Tagebuch Freitag, 17. Januar 2020 – „Die Toten“

Ich wartete weiterhin auf elf Einheiten im Staatsarchiv, aber dieses Mal war ich clever und rief im Lesesaal an, anstatt blind vertrauend hinzufahren. Nölig musste ich hören, dass nichts für mich im Fach lag, weswegen ich meine eigentlich geplante Abendbeschäftigung vorzog und erstmal ewig die Serien vom Donnerstag wegguckte, die nachts in diesem Interweb aufgelaufen waren. (The Good Place! Ich vermisse dich kurz vor Schluss schon sehr schlimm.)

Bis Ende Januar habe ich noch Netflix, also bingte ich Grace and Frankie und freute mich darüber, dass es anscheinend noch eine weitere Staffel geben wird, für die ich dann wieder elf Euro im Monat ausgeben werde. Außerdem nahm ich noch die erste Folge der zweiten Staffel von Sex Education mit, einer der wenigen Serien, bei denen ich sehr oft lauthals lachend vor dem Laptop sitze. Hier hat es nicht mal drei Minuten bis zum ersten Lachanfall gedauert, was mich auf eine gute Staffel hoffen lässt.

Dann setzte ich mich doch brav an den Schreibtisch, hatte aber keine großen Erleuchtungen, sondern las nur Korrektur und aktualisierte meine lange To-Do- und die inzwischen ähnlich lange Done-Liste, in denen ich unter anderem vermerke, welche Archivbestände ich wo schon eingesehen habe.

Spiegelei, saure Gurken aus dem Glas, Sesambrot, Ritter Sport Vollmilch, zwei Liter Tee.

Den Rest des Tages verbrachte ich damit, Christian Krachts Die Toten in einem Rutsch durchzulesen und saß danach, wie immer bei Kracht, erstmal ein paar Stunden lang stumm rum.

„Und Nägeli, der einerseits Hugenbergs zweihunderttausend magische Dollar vor sich leuchten sieht (die leider an die Auflage gekoppelt sind, er müsse Heinz Rühmann besetzen) und andererseits die gigantische Ironie dieser Idee ganz und gar wunderbar findet, lacht, pustet Rauch deckenwärts, und es ist die ersehnte Befreiung. Er habe die ganze Zeit gedacht, der blonde Süßholzraspler komme ihm nicht vor die Kamera, und ja, das sei genau die Idee, die er seit Monaten suche; er werde einen Gruselfilm drehen, man müsse es der UFA nur auf irgendeine Weise schmackhaft machen, er werde Rühmann einfach nicht mehr erwähnen, ja, er werde nach Japan fahren und dort drehen, er sei ja, so habe er Hugenberg vorhin verstanden, dazu eingeladen, alles werde bezahlt. Und es sei doch ganz evident: der Untote im Film müsse ein gutaussehender, schlanker Asiate sein, also exakt das Gegenteil vom Heinz Rühmann.

Ja, man müsse lediglich groß denken, alles andere komme von ganz alleine, gluckst Lotte Eisner, eine weitere Flasche Champagner öffnend, und Kracauer, der zum Eierpochieren hinüber in die Küche gewandert ist, ruft herüber, Mensch, ja, es könne doch auch eine Frau die Untote geben, eine Asiatin, Anna May Wong zum Beispiel, dann sei man Rühmann endgültig los. Die Eier sind ihm mißglückt, so schlägt er ein weiteres halbes Dutzend einfach in die Bratpfanne und trägt binnen kürzester Zeit munter die Internationale pfeifend die Omelette in den Salon hinein. […]

Lotte und Siegfried steigen am späten Nachmittag am Lehrter Bahnhof in den Nachtzug nach Paris, zwei oder drei Koffer kommen mit, darin die beiden aufgerollen, kleinen Kandinskys, ein paar Bücher, das leinene lange Nachthemd von Kracauers Großmutter, getrocknete Blumen, Zigaretten, Zahnbürsten. Ein mit Gummiband umwickeltes Dollarbündel steckt in Lottes Strumpfhose.

Im sich verdunkelnden Speisewagen nehmen sie Abschied von ihrem Deutschland und trinken Süßmost und sprechen nicht über die gerade zerfetzende Erinnerung. […] Am Tisch gegenüber, jenseits des Ganges, sitzt nun plötzlich: Fritz Lang, der mit einer Kopie von Das Testament des Dr. Mabuse im Gepäck ebenfalls ins Pariser Exil unterwegs ist, als habe sich das ein müder Halbgott genauso ausgedacht – da sitzt also Lang gelbbeschalt im selben Zug, im selben Speisewagen sogar, und alles scheint wie ein Neuanfang ob dieser Fügung. Man setzt sich sogleich zueinander, steckt die Köpfe zusammen, raucht, ruft nach zwei Flaschen Rotwein, nach Salzgebäck, Gürkchen, Silberzwiebeln, wenn sie welche da hätten. […]

Lotte und Siegfried rutschen während dieser trunkenen Flammenrede auf den Stühlen hin und her, es ist fast nicht auszuhalten. Sie ahnen nichts davon, daß Lang noch ein ganzes folgendes Jahr hin- und herkutschieren wird zwischen Paris und Berlin, ein vorsichtiges Austarieren, ob da nicht vielleicht doch noch etwas zu machen sei mit der UFA.

Also lächeln sie Lang tapfer und mitfühlend an, es gibt ja weiß Gott Schlimmeres als diese vorübergehende, der übereilten Flucht geschuldete geistige Zerrüttung. Der Speisewagenkellner hat sich irgendwo versteckt, es gibt keinen Wein mehr, und nach einer Weile weiteren Geplänkels, in der sicher nicht über Opportunismus gesprochen wird, erreichen sie ruckelnd die ersten trüb erhellten Vororte von Paris, drei Deutsche ohne Deutschland.“

(Christian Kracht: Die Toten, Frankfurt am Main 2018, S. 121, 134/135 und 139.)