüfungstermin. Gerade im Vergleich zu manchen Kundenaufträgen, bei denen man schon beim Briefing mit den Augen rollt und an die vergeudete Lebenszeit denkt bzw. daran, dass man die Rechnung unter „Schmerzensgeld“ ablegt, war das Arbeiten für die Uni ein Genuss und ein Geschenk. Ich hatte fast konstant das Gefühl, etwas Wichtiges, etwas Gutes, etwas Sinnvolles zu tun und nicht nur irgendwas, was die Miete zahlt und die nächste Pizza. Dass das ein Luxus war, habe ich mir immer selbst gesagt, aber jetzt, wo das alles zuende sein soll, frage ich mich schon, wieso das ein Luxus ist und wieso wir nicht alle so arbeiten können. Stichwort bedingungsloses Grundeinkommen. Wieso müssen viele von uns Jobs erledigen, die nicht ausfüllen, die unnötig anstrengen, die sinnlos sind, um ein Dach über dem Kopf zu haben und zu Lidl zu können, weil der Biomarkt nicht drin ist? Aber das ist eine andere Diskussion.

Ich war nach dem Tweet gestern gleichzeitig stolz und traurig, weil ich ahne, dass jetzt wieder Deppenjobs erledigt werden müssen und Bibliothekszeit erst recht Luxus werden wird. Ich bin traurig darüber, dass ich die Zeit an der Uni in meinen Zwanzigern nicht würdigen konnte, aber das kann ich leider nicht mehr ändern. Keine Ahnung, ob aus meiner Begeisterung noch eine Karriere wird, was ich innerlich natürlich hoffe, aber ebenfalls innerlich stellte ich mich neben den Bewerbungen auf Jobs, die ich wirklich haben möchte, auch auf Bewerbungen auf Jobs ein, die mir total egal sein werden. Meine innere Protestantin wird auch die gut und brav und gewissenhaft erledigen, aber vermutlich mit deutlich weniger Begeisterung als die, die mich in jedem Archiv, jeder Bibliothek und jeder wissenschaftlichen Datenbank ereilt.

Abends Beethoven. (Noch bis zum 3.9. abrufbar, schnell hin.)