Was schön war, Montag/Dienstag, 24./25.7.2017 – Lehrreiches Prokrastinieren, Schuhe kaufen, Eichhörnchen

Nach der Abgabe der Masterarbeit wurschtelte ich tagelang vor mich hin und dachte, ich hatte das blöde Loch, das mich immer am Semesterende erwischt, umgangen, aber das holte mich letzte Woche ein, wo ich sehr traurig und mutlos war, was die Zukunft angeht, diese blöde Kuh. Ich weiß inzwischen, dass mich Bibliotheken immer glücklich machen können, aber selbst dazu konnte ich mich nicht aufraffen. Nachdem mich Donnerstag letzter Woche nicht einmal F. mit kulinarischen Köstlichkeiten und Bier und Balkonblick und Puschelkram aufheitern konnte, zerrte ich mich Freitag morgen gewaltsam selbst ins ZI, im Hinterkopf den Gedanken, „notfalls guckste halt vier Stunden deinen Laptop an.“ Aber natürlich wurde alles gut.

Ich walke ja neuerdings – also seit Februar – mehrmals wöchentlich über den Alten Nordfriedhof. Inzwischen kann ich die Strecke vermutlich blind gehen, muss nicht mehr auf Baumwurzeln oder Wegverengungen achten, weswegen ich nun Zeit habe, mir die ganzen Grabsteine etwas genauer anzuschauen, an denen ich dauernd vorbeischnaufe. Stehenbleiben will ich zwar nicht, aber je öfter ich an bestimmten Steinen, Stelen und Figuren vorbeikomme, desto neugieriger machen sie mich. In eine Grabstele mit Bronzefigur und -platte habe ich mich besonders verguckt, einfach weil ich sie schön finde.

Eigentlich müsste ich mal so langsam mein Exposé für die Dissertation anfangen, damit mir jemand ein Stipendium gibt, aber mit Recherchen über Grabsteine und Begräbniskultur im 19. Jahrhundert kann man prima prokrastinieren. So saß ich Freitag im ZI und las die enttäuschend wenigen Bücher über den Alten Nordfriedhof durch, die bei uns stehen – ganze zwei, von denen eins auch ein Buch über alle Friedhöfe Münchens ist und der Nordfriedhof hat gerade zwei Seiten; das andere ist ein sehr unwissenschaftlicher Spaziergang und über 30 Jahre alt. Das war’s. Ich fand noch eine Magisterarbeit von 1989, aber die musste ich bestellen, die stand nicht im Regal.

Was ich aus dem ersten Buch immerhin erstaunt lernte: Der im Zweiten Weltkrieg stark zerstörte Friedhof wurde nach 1945 von Hans Döllgast restauriert. Döllgast kenne ich als den genialen Architekten, der die Alte Pinakothek so gut wieder hingekriegt hat, dass sie heute – trotz bzw. gerade wegen ihrer offensichtlichen Wunde – als Musterbeispiel für den sogenannten „interpretierenden Wiederaufbau“ gilt. Ich renne dauernd durch Döllgast-Architektur und weiß nichts davon! Aber jetzt, wo ich es weiß, habe ich drauf geachtet.

Am Montag war ich netterweise schon vor dem Wecker wach und marschierte los, besah mir im langsamen Vorbeigehen erstmals aufmerksam die Außenmauer, die Döllgast teilweise in der Höhe verringert hatte, achtete auf Übergänge zum Originalmaterial, merkte aber auch, dass seine Arbeiten aus den 1950er Jahren nicht die letzten gewesen sein konnten. Ich bin mir ziemlich sicher, dass spätestens in den 2000er Jahren – jedenfalls nach dem Abschluss der Magisterarbeit von 1989 und dem Buch über Döllgast von 1998, das ich hatte – noch was an Mauer und Bauwerken am Südeingang gemacht wurde, aber darüber fand ich keine Literatur, und so dringend will ich mich nicht vor der Arbeit drücken, dass ich mal im Bestattungsamt nach Umbauakten und -plänen frage.

