La familia in Minga, Tag 2 – Wie man Leute zum Kunstgucken kriegt, die eigentlich gar nicht Kunstgucken wollen

(Tag 1)

Unser Spaziergang durch die erweiterte Maxvorstadt hatte uns am Samstag auch durchs Kunstareal und an den drei Pinakotheken vorbeigeführt. Eigentlich standen Kunstmuseen nicht auf dem Plan meiner Familie, aber anscheinend haben F. und ich die Bande doch neugierig genug machen können. Oder es lag am Eintrittspreis von nur einem Euro, der Sonntags für die Pinakotheken fällig ist. Meine Schwester und ihr Mann wollten in die Pinakothek der Moderne, Papa lieber in die Alte, weil er meinte, mit moderner Kunst nichts anfangen zu können. Wir trafen uns an der Tramhaltestelle, ich kam mit dem Rad und fragte: „Wie lange wollt ihr denn im Museum bleiben?“ „20 Minuten.“ Und das war vermutlich kein Scherz. Ich meinte: „Lasst uns mal ne Stunde ausmachen; wenn ihr euch langweilt, ruft an.“ Einverstanden.

Papa und ich gingen also in die Alte Pinakothek. In der war ich, ehrlich gesagt, schon etwas länger nicht mehr; einmal weil es nicht mehr die Kunst ist, mit der ich mit hauptsächlich beschäftige, und zum anderen, weil sie seit gefühlten Ewigkeiten saniert wird. Das heißt, vieles hängt nicht da, wo es hängen soll. Ich wusste also selbst nicht genau, was uns erwartet, aber ich zahlte unsere zwei Euro Eintritt und schloss unsere Sachen im Schließfach ein. (Eigentlich komme ich ja umsonst in die Pinakotheken und einige andere Museen, aber bei einem Euro Eintritt ist es mir zu peinlich, den Studiausweis zu zücken.) Wir gingen das herrliche Treppenhaus von Hans Döllgast nach oben, von dem zurzeit nur eine Treppenhälfte begeh- und sichtbar ist; das Ding ist aber trotzdem noch sehenswert.

Mein üblicher Rundgang beginnt eigentlich immer in Flandern mit Rogier van der Weyden, aber genau die Seite wird gerade renoviert. So standen wir stattdessen unvermittelt zwischen lauter anderen Niederländern – und dem Selbstporträt von Albrecht Dürer, das ich fast übersehen hätte, weil es hier sonst nicht hängt. Hier konnte ich Papa ein bisschen was über das Selbstverständnis von Künstlern in der Renaissance erzählen, die sich nicht mehr nur als Handwerker sahen, die Aufträge ausführten, sondern als Schöpfer. Die Ähnlichkeit zu Jesus ist bei Dürer absolut gewollt. Bei Rubens’ Großem Jüngsten Gericht konnte ich erzählen, dass die Pinakothek um dieses großformatige Bild herumgebaut wurde – ohne dieses Gemälde würde es das Gebäude nicht geben. Bei anderen Rubens-Bildern wies ich auf die Farbigkeit hin, die mir an Rubens so gut gefällt; ansonsten kann ich mit ihm nicht so viel anfangen. (Nein, nur weil er dicke Frauen malte, muss er mir nicht gefallen.) An einem vierteiligem Bild, von dem ich keine Ahnung habe, wie es hieß oder von wem es ist, erklärte ich den Bildaufbau in mehrteiligen Werken und bot eine Lesart an, die mir vor dem Bild einfiel. An Madame de Pompadour erläuterte ich die Menschendarstellung vor und nach der französischen Revolution, an Canaletto die Grand Tour, die eine Nachfrage für Stadt- und Landschaftsabbildungen schuf, die zur Erinnerung an die Reise dienten; an mehreren Landschaftsbildern zeigte ich die Vorliebe für gestaltete Natur mit antiken Ruinen, die darauf hinwiesen, dass der Mensch von „heute“ schon eine lange Geschichte hinter sich hat und sich ihrer erinnern soll. Bei Stillleben guckt mein Papa demnächst vermutlich immer nach Zitronen, weil ich so davon geschwärmt habe, dass ich die Darstellung mit der in Ringeln abgeschälten Schale so gern mag. An einem weiteren Stillleben, in dem blauweiße Porzellanschüsseln abgebildet waren, konnte ich mein Wissen zur Porzellanherstellung anbringen, das ich mir im Dresdner Zwinger angelesen hatte.

Ich selbst sah den Velázquez seit meiner Lektüre über ihn mit neuen, neugierigen Augen und erfreute mich wie immer an Raffael, auch wenn von ihm mein am wenigsten geliebtes Bild von den drei vorhandenen hängt. Und ich konnte über den ollen Leonardo lästern, der direkt nebenan hängt und den ich total doof finde.

