Tagebuch Donnerstag, 2. April 2020 – Passivtag

Na fast. Morgens eine halbe Stunde länger im Bett rumgelungert, dann aufgestanden, ein bisschen Saft getrunken, gebloggt, im Internet rumgelesen und dann mutig straßenfein gemacht, den Mundschutz aus dem Baumarkt aufgesetzt und zu Fuß zum nächsten Rossmann gegangen. A) Bewegung, B) ich brauchte WIRKLICH Klopapier.

Der erste junge Mann – nennen wir ihn doch „Arschloch“ –, der mir auf dem Gehweg begegnete, hustete dann auch ernsthaft bewusst mit offenem Mund in meine Richtung. Ich zückte den Mittelfinger, den ich sonst immer gerne Autofahrenden hinterhergestreckt hatte, die mir auf dem Fahrrad die Vorfahrt genommen hatten, aber mehr konnte ich nicht machen. Außer mich den ganzen Tag innerlich darüber aufzuregen und jetzt darüber zu bloggen und mich nochmal aufzuregen, DU ARSCHLOCH! Danke, dass das alles wegen Pennern wie dir noch länger dauert als es eh schon dauern wird. (Lange. Link via alle gestern auf Twitter.)

Ansonsten sah ich noch ein paar wenige weitere Masken und ebenso einige wenige Tücher oder Schals, die Leute vor Mund und Nase gebunden hatten auf meinem Weg. Beim Rossmann war alles sehr leer, es gab Klopapier und ich ging wieder halbwegs entspannt nach Hause.

Den Rest des Tages verbrachte ich damit, den Alles-gesagt-Podcast der ZEIT zu hören, genauer gesagt, irrwitzige fünfeinhalb Stunden, in denen ich mir von Igor Levit was erzählen ließ. Zwischendrin kochte ich Late Lunch (Kartoffelpüree, Röstzwiebeln, ein paar Rostbratwürstchen) und Tee (muss heute Grünpack nachkaufen OMG), daddelte während der Aufnahme ein bisschen Candy Crush, weil man da diese Woche ohne Zeitbegrenzung daddeln kann, lag aber ansonsten nur auf dem Sofa rum und hörte zu. Das war sehr schön.

Ich fand die Stellen besonders interessant, wo man ein bisschen hinter die Kulissen gucken konnte. Also: Ist der Mann nervös, bevor er auf die Bühne geht? Liest er Kritiken? Was passiert, wenn er die Noten vergisst? Und generell: Was bedeutet Musik für ihn? Ich muss mich gerade sehr zusammenreißen, um nicht komplett zum Lauschgroupie zu werden.

Und dann schickte der andere Schnuffi auch noch seinen Newsletter rum, was mich eigentlich auch immer freut. Da hat Herr Radnor allerdings schon bessere abgeliefert. Ich schieb’s auf die Pandemie, dass da gestern eher Allgemeinplätze und eben keine persönlichen Einsichten wie bei Levit rumkamen.

F. postete ein paar Fotos von sich auf Instagram und ich behaupte ja, dass er das nur macht, damit ich mich nicht so alleine fühle. Per DM habe ich noch einen Nachschlag bekommen. Das war auch schön. Noch schöner wäre es, ihn mal wieder anfassen zu können, ich war gestern doch ein bisschen mürbe von den fehlenden körperlichen Zuneigungsbezeugungen. Vielleicht wollt ihr bei der Frage von @ruhepuls anlegen, ihr Menschen, die auch nicht mit euren Partner*innen zusammenlebt? Wie macht ihr das?

Zum Thema „Witze, die man vor zwei Wochen noch nicht kapiert hätte.“

Von den Symphonic Minutes von Ernst von Dohnányi hatte Gabriel das Rondo in unsere Klassikliste geworfen, und gestern hörte ich zum ersten Mal das ganze kleine viertelstündige Werk. Gefällt sehr.

Abends, als Podcast und Klassik verklungen war, wurde ich dann doch wieder ängstlich und verzagt, wo ich das über fünfeinhalb Stunden gut hatte ignorieren können. Das oben verlinkte YouTube-Video macht deutlich, dass wir uns noch auf Monate dieses Ausnahmezustands einstellen müssen. So irgendwie war mir das auch klar, aber ich hatte noch nie bewusst darüber nachgedacht, sondern mich lieber mit vagen Hoffnungen über Wasser gehalten, klar, Mama, im Juni kommen wir zu deinem Geburtstag, logisch geb ich im Oktober meine Diss ab.

Gestern abend wagte es mein Kopf aber mal, pessimistischer zu denken. Ich hatte in diesem Jahr drei mögliche Abgabetermine für die Dissertation. Der März war von vornherein nicht zu schaffen, also peilte ich den Oktober an. In den letzten Wochen vor den Ausgangsbeschränkungen kam ich aber sehr gut voran, vor allem mit den zentralen Kapiteln meiner Diss, so dass ich gaaaanz vorsichtig an den Juni dachte, für den ich eventuell auch schon fertig sein könnte. Das schlug ich mir in den vergangenen Wochen brav aus dem Kopf und konzentrierte mich dann einfach auf Oktober. Oktober ist nicht so nah dran am Jetzt und nicht so weit weg vom Später, das geht, bis dahin wird ja wohl irgendwas wieder geöffnet sein, wo ich lesen und arbeiten kann. Aber gestern gestand ich meinem Kopf zu, von schlimmeren Verläufen der Pandemie auszugehen und von zu vielen Arschlöchern, die lustig in der Gegend rumhusten. Das machte mich sehr mutlos und traurig.

Ich habe durch die Jobflaute der letzten Monate (weswegen ich mich auch nicht glaubhaft um staatliche Unterstützung bemühen kann) eh sehr wenig anderes zu tun gehabt als die Diss. Und die bröselt auch so langsam vor mir weg, selbst wenn ich mich noch ein paar Wochen an Korrekturen aufhalten kann. Aber was mache ich dann? Was passiert, wenn das Semester einfach so rum ist, was mein letztes wäre? Wie verlängere ich das, wo ich nirgends hin kann? Wie lange schaffe ich es, sinnlos Serien zu bingen, ohne irre zu werden, weil ich schlicht nichts habe, was mein Kopf sonst machen könnte? (Kommt mir jetzt nicht mit Sprachen lernen.) Wo kriege ich auf einmal virtuell Jobs her, für die es schon nicht virtuell schwierig genug für mich wird, an sie ranzukommen, wenn sie irgendwann mal wieder da sind?