Tagebuch Samstag, 5. Dezember 2015 – Serien, Fußball, Vogelnest

Morgens entspannt bei F. ausgeschlafen, heimgeradelt, eingekauft. Danach die ältere Nachbarin im Fahrstuhl getroffen, die ich als einzige dauernd sehe; den Rest des Hauses kenne ich bis auf diese Dame und die Nachbarin, die mir die Vogelnest-DVD geliehen hat, überhaupt nicht. Und sie erzählt mir immer irgendwas, allerdings in wunderschönem Bairisch, von dem ich nur die Hälfte verstehe. Immerhin weiß ich jetzt – oder glaube zu wissen –, dass sie und ihr Mann schon seit 45 Jahren im Haus wohnen, früher noch „mitm Bua“, jetzt halt zu zweit, und sie sehr dankbar für den Fahrstuhl ist, der uns gemeinsam in den 5. Stock trug.

Everwood weitergeguckt (nur noch zehn Folgen von vier Staffeln übrig, hilfe!), danach Fußball. Nach langer Zeit mal wieder eine Bundesliga-Niederlage des FCB mitangesehen. Der Herr @fehlpass twitterte danach mein neues Lieblingsbild.

mimimi

Weiter fürs Referat gelesen. Nachdem ich jetzt weiß, von was das Stadion inspiriert ist, wieviel es gekostet hat, wie es gebaut wurde, dass die Dachhülle in Teilen das gleiche Material verwendet wie die Allianz-Arena und dass überhaupt alle das Ding echt supi finden, stöbere ich jetzt gerade in Texten rum, die sich mit Sport generell befassen, mit dem Massenphänomen, das er ist, mit den Menschen im Stadion und ihren Ansprüchen.

Die Frage, die ich seit ein paar Tagen mit mir rumschleppe: Warum wollen auf einmal Stadien ikonisch sein? Dass Banken, Versicherungen, große Firmen ihre Zentralen repräsentabel aussehen lassen wollen – klar. Dass kulturelle Institutionen wie Opernhäuser oder Museen schon von außen sagen wollen, dass sich Kunst in ihnen befindet – auch klar. Aber wieso Sportarenen? Meine Theorie, die ich noch durch Literatur unterfüttern muss: Sport ist in unser heutigen Zeit die größte Massenunterhaltung, das Event, das am meisten Zuschauer an sich binden will. Deswegen werden Bundesligastadien mit Gastronomie und Erlebniswelten ausgestattet, so dass sie über einen reinen Zweckbau hinausgehen. In VIP-Lounges werden Geschäfte gemacht oder gefeiert anstatt dem Spiel zuzuschauen, was dem Stadion eine neue Funktion verleiht. Das passt noch nicht auf alle Stadien, klar, siehe Darmstadt, aber selbst das angeblich so alternative St. Pauli hat im Millerntor sogannte Eventräume, die nichts mehr mit dem Klischee des schwitzigen, machohaften Arbeiterfußballs zu tun haben. Stadien sind inzwischen also mehr als reine Sportstätten und deswegen dürfen (oder wollen) sie auch anders aussehen.

Olympische Spiele sind wieder ein anderer Schnack. Sie finden, im Gegensatz zu Ligaspielen, nicht jede Woche, sondern nur alle vier Jahre statt, sind also in ihrer Anlage flüchtig. Dafür sind sie ein weltweites Event, das medial rund um die Uhr begleitet wird. Meiner Meinung nach soll das Stadion dieses globale, ephemere Ereignis aus eben dieser Flüchtigkeit herausholen und es durch große Architektur binden. Dass es im Vogelnest ein Wachsfigurenkabinett gibt, in dem man sich IOC-Präsidenten anschauen kann, diverse Schaukästen, in denen unter anderem die olympische Fackel oder die kleinen Fahrzeuge ausgestellt sind, mit denen beim Speerwerfen die Wurfgeräte wieder zu den Athlet*innen transportiert wurden sowie Vitrinen, in denen Gegenstände ausgestellt sind, die während der Eröffnungsfeier benutzt wurden, zeigt für mich den musealen Charakter, den zumindest das Nationalstadion in Peking dem Gebäude verleihen will.

Das Londoner Olympiastadion von 2012 ist inzwischen hauptsächlich ein Premier-League-Stadion geworden, weswegen es meine Argumentation nicht ruiniert, aber leider auch nicht unterfüttert.

Dass China sich ein ikonisches, langlebiges Stadion bauen wollte, sagte bereits die Anforderung des chinesischen olympischen Komittees: „The brief called for a landmark building that would be the main venue for track and eld events during the 2008 Beijing Olympics, with a subsequent working life of 100 years.“
(The Arup Journal 1 (2009), S. 8.)

„‚Some cities staged very successful Olympics, but their image suffered after the Games because they failed to use the sporting venues effectively,‘ Jiang Xiaoyu, former Executive Vice President of the Beijing Organizing Committee for the Games of the XXIX Olympiad, recently wrote in the Beijing based China Daily newspaper. In the same article, Jiang wrote that the number of visitors to the Bird’s Nest and the Water Cube exceeded even that to the Palace Museum for some time after the Games.“

(Li Li: „Space to Let“, in: Beijing Review, 27.8.2009, S. 16–18, hier S. 17.)

Dass ein Fußball- und ein Schwimmstadion (zeitweilig) mehr Tourist*innen anziehen als das bisherige Wahrzeichen, die Verbotene Stadt, zeigt für mich, dass die Anforderung – build us a landmark – zumindest bis jetzt ganz gut erfüllt wurde.

*weiterdenkend*