Nach Dusche und Kaffee radelte ich ins ZI, wo ich ein sehr dickes und empfehlenswertes Buch über den Alten Südfriedhof las, weil mich einige Materialien interessierten. Außerdem war die Magisterarbeit da, die sich kunsthistorisch und nicht touristisch-stadtgeschichtlich mit dem Friedhof auseinandersetzte. (Gern gelesen, auch wenn mich das Präsens wahnsinnig gemacht hat.) Durch die erfuhr ich, warum es vermutlich so wenig Literatur gibt: „Darüberhinaus lässt sich bereits auf den ersten Blick erkennen, daß es sich bei dem vorliegenden Friedhof um keinen Bestattungsplatz des Geldadels handelt und dass München im 19. Jahrhundert immer noch eher provinziell geprägt ist. Die gewaltigen und kostspieligen Grabaufbauten, die man zur gleichen Zeit in Wien, Paris und Genua errichtet, fehlen hier gänzlich. Ebenso gibt es auf dem alten nördlichen Friedhof keine richtungsweisende Neuerung oder einzigartige Grabmalsgestaltung.“ (S. 34)

Ich fand in der Arbeit aber immerhin ein bisschen was zu meinem Grabstein. Weswegen ich so an ihm hängengeblieben bin, liegt nicht nur an der stimmungsvollen Figur, sondern auch an der Darstellung auf der Bronzeplatte über der Grabstele. Auf ihr sind zwei der drei Pyramiden von Gizeh abgebildet sowie die Sphinx. Das hat mich erstaunt, weil das Bild keinen München-Bezug hat und kein christliches (oder anderes religiöses) Symbol ist, und für ein sinnloses Schmuckelement ist es zu klar erkennbar. Die Autorin der Magisterarbeit, Annette Wagner, ordnet dieses Ensemble in die pyramidalen Gräber des Nordfriedhofs ein; es gibt noch wenige weitere, bei denen eine Pyramide die Grabstele bildet (liegen nicht auf meinem Weg, habe ich noch nicht gefunden), und hier ist die Pyramide eben abgebildet. Die Pyramide wurde nach der Antike erst wieder von Raffael als Ornament für eine Grabstelle eingesetzt und zwar für das Grab von Sigismondo Chigi, das sich in S. Maria del Popolo in Rom befindet. In der Neuzeit ist zum Beispiel das Grab der Herzogin Maria Christina in der Augustinerkirche in Wien in Pyramidalform gestaltet (ich habe es schon bewundern dürfen). Die Pyramide steht angeblich für die Unsterblichkeit der Seele. Das kann ich zwar nachvollziehen, auch wenn im 16. Jahrhundert bei Raffael und auch noch im 19. Jahrhundert die Kenntnisse über Pyramidalbestattungen eher vage bzw. nicht vorhanden waren, aber ich glaube trotzdem nicht, dass das Bild an der Grabstätte Lodter/Schneider Unsterblichkeit sagen soll. Meiner total unbegründeten Meinung nach hat das Bild etwas mit den verstorbenen Personen zu tun, denn es zeigt keine beliebige Pyramidalform, sondern ganz klar Gizeh.

Ägypten war seit Napoleons Feldzug in Europa bekannt und als Thema für wilde Raumdekorationen und Feste beliebt. Durch Thomas Cook gab es Mitte des 19. Jahrhunderts erstmals Pauschalreisen in dieses Land, und wohlhabende Bürger und Bürgerinnen – zu denen die hier Bestatteten vermutlich gehörten – konnten sich diese Reise durchaus leisten. Herr Lodter war ein Chemiker, und ich habe auch einen Aufsatz von ihm finden können, aber für einen Besuch im Stadt- oder Landesarchiv war ich zu faul; irgendwo hat auch Prokrastination ihre Grenze. Trotzdem würde ich gerne wissen, ob die hier bestatteten, verschwisterten Ehefrauen und/oder ihre Ehemänner mal in Ägypten waren und die Bronzeplatte eben das würdigt. Aber das werden mir wohl auch die Archive nicht sagen können.

