Tagebuch Sonntag, 19. Januar 2020 – Erster Schnee

Gestern war Netflix- und Lesetag. Ich beendete die zweite Staffel von Sex Education und finde die Serie, bis auf wenige Ausrutscher, immer noch großartig.

In einer Folgenpause bemerkte ich, dass sich die Welt da draußen gerade etwas veränderte, und den Gesetzen von Social Media gehorchend, fotografierte ich den ersten anständigen Schnee des Jahres, also den, der für mindestens eine kurze Zeit liegenbleibt, und postete das Bild.

Nachmittags döste ich beim Bayernspiel weg, weil es mir sehr egal war, dann las ich Dojczland von Andrzej Stasiuk zuende. Das ist kurz und schmerzhaft, das Ding. Er beschreibt seine Eindrücke des wiedervereinigten Deutschlands auf seinen diversen Lesereisen. Man kann die Hälfte vom Buch unterstreichen oder abtippen, aber ich nehme mal diesen Ausschnitt, wo der Außenblick für mich besonders spannend war.

„Auf dem Hauptbahnhof [Berlin] war ich gelandet, weil ich aus Greifswald nahe der Ostsee zurückgekommen war. Vertreter der Alternativen in Berlin hatten behauptet, das sei die Höhle der neonazistischen Löwen. Aber mir ist dort nichts passiert. Ich wohnte im Hotel Galerie und machte Spaziergänge. Hier ist Caspar David Friedrich geboren. Sein Vater war Seifenmacher, deswegen lief die Karriere des Jungen, wie man heute sagen würde, wie geschmiert. Ich hatte vorher keine Ahnung davon gehabt. Ich kenne mich in der Malerei, schon gar der deutschen, nicht aus, aber Friedrich hat mir immer gefallen. Das war so germanisch und romantisch: Wolken, Stürme, Ruinen, das dämonische Licht des Nordens und der unsichtbare Schatten der Walhalla. Ich mochte seine Gemälde, weil sie düster waren wie das Grab. Wenn man jung ist, imponiert einem so was. Und jetzt war ich hier in seiner Stadt. Ich weiß, ich hätte in die Galerie gehen sollen, um wenigstens eine annähernde Vorstellung zu bekommen, statt mich immer nur an die fünf Reproduktionen in irgendeinem Album zu halten. Ich weiß. Dennoch fuhr ich mit dem Zug nach Zinnowitz, weil ich auf die Insel Usedom wollte. Ich stellte mir vor, dort wäre Wind, aufgewühltes Meer und Dünen, mit einem Wort, Caspar David Friedrich. Aber in Zinnowitz war kein Wind. Das Meer lag glatt wie ein Tischtuch. Ein paar Personen spazierten über den Strand. Kein Caspar David, nur DDR-Kurort in der Nachsaison. Man konnte Fisch mit Fritten essen und sich eine Ansichtskarte kaufen. Ich mochte die DDR. In der DDR paßte mir außer den Skinheads alles. Abgesehen von den Skins habe ich mich in der DDR immer wohl gefühlt. Wenn ich irgendwann an Ferien in Deutschland dachte, einfach mal so nach Deutschland zu fahren, so wie man zum Vergnügen in ein fremdes Land fährt, dann kam mir Mecklenburg in den Sinn. Und Friesland. Aber das Mecklenburg der DDR an erster Stelle. Denn die DDR ist das fehlende Bindeglied zwischen Germanen und Slawen. Die DDR ist dieser verlorene Stamm – germanisch oder slawisch – niemand wird das je entscheiden. Die DDR ist der Moment, wo die Deutschen ein bißchen von ihrem Sockel runterkommen. […]

Denn eigentlich hätte die DDR die Brücke zwischen Ost und West bleiben sollen. Zwischen Rom und Byzanz. Dort habe ich wirklich Freunde gefunden. Später kamen sie uns sogar besuchen und waren keineswegs verklemmt. Wenn Leute aus dem richtigen Westen zu uns kommen, dann kontrollieren sie die ganze Zeit unauffällig, ob sie sich an irgendwas schmutzig gemacht haben. Die aus der DDR nicht. Sie benehmen sich so ein bißchen wie gehemmte Slawen. Man sieht, daß sie gern aus sich herausgehen würden, aber irgendwas hält sie zurück. Sie sind innerlich zerrissen. Wirklich tief zerrissen. Wie die Rumänen zwischen Paris und Konstantinopel. Wie die Polen, auch zwischen Paris, und leider wohl Moskau. Mindestens aber zwischen Berlin und Kiew. Aber die Zerrissenheit der DDR reicht bestimmt tiefer. Ich selbst bin zerrissen, deshalb mag ich die DDR und all ihre Namen: Gützkow, Gribow, Postlow, Pelsin und so weiter. Das Slawische, der Kommunismus, ein bißchen schlechteres Essen und billigere Kosmetika, das sind dann doch Elemente, die das Menschsein befördern.“

Andrzej Stasiuk: Dojczland, Frankfurt am Main 2016 (1. Auflage 2008), Übersetzung von Olaf Kühl, S. 47–49.