„Und, Anke, wie war so dein neuntes Semester?“

*wimmer*

(Erstes, zweites, drittes, viertes, fünftes, sechstes, siebtes, achtes Semester.)

Gestern schrieb ich die allerletzte Klausur meines Studierendendaseins. Jetzt kommen noch die Hausarbeit zu Leo und die Masterarbeit – auf beide freue ich mich, denn das ist für mich keine Arbeit im Sinne von „muss ich machen“, sondern Arbeit im Sinne von „yay, viel Zeug lesen und dabei was lernen“. Aber was ich ab sofort nicht mehr haben werde, sind ein Dozent oder eine Dozentin, die vor mir stehen und mir etwas beibringen wollen. Ab jetzt ist alles Eigenverantwortung.

Dem Lernen für Klausuren werde ich nicht hinterhertrauern, das war in jedem Semester nervig, vor allem, weil ich inzwischen weiß, dass ich nach der Klausur alles wieder großflächig vergessen hatte, was ich mir wochenlang in den Kopf gekloppt hatte. Um kunsthistorisches Wissen bzw. Zusammenhänge abzufragen, eignen sich Essays natürlich viel besser als doofe Multiple-Choice-Fragen, aber ich kann auch die Lehrkräfte verstehen, die keine 200 Essays von Erstis lesen wollen. Trotzdem: Die Vorlesungen, die eben mit Klausuren abgeprüft wurden, sind jetzt für mich durch. Genau wie die Seminare, für die ich Hausarbeiten schreiben musste, oder die Ãœbungen, in denen ich Referate hielt. Jetzt wartet im allerletzten Semester noch ein sogenanntes Oberseminar auf mich, in dem alle Teilnehmenden ihr gerade zu bearbeitendes Thema vorstellen, also Bachelor- und Masterarbeiten sowie Dissertationen. Dafür muss ich noch ein Referat vorbereiten, das ich mir vermutlich aus dem Ärmel schütteln kann, weil ich in dem Thema seit drei Semestern drin bin, und das war’s. Den Rest des Semesters werde ich anderen Leuten zuhören, die mir ihre Projekte erzählen. Der Teil meines Studiums, der sich wie ein Studium anfühlt, ist jetzt vorbei.

Deswegen war ich gestern sehr traurig. Dafür hatte ich vorher keine Zeit, weil ich ja noch lernen musste, aber gestern hatte es mich erwischt. Ich wollte nach der Klausur eigentlich brav in die Bibliothek gehen, merkte aber schon, als ich die Hörsaaltür hinter mir schloss, dass ich total wimmerig drauf war und kroch daher lieber nach Hause und verdaddelte den ganzen Tag vor Netflix. Mit Chips und Eis und allem, was zum anständigen Trauern dazugehört. (Der von @Ellebil gestrickte Pussyhat, der gestern in meinem Briefkasten landete, konnte mich aber zeitweilig sehr aufheitern.)

Mir wird es fehlen, dass da vorne jemand die Themen setzt. Ich wäre jedenfalls nicht von alleine darauf gekommen, mich zum Beispiel mit dem Thema Heimat zu befassen, was ich im fünften Semester tat. Ich bin dann allerdings darauf gekommen, mich dem Thema über Instagram zu nähern, um ein bisschen am Hauptfach dranzubleiben. Ich habe dadurch gelernt, dass auch so ein flüchtiges Medium wie Instagram eine historische Quelle sein kann. Ich habe überhaupt generell gelernt, dass man viele Themen durch eine kunsthistorische Brille betrachten kann, was meinen Alltag neuerdings spannender werden lässt (Pokéstops, Futterfotos, Werbung, Filmarchitektur und so weiter und so fort).

