Let it go

Was mir meine Gesangslehrerin seit langem versucht abzugewöhnen, ist mimisches Quengeln. Ich neige dazu, nach jedem Lied den Mund zu verziehen, denn besser geht’s immer und Frau Gröner, die Streberin aller Streberinnen, will es gefälligst perfekt hinkriegen. Neben „Mund verziehen“ kann ich noch „nölig ausatmen“, „verächtliche Handbewegung machen“ oder alles zusammen. Martina meinte irgendwann nach jedem Stück: „Nein, du machst jetzt nichts. Du stehst da jetzt gefälligst einfach mal rum, atmest normal und machst gar nichts. Wenigstens für ein paar Sekunden. Das war nämlich gut, auch wenn du das nicht glaubst.“ Nicht sie ist es, die mich dafür anpault, wenn ein Ton nicht klang wie einer von der Callas, sondern ich. Ich und mein völlig überzogener Anspruch an meine Leistung, die nicht mal eine sein muss, denn ich bin zum Spaß hier und nicht, weil ich damit Geld verdienen muss. Nach dem Kommando „Hab Spaß“ kann ich übrigens auch prima den Mund verziehen, nölig ausatmen und verächtliche Handbewegungen machen.

Das mache ich seit ein paar Monaten nicht mehr – oder wenigstens deutlich weniger. Was ich stattdessen mache, ist loszulassen (ich schrieb schon mal darüber) und mir und meinem Körper zu vertrauen. Der weiß nämlich, wie das geht mit dem Singen, und wenn ich ihn lasse, dann klingt es ziemlich okay. Oder gut. Oder toll, weiß ich nicht, ich bin eventuell mit verächtlichen Handbewegungen beschäftigt. Aber es wird wirklich weniger. Inzwischen kann ich mich breit grinsend freuen, wenn ich Oper gesungen habe. Denn gerade die wirft mich in ein Dutzend Gefühle auf einmal, und ich glaube, mein innerer Mechanismus, der alles schlecht machen will, kommt einfach nicht mehr hinterher damit, wie er sich jetzt gefälligst zu fühlen habe. Zuerst habe ich Angst, denn es ist schließlich PucciniMozartBizet. Dann kommen die ersten Töne, da taste ich meistens noch etwas rum, bin noch nicht richtig da, werde quengelig, es ist schließlich PucciniMozartBizet, dann geht’s das erste Mal richtig nach oben, das wackelt gerne etwas und ich werde vor Ehrfurcht atemlos, ES IST SCHLIESSLICH PUCCINIMOZARTBIZET, aber interessanterweise stürzen keine Wände ein, wenn ich einen hohen Ton singe, keine Nachbarn klingeln, meine Lehrerin bekommt keinen Herzinfarkt und es sterben keine Katzenbabys. Ich kann hier stehen und singen, und alles, was passiert, ist, dass ich hier stehe und singe. Aber das musste ich erst hundertmal machen, bevor ich es geglaubt habe.

Was passiert, wenn ich mich machen lasse? Ich halte die Töne nicht fest, so dass sie am Ende irgendwie gequetscht klingen, sondern lasse sie frei. Ich musste mich daran gewöhnen, sehr laut zu sein, und ich muss mich immer noch daran gewöhnen, die Kontrolle abzugeben. Es fällt mir überhaupt nicht schwer, da oben im zweigestrichenen Bereich rumzuturnen, aber ich will das alles festhalten, was ich da mache, ich will es nicht hergeben, ich will es kontrollieren, denn vielleicht sterben doch Katzenbabys, wenn ich es nicht tue. Wahrscheinlich muss ich es erst tausendmal machen, bevor ich es WIRKLICH glaube. Ich arbeite daran.

Musicals sind wieder was anderes. Die klingen nicht nach Kopfstimme, wie ich sie in der Oper einsetze – die klingen nach viel Kraft. Hier kann ich noch weniger loslassen, denn die Bruststimme sitzt viel zu nahe an mir und meinem Herzen dran, als dass ich sie einfach machen lassen kann. Hier halte ich noch mehr fest und will noch mehr kontrollieren. Und was ich dagegen tue, widerstrebt mir komplett, aber es funktioniert blöderweise: Ich singe, so albern ich kann.

Ich HASSE es, auf Kommando albern zu sein. Ich nehme diesen Singkram viel zu ernst, als dass ich mal eben die großen Powerballaden wie Defying Gravity (oder auch die Klassik) veralbern könnte. Aber so geht’s immer, und so ging’s auch vorgestern. Ich erzähle meiner Lehrerin, wie mein Tag so war: „Something has changed within me / Something is not the same / I’m through with playing by / the rules of someone else’s game“ und ignoriere dabei, dass ich von „the“ zu „rules“ mehr als einen Oktavsprung nach oben mache. Und ich achte beim „me“ darauf, dass ich kein kleines I-Mündchen mache und „miii“ singe, sondern mehr so „meh“. Und bei „game“ hänge ich nicht auf dem blöden M rum, sondern schön auf dem A und halte das gefälligst nicht fest, sondern lasse es los. Und zwar, während ich die Arme ausgebreitet habe, als ob ich Obelix umarmen wollte, mit den Händen wackele wie Jim Knopf und mir vorstelle, dass mein Kopf an einer Schnur hängt, die mich kerzengerade hält. Wenn ich zum Playback singe