Tagebuch Dienstag, 19. Mai 2020 – Vor einem Jahr

Gestern morgen wollte ich beim Karstadt um die Ecke biometrische Passbilder machen lassen – das war der nächste Fotofix, den mir das Internet verriet, zu dem ich radeln konnte, ohne verschwitzt zu sein. Dort war allerdings der Fotodrucker im Eimer. Ich radelte wieder nach Hause und guckte mir die anderen Möglichkeiten an, denn die hatte ich mir natürlich nicht gemerkt.

Fahrrad wieder aus dem Keller gezerrt, in das ich es zehn Minuten zuvor geistesabwesend abgestellt hatte, zum nächstgelegenen dm geradelt, bei dem man sich angeblich von freundlichen Angestellten fotografieren lassen kann. Den Service kannte ich gar nicht. Auf der dm-Website stand, dass es durch Corona eventuell zu lokalen Änderungen kommen könnte und so war es dann auch. Die wirklich freundliche Angestellte meinte, sie könnten derzeit den Mindestabstand nicht gewährleisten, daher keine Fotos.

Dieses Mal hatte ich mir netterweise noch ein paar Alternativen gemerkt und radelte weiter zum Stachus, wo ich in der Nähe des S-Bahn-Eingangs einen Fotoautomaten fand und sogar halbwegs unverschwitzte Bildchen bekam, wofür ich allerdings minutenlang mit den Augen rollen musste, weil man die blöde Sprachführung nicht vorklicken konnte und ihr hilflos ausgeliefert war. (Beinahe vergessen, den Mundschutz abzunehmen.) Gut, dass München so ein Dorf ist, man kommt überall mit dem Rad schnell hin.

Danach den halben Tag weiter Kleinkram erledigt, gestern war irgendwie ungeplant „Getting the little stuff done“-Tag. Hefeteig aufgefrischt, Wäsche gewaschen, Bürokram weggeheftet, oberflächlich geputzt (also eher kosmetisch und für das eigene Gefühl, es erledigt zu haben, mir gerade egal), eingekauft, damit ich das nicht am Tag vor dem Feiertag machen muss.

Gestern trudelten außerdem einige Zusagen ein: Am Freitag darf ich in die Bibliothek des Deutschen Museums, am Montag ins Hauptstaatsarchiv. Alles immer nur einen halben Tag lang, dann wird durchgefeudelt wie im ZI oder was auch immer die Leute da machen, wenn das Publikum weg ist. Heute habe ich einen Termin beim Bürgerbüro, um den Personalausweis zu beantragen. Es ist komisch: Da hat man sich acht Wochen lang daran gewöhnt, keine Termine mehr zu haben, und jetzt fühle ich mich total gehetzt. Ja, ist Quatsch, weiß ich. Ich schlafe seit Tagen aber etwas schlechter, weil ich nachts daran denken muss, tagsüber nicht mehr alleine zu sein, sondern wieder unter Menschen, wenn auch mit (hoffentlich) Abstand und Mundschutz. Ich hatte gestern kurz überlegt, nach dem Fototermin noch in die Pinakothek der Moderne zu radeln, um Herrn Protzen mal wieder anzugucken, aber irgendwie wollte ich nur schnell wieder in die unansteckende Wohnung.

Flat White, Müsli mit Erdbeeren und Weintrauben, abends gnadenlos eine Riesenzwiebel zu Ringen frittiert. Eine halbe Augustiner-Flasche landete im Bierteig, die andere in mir. Home-Biergarten sozusagen.

Seinen Geburtstag vor einem Jahr verbrachte Papa im Krankenhaus. Ich konnte ihm gestern nur telefonisch gratulieren, weil ich gerade Angst vor Zugfahrten habe und natürlich meine Eltern nicht gefährden möchte, wenn ich aus diesem Seuchennest hier im Süden angereist komme. Darüber war ich sehr traurig. Eigentlich sollte gestern auch mein Mütterchen hier in München ankommen, damit wir morgen in Oberammergau die Passionspiele anschauen könnten, aber ach. Ich bin seit Wochen nicht mehr im Norden gewesen, um sie zu entlasten, und das hat mich auch traurig gemacht. Papa fragte, warum ich nicht persönlich gratuliere, woraufhin ich meinte, ich sei doch in München. Was ich da denn mache, wollte er wissen, und: Das ist ja nicht so weit, da kannst du doch kurz rumkommen. Dass F. in München wohnt, weiß er, und er weiß auch, dass wir zusammen in Augsburg Fußball gucken, aber dass auch ich in München wohne und wie weit es weg ist, kann sein Gehirn sich nicht mehr merken.