Ich wäre auch von alleine nicht auf Menschenrechte als Seminarthema gekommen; aus dem Seminar nahm ich vor allem die ganz junge Geschichte der Nachkriegszeit mit, und ich durfte mich kurz als echte Seniorstudentin fühlen, weil ich Teile der im Seminar angesprochenen Geschichte miterlebt hatte (die 1980er). Ich wäre auch nicht auf bestimmte Skulpturen gekommen, die mir diese Medienart überhaupt erst eröffnet haben, bestimmte Bauwerke oder Stilrichtungen; ich wäre vermutlich nicht mal auf Kiefer gekommen, weil der für mich so durchgeforscht klang, bis ich gemerkt habe, dass es sogar bei solchen Mainstreamkünstlern noch Ecken gibt, in die noch keiner reingeguckt hat – oder nicht in der Detailtiefe, die ich anbringen konnte. Ich wäre auf so ziemlich gar nichts gekommen, wenn da nicht jemand vorne gestanden hätte, der oder die uns Themen anriss und uns dann von der Leine ließ. Das werde ich sehr vermissen. Aber, wie gesagt, ich habe gelernt, mir meine Themen jetzt selbst zu setzen. Das ist für mich ein sehr großer Lernerfolg.

Ich habe gelernt, dass es zwei Themen gibt, die ich gleich gerne bearbeite, und ich habe mich für die Masterarbeit für die Kunst der NS-Zeit und die Kunst der jungen Bundesrepublik entschieden (eventuell mit einem kurzen Exkurs in die junge DDR). Diese Zeit ist für mich nicht nur kunsthistorisch, sondern auch historisch die spannendste, mit der ich mich im Studium befassen durfte, und für die NS-Zeit hatte ich mich vorher auch schon sehr interessiert. Mein zweites Lieblingsthema wird weiterhin die Architektur bleiben, aber die kann ich jetzt entspannt genießen und mich ganz simpel und unwissenschaftlich an ihr erfreuen.

Ich habe (mal wieder) gelernt, dass die Entscheidung für das Studium die richtige war, auch wenn sich jetzt wieder, wie nach dem Bachelor, die Zeit nähert, in der ich hysterisch in eine Papiertüte atme und mich frage, was aus mir werden soll. Ich genieße die Zeit, die ich mit Büchern und Lernen verbringen darf, immer noch so sehr, und je mehr ich weiß, desto größer ist der Genuss, weil ich nicht dauernd bei Null anfange, sondern auf mein gesammeltes Wissen zurückgreifen kann.

Ich habe schon immer gerne gelesen, aber in den letzten Jahren habe ich vermehrt Bücher verschlungen, die mich weniger unterhalten haben wie Romane, sondern stattdessen mein Weltbild auf so vielen Ebenen erweitert haben. Ich durfte so viele neue Ideen, Ansätze, Theorien kennenlernen, die mich nicht nur zu einer Kunsthistorikerin gemacht haben, sondern zu einem reflektierteren Menschen. Das schrieb ich bereits im Rückblick aufs achte Semester, aber das wurde mir in diesem Semester wieder bewusst, als ich begann, mich wieder mehr für Politik und Soziologie zu interessieren.

Auch meine Sprache hat sich über die letzten viereinhalb Jahre verändert; ich glaube, dass ich fokussierter schreibe und auch im Blog eine etwas gewähltere Wortwahl habe. Diese Veränderung hatte ich schon mal: Als ich mit Ende 20 aufhörte, in einer Kneipe zu arbeiten, die bis morgens um 5 Uhr geöffnet hatte und in der man sich notgedrungen einen etwas raueren Umgangston angewöhnt hatte, musste ich mein Hafenvokabular für die Werbung etwas zügeln. Das scheint nun wieder passiert zu sein, obwohl mir in Referaten immer noch ab und zu der flapsige Werbetonfall durchrutscht. Den möchte ich auch nicht ganz verlieren, das Sprechen auf Pointe habe ich nach 10.000 Stunden Sitcomgucken ganz gut drauf.

Ich habe gelernt, mein neues Leben in München nicht mehr als Ausnahmezustand zu sehen. Die Trennung von Hamburg und Kai hat länger gedauert als ich dachte; wo die letzten zwei Jahre im Studium wie im Flug vergingen, waren sie im Bezug auf mein Privatleben gefühlt ein ewiger Kaugummi. Seit einiger Zeit ist aber aus der schmerzhaften Trauer ein leises Bedauern geworden und aus dem verwirrten Knäuel, in dem ich mich lange befand, ein roter Faden, an dem ich mich entlanghangele. Ich sehe das Ende noch nicht, aber ich habe wieder das Gefühl, auf ein Ziel zuzulaufen: erstmal in Ruhe die Masterarbeit schreiben – und dann eine Dissertation. Das wäre ja eine totale Verschwendung, mein ganzes schönes Wissen einfach rumliegen zu lassen.