Tagebuch Mittwoch bis Freitag, 20. bis 22. Mai 2020 – Bürgerbüro, Deutsches Museum und NEW DISS ORDER

Seit ein, zwei Wochen gucke ich auf mein Inhaltsverzeichnis und hadere. Es kommt mir irre langweilig vor, und wenn ich nicht wüsste, was sich hinter den Kapiteln und Kapitelabschnitten verbirgt, würde ich denken, die Arbeit bestünde aus einer Aufzählung von Ausstellungen. Dass ich an so gut wie jede Ausstellung noch etwas angedockt habe – die NSV, die „Grille“, Mustersiedlung Ramersdorf – kapiert man erst bei Lesen. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass der Punkt, den ich machen will – kann Protzen als typischer oder untypischer systemkonform arbeitender Künstler im NS gelten –, erst im letzten Kapitel überhaupt klar wird. Also wenn man nur das Inhaltsverzeichnis liest. Und da ich selbst schon in genug Dissertationen reingeguckt habe, um zu forschen, ob da was für mich und meine Arbeit drinsteckt, weiß ich, wie wichtig ein cleveres Inhaltsverzeichnis ist.

Mittwoch begann ich dann sehr grobschlächtig, die komplette Diss umzubauen. Jetzt wo ich einmal alles brav chronologisch runtergeschrieben habe und auch nur noch ein Abschnitt fehlt, für den ich in ein Archiv muss, habe ich einen guten Überblick darüber, was denn wirklich wichtig ist für meine Forschungsfrage. Natürlich wird beim Umbau einiges wegfallen, an dem ich lange gearbeitet habe, aber: Jetzt fliegt es erstmal raus. Wieder reinholen geht ja immer. Ich bastele derzeit also neue Sinneinheiten statt chronologischer Blöcke und verpasse allem aussagekräftigere Überschriften. An diesem Vorhaben tüftelte ich jetzt seit drei Tagen und bisher fühlt sich das ganz hervorragend an.

Am Mittwoch morgen radelte ich ins Bürgerbüro. Mein Perso ist seit Anfang April nicht mehr gültig, und auch wenn ich wegen Corona gerade keine gemeinen Bußgelder zahlen müsste, habe ich doch gerne ein gültiges Ausweisdokument. Außerdem brauche ich für die Abgabe der Diss ein polizeiliches Führungszeugnis, für das man nicht ins Bürgerbüro muss, das kann man selbst beantragen – aber man braucht ein gültiges Ausweisdokument. Also machte ich mich darauf gefasst, zum normalen Perso noch einen vorläufigen zu beantragen, damit ich nicht auf den neuen warten musste, denn wenn ich das tue, wird die Zeit für das Führungszeugnis zu knapp. (Es ist kompliziert.)

Vor dem Bürgerbüro steht jetzt jemand, der kontrolliert, ob man einen Termin hat, den man online vereinbaren kann, was auch schon vor Corona möglich war. Man wird auch gebeten, nicht ewig früher im Warteraum zu sein, sondern vielleicht einfach hier vor der Tür an der frischen Luft zu warten. Wenn man reingeht, muss man allerdings die Türen selbst öffnen, und einen Desinfektionsspender habe ich auch nicht gesehen, aber gut.

Vor dem Warteraum hatte ich etwas Bedenken, denn der ist recht groß und immer voll. Nicht dieses Mal. Von den sonst geschätzt zehn Stuhlreihen wurden fünf entfernt, und bei diesen fünf war pro Reihe nur ein Platz frei, auf dem Rest lagen Absperrbänder. Auf die könnte man sich notfalls draufsetzen, Schilder wiesen auf den bitte einzuhaltenden Abstand hin. Außerdem wurden offensichtlich weitaus weniger Termine als sonst vergeben, so dass es gar nicht zu vielen Wartenden kam. Ich teilte mir den Raum mit vier weiteren Menschen, wartete zehn Minuten und durfte dann in ein Büro eintreten.

Dort saßen Mitarbeitende mit Mundschutz, und man saß ihnen nicht mehr direkt am Schreibtisch gegenüber, sondern quasi an der Längsseite, also etwas weiter entfernt. Dort wartete ein Tablet, auf dem man Dinge nachlesen, abnicken oder unterzeichnen konnte. Einzig meine Unterschrift für den neuen Perso musste ich auf Papier erledigen, das mir die freundliche Beamtin mit langem Arm hinlegte. Freundlich wie immer, möchte ich mal erwähnen, bis auf eine zugeknöpfte Standesbeamtin (Forschung! Nichts anderes!) habe ich hier immer nur nette und geduldige Ansprechpartner gehabt. So auch Mittwoch: Auf meine Frage, ob ich einen vorläufigen Ausweis fürs Führungszeugnis bräuchte, meinte die Dame, ach, das beantrage ich gleich für Sie mit. So einfach kann’s sein. Normalerweise muss man die Gebühren in einem anderen Raum bezahlen und kommt dann mit dem Beleg wieder, aber das wurde anscheinend umgestellt: „Das sehe ich hier auf meinem Rechner, ob Sie bezahlt haben. Schönen Tag!“

Nach Hause geradelt und dabei bewusst, wie schon auf der Hinfahrt, über den Königsplatz gefahren. Denn wenn irgendwas seit acht Jahren, die ich jetzt fast in München bin, immer gleich ist, dann: Es geht mir immer besser, wenn ich über den Königsplatz radele.

Beim Radeln gemerkt: Abstand halten ist auf den engen Radwegen nicht möglich und beim Warten an der Ampel stellt sich *immer* jemand neben dich. Oder fährt in die Lücke rein, die du zum Vordermensch gelassen hast. Den Hinweg zum Bürgerbüro fuhr ich ohne Mundschutz, den Rückweg dann mit. Ist vermutlich egal, ich fühle mich aber besser mit.

Zuhause erstmal Frühstück.

Donnerstag war Diss-Umbau-Tag. Sonst nix gemacht. Als Pausenfutter weiter Orphan Black geguckt, die Serie kannte ich wirklich noch nicht. Ist damals irgendwie an mir vorbeigegangen.

Gestern hatte ich vormittags einen Slot in der Bibliothek des Deutschen Museums. Dort muss man sich nun vor dem Besuch anmelden und die Bestätigung an der Pforte vorzeigen, auf der schon eine Platznummer steht. Ich hatte die 12, und wenn ich richtig im Lesesaal geguckt habe, dürften es nur noch so um die 20 Plätze sein.

Man kann nicht mehr einfach ein Schließfach wählen, um Jacke und Zeug einzuschließen, sondern bekommt einen Schlüssel, mit dem man sein Fach öffnet (wie im Bundesarchiv, wie ich gerührt bemerkte). Im Fach steht schon ein Korb, und ich ahne, dass mit dieser simplen Methode nachvollzogen werden kann, welche Fächer, Körbe und Schlüssel man mittags desinfizieren muss. Es gibt draußen am Gebäude und innen Bodenbeschriftungen, wo man bitte rein- und rausgehen sollte, und alle Mitarbeitenden in der Bib sitzen hinter Plastikscheiben. Deswegen kann man seine Bücher auch nicht mehr in einem schönen Stapel abgeben, sondern schiebt sie einzeln unter der Scheibe durch.

Ich beschäftigte mich gestern mit einigen Jahrgängen Zeitschriften, einmal Die Straße, in der ich ein paar Ausstellungen nachvollziehen konnte, die mir in der Sekundärliteratur nur launig und ohne Beleg vor die Füße geworfen wurden. Dann Deutsche Technik, in der ich weitere Belege erhoffte und auch fand. Im Bundesarchiv hatte ich eine Vorlage für eine Pressemitteilung zur Ausstellung „Die Straße“ (München 1934) gefunden, auf der ein Verteiler abgedruckt wurde – lauter lustige Titel, die die Bibliothek des Deutschen Museums natürlich alle hat, die Gute! Dafür hatte ich gestern keine Zeit, aber ich wurde auch so ein bisschen fündig. Irre viel Neues gab es nicht, halt eher Belege, und so hatte ich Zeit, Anzeigen zu vertwittern, aus denen ich blöderweise keinen Thread gemacht habe. (1, 2, 3, 4. Und eine neue, deprimierende Rubrik, die Ende 1940 in der Straße auftauchte.)

Nach Hause geradelt. Dabei eine andere Brücke gewählt, über die die Fahrt begann. Das war schön. (Das Deutsche Museum IST GROSS.)

Nachmittags weiter die Diss umgebaut. Schwesterchen schickte ein Foto des neuen Hochbeets im Garten der Eltern, woraufhin ich mit meinen Tomaten auf der Fensterbank und dem Salat im Blumenkasten konterte. Ich habe noch nie irgendwas ausgesät und bin völlig hingerissen von den kleinen Pflänzchen. Vermutlich werden die Vögel mir den Salat klauen und aus den Fenstertöpfen kommen zwei Cherrytomaten, aber die werden super.


Abends mit F. auf dem Balkon ein bisschen Weißwein genossen. Gemeinsam eingeschlafen. Darüber freue ich mich derzeit noch mehr als sonst, weil ich es wochenlang nicht hatte. Überhaupt fallen mir Dinge auf, über oder auf die ich mich freue, die ich ewig als selbstverständlich hingenommen habe, weil ich nie auf die Idee gekommen wäre, dass sie irgendwann einmal nicht möglich sein könnten. So was wie ein Bierchen in der Lieblingskneipe zu trinken. Leuten ohne Mundschutz gegenüberstehen. In eine Kirche gehen (den Impuls hatte ich recht früh, traue mich aber gerade gar nicht, wegen des Singens, ausgerechnet). Ein Konzerterlebnis teilen. Den eigenen Lebensgefährten küssen. Gemeinsam einschlafen.