Tagebuch Donnerstag, 4. April 2019 – Dostojewski, Auma und Fosse

Vormittags Telefonkonferenz mit der neuen Kundin gehabt, die eine Beraterin und mich durch die Firmenpräsentation führte. Bei sowas finde ich diese moderne Technik (TM) immer wieder toll. Die beiden sitzen in Hamburg, ich in München, jeder wählt sich telefonisch (oder per Rechner) in einen Raum ein, wir können miteinander reden, und gleichzeitig sehen wir auf unseren Bildschirmen nach einem Log-in alle die gleichen Präsenfolien.

Kurz mit Kai gemailt, weil seit ein paar Tagen mein Mailserver Schluckauf hat; alles wieder in Ordnung.

Mein Kopf war dann leider nicht mehr im Dissertationsmodus, sondern im Neuer-Job-Modus, obwohl wir eigentlich erst Montag offiziell starten; ich wartete auch noch auf ein paar weitere Infos. Aber das kann man meinem Kopf nie klar machen, der fängt halt zu denken an, der kleine Racker.

Ich ließ ihn also rackern und denken, notierte ein paar Ideen, und gönnte mir dann Lesezeit auf dem Sofa, weil ich partout nicht in die Diss reinkam.

Davor ging ich noch schnell einkaufen, woran ein bisschen F.s Mütterchen Schuld ist, die uns, ich schrieb darüber, Leberkassemmeln für die Autofahrt nach Augschburg am Dienstag zubereitet hatte. An denen lernte ich, dass es Leberkäse nicht nur in fingerdicken Scheiben gibt, sondern auch als Aufschnitt. Das war bisher völlig an mir vorbeigegangen, aber seit Dienstag wollte ich das wieder essen. Also mal wieder Aufschnitt gegönnt und zuhause sehr zufrieden verspeist. Das ganze auf frischem Brot, das ich beim Höflinger am Nordbad kaufte, und ich hoffe, die Dame hinter der Theke verdient richtig gutes Geld, denn sie war gefühlt 80, singsangte in einer Tour freundlich zu den Kundinnen, die Namen der bestellten Gebäcke, das gegebene Geld, das zu erwartende Rückgeld, „einen schönen Tag wünsche ich Ihnen noch“, singsang, singsang. Ich musste an „So zärtlich war Suleyken“ denken und hatte danach stundenlang gute Laune.

F. und ich sprachen abends über Freundlichkeit von Fremden und dass ja gerne über die falsche gute Laune in amerikanischen Einkaufsmöglichkeiten gelästert wird. Wir waren uns einig, dass wir eindeutig lieber sinnloses, aber nett geflötetes „Hey, was darf’s bei dir sein?“ beantworten als ein gebelltes „JA WAS DENN?!?“

Da wir beide gerade ein bisschen von Allergien geplagt werden, schliefen wir getrennt – es hat doch Vorteile – und ich las im Bett noch ein bisschen Dostojewski. Also Der Idiot, nicht die Gesamtausgabe, die vor ein paar Tagen im Hausflohmarkt stand. Inzwischen weiß ich übrigens, dass sie von meiner Nachbarin kam, die mir auch schon beim Umzug geholfen hat und mit der ich vorgestern einen kleinen Feierabendespresso getrunken habe, zu dem sie mir gleich noch ein Buch von Herlinde Koelbl mitbrachte, nachdem sie im Blog gelesen hatte, dass ihre Geschenke fast alle bei mir gelandet waren. (Die Bölls hatte ich liegengelassen, die habe ich alle selber.)

Der Idiot ist neu von Swetlana Geier übersetzt worden und er liest sich wirklich herrlich. Ich bin jetzt auf Seite 112 und eigentlich ist noch nicht viel passiert: Drei Männer treffen sich in einem Zug, fahren gemeinsam nach St. Petersburg, wo einer von ihnen eine Verwandte aufsucht. Wir hören viele biografische Details aus der Vergangenheit, und im Moment sitzt der Herr mit seiner Tante und ihren drei Töchtern am Esstisch und erzählt aus der Schweiz. Mehr war noch nicht, aber ich bin schon sehr verliebt in dieses Buch, von dem ich noch überhaupt nicht weiß, wo es hinwill. Nein, ich habe den Wikipedia-Eintrag nicht gelesen, ich weiß wirklich noch nicht, was in diesem 150 Jahre alten Buch passiert.

In den letzten Tagen las ich abends Kendis Stamped from the Beginning, aber das kann man nur in 20-Seiten-Schritten lesen, bevor man der ganzen Welt eine reinhauen will für ihre Blödheit.

In diesem Zusammenhang vielleicht ein Hinweis auf dieses PDF von Maureen Maisha Auma: Rassismus. Eine Definition für die Alltagspraxis (2018). Ich wurde durch einen Thread von Sharon Dodua Otoo darauf aufmerksam gemacht.

The Rise of Coffee-Connoisseur Culture

Ein 8-Minuten-Video und ein kurzer Artikel vom New Yorker.

There’s Gotta Be Something Better Than This

Lange Leseempfehlung über Bob Fosse und die Macht in zwischenmenschlichen und beruflichen Beziehungen: „moral immunity has been rescinded for geniuses.“

„Fosse, in earlier years, had shown a rare empathy with women; this affinity, in fact, gave rise to his gifts as choreographer and director. He could relate to his dancers and actresses; he could also render their experiences with care and attention.

Fosse’s first self-conceived Broadway show, Sweet Charity, had transposed Fellini’s Nights of Cabiria—about a woman who works as a prostitute in Rome, hopes for true love, but who is defrauded by the men in whom she trusts—to a Times Square dance hall. The protagonist is drawn with real identification, as well as real cynicism: It’s not her line of work, dancing with men by the song, that sources the pathos—Fosse, refreshingly, mostly avoided “fallen women” tropes—but the fact that she’s stuck in a dead-end gig she hates, with no prospects. She was partly inspired, as Fosse biographer Kevin Winkler notes, by the female dancers Fosse worked with, who made great physical and emotional sacrifices for their craft, only to see their opportunities steeply limited with age.

From his earliest years as a performer, women were Fosse’s mentors, closest collaborators, eminences grise, and fodder for his vision. As a capability and a resource, his empathy was double-edged: It made his work powerful and humane, and allowed him to direct star-making performances by talents such as Liza Minnelli; but, like Snider, he learned very early how to use it to his advantage. […]

As Fosse accrued more psychic weight, and more power, his girlfriends got younger and younger—from peers and mentors to girls in their early 20s, without established careers of their own. “I like to take these young girls and mold them,” he told American Film. “I guess it’s a Pygmalion complex.” Younger women were easier to take lightly, and to discard. Wasson relays an anecdote: sitting in a van scouting locations for Star 80, the film’s director of photography, Sven Nykvist, asked the director why he preferred girls so green. “Their stories are shorter,” he replied.“