Auf der Platte ist übrigens in der oberen linken Ecke der Name des Künstlers eingeritzt: „H. Waderé München 1890“. Das sagt zumindest die knapp 30 Jahre alte Magisterarbeit, ich kann die Schrift beim besten Willen nicht mehr erkennen. „Der Künstler schuf zahlreiche Bauplastiken an Münchner Repräsentationsbauten wie z.B. die Skulpturen an der Paulskirche (1892–1900), die Figuren „Lex“ und „Jus“ am Justizpalast (1899–1906), die Skulpturen am Rathaus (1899–1908) und am Prinzregententheater (1900/01), um nur eine kleine Auswahl zu nennen. Die Antike war Waderés bevorzugtes Vorbild und auf seinen zahlreichen Reisen waren Antikensammlungen sein bevorzugtes Ziel.“ (S. 115) Auch der Gießer von Platte (und vermutlich der Dame) ist bekannt; sein Name findet sich zu Füßen der Plastik: „Guss v. C. Leyrer“. In der Arbeit wird noch ein „München“ dahinter notiert, aber auch das kann ich nicht mehr lesen.

Abends traf ich mich mit F. in der Hypo-Kunsthalle, um Fotos von Peter Lindbergh anzuschauen. Im ersten Raum war ich noch sehr geflasht, denn dort warteten die Supermodels und die Bilder, wegen derer ich ewig in Linda Evangelista verknallt war. Danach kam aber ein Raum nach dem anderen, in dem weitere sehr schöne Menschen auf sehr schönen Bildern zu sehen waren. Klingt gut, war in der Masse aber recht schnell langweilig. Ich ahne, dass es Können braucht, um aus schönen Menschen noch schönere zu machen, aber ich ermüdete zügig von all dieser inszenierten Ästhetik. Der einzige Raum, in dem ich länger blieb, war der, in dem fast ausschließlich Bilder von Tänzer*innen zu sehen waren. Das waren – neben vielen Schauspieler*innen, die natürlich auch alle irre schön waren – die einzigen Körper, die danach aussahen, mehr zu können als dass Klamotten an ihnen gut aussehen.

Es war interessant, ein völlig anderes Publikum in der Kunsthalle zu sehen als das, was sonst durchläuft. Wo man sich üblicherweise mit vielen Menschen über 60 vor den Exponaten tummelt, musste man sich hier hauptsächlich durch viele junge, meist sehr dünne Mädchen kämpfen. (Kein Body-Shaming, nur eine Beobachtung.)

Gestern ließ ich mich per Bus und U-Bahn in die Innenstadt chauffieren, denn ich brauchte neue Walkingschuhe. Als ich mit dem planmäßigen Rumlaufen anfing, zog ich einfach die Sneakers an, mit denen ich eh die ganze Zeit rumlaufe. In wenigen Monaten habe ich es geschafft, die stoffartige Innenverkleidung der Schuhe komplett durchzulaufen, so dass meine rechte Hacke schon reines Plastik spürte (und mit einer blutigen Blase quittierte). Also kaufte ich Schuhe, mal nicht in diesem Interweb, sondern mit Beratung in einem Geschäft, zu dem man hinfahren muss. War aber okay, denn direkt danach kaufte ich nebenan meine Lieblingstrüffel und packte sie grinsend in die Tüte mit den Schuhen.

Den Nachmittag verbrachte ich dann wieder auf dem Alten Nordfriedhof, aber nicht, um rumzulaufen, sondern um Fotos von vielen, vielen Grabsteinen zu machen, über die ich mal bloggen will, und natürlich auch um ein paar Bilder für diesen Eintrag zu haben. Nebenbei ist mir sogar jemand von der Eichhörnchengang vor die Linse gehuscht, aber er war doch zu schnell für ein anständiges bzw. scharfes Bild.