Das war vermutlich eine eher konfuse Führung, weil ich mich weder an einer Chronologie noch an Orten oder Künstlern entlanghangelte, sondern einfach in den Sälen rumguckte und spontan entschied, was ich erzählen wollte. Eigentlich wollte ich Papa einfach nur auf Dinge aufmerksam machen, auf die man vielleicht sonst nicht achtet (das Hündchen bei Madame de Pompadour oder eben die Ruinen in den Landschaften) und ihm ein paar Hintergrundinfos geben, die nicht allzu wissenschaftlich sind, sondern eher die Bilder bzw. ihre Motive fassbar machen.

Nach einer Stunde verließen wir, wie verabredet, die Alte Pinakothek und setzten uns auf eine Bank im Schatten, von wo ich den Eingang zur Pinakothek der Moderne sehen konnte, wenn man sich etwas umdrehte, denn ich erwartete, dass Schwesterchen und Ehemann auch gleich kommen würden. Die kamen aber nicht, und so guckten wir uns bequem im Sitzen die modernen Skulpturen an, die auf der Wiese zwischen Alter und Neuer Pinakothek stehen. Papa meinte, er könne damit nichts anfangen, er wüsste nicht, was er sich darunter vorzustellen habe. Ich meinte, bei vielen Skulpturen müsse man sich gar nichts vorstellen; vielleicht hat sich der Künstler oder die Künstlerin nur gedacht, hey, ich habe hier ein schickes Material, Eisen, Bronze, was auch immer, ich gebe diesem schicken Material jetzt eine Form, die so in der Natur nicht vorkommt, fertig, Kunst. Ich meinte, man müsse Kunst nicht verstehen, man könne sich auch einfach mal so vor ein Werk stellen und gucken, was es mit einem macht. Und dann erzählte ich von Carl Andres 10 Steel Row in der Pinakothek der Moderne, das ich so mag, weil man sich nicht nur vor das Werk stellen könne, sondern sogar drüberlaufen. Das fand Papa unglaublich: Kunst, die man nicht nur anfassen, sondern auf die man drauftreten darf? Das wollte er sehen.

Und so rief ich Schwesterchen auf dem Handy an, ob sie nach jetzt anderthalb Stunden schon fertig wären – sie flüsterte: „Nee, wir gucken noch“ – und ging mit Papa für zwei weitere Euro in die Pinakothek der Moderne, wo wir auf Kunst rumliefen. Danach führte ich ihn natürlich in den Saal mit den frisch angekauften Werken von Anselm Kiefer und flüsterte ihm meine halbe Masterarbeit zu. Irgendwann standen dann auch Schwester und Gatte neben uns und ich flüsterte alles noch mal. Während die beiden schon in Richtung Café schlenderten, zeigte ich Papa noch den Saal 13 mit der Kunst, die zwischen 1933 und 1945 entstand und fasste den Inhalt meiner letzten drei Semester in fünf Minuten zusammen.

Beim Kaffee meinte Schwesterchens Mann, dass er es seltsam fände, dass die Pinakothek ausgerechnet am Sonntag, wo ja eh alle Zeit haben, den Eintritt so günstig macht – das wäre doch schlauer, den an diesem Tag normal zu lassen. F. hatte darauf einen Tag später eine schlaue Erwiderung: Der Widerstand, in ein Kunstmuseum zu gehen, ist geringer, wenn es finanziell nicht so weh tut. Und wenn eh alle Zeit haben, ist er noch geringer. Daran musste ich am Montag denken, als die Rotte das Deutsche Museum für vier Stunden erkundete, obwohl meine Schwester schon nach einer Stunde keine Lust mehr hatte. Aber dafür hatte man jetzt elf Euro bezahlt, die lief man dann eben ab. Die Pinakotheken konnten anscheinend eher überzeugen. Mich hat es jedenfalls sehr gefreut, dass alle länger Kunst geguckt haben als sie eigentlich wollten und das nicht, weil ich nicht aufgehört habe zu reden, sondern weil da halt so viel Zeug hängt und steht und liegt, das spannend ist.

Der Tagesabschluss überzeugte die Familie dann endgültig von München. Während sie nach dem Museum eine Stadtrundfahrt machten, stand ich in der Küche und bereitete Nudelsalat mit Pesto und Tomaten zu, schnitt Radieschen und Gurken in mundgerechte Stücke und rührte einen Bottich Obadza an. Ich wickelte Metallbesteck in Servietten und verpackte alles zusammen mit einem Berg Brezn und Papptellern in Tragetaschen (Porzellan war mir für fünf Leute zu schwer), die F. und ich gemeinsam in den Taxisgarten schleppten. Das Konzept „In den Biergarten darf man Essen mitbringen“ stieß auf ungeteilte Begeisterung. (Mein Essen netterweise auch.) Wir spielten Geber-Doppelkopf, bis wir selbst bei Handy-Taschenlampen nichts mehr sehen konnten und gingen satt, angeheitert und sehr zufrieden nach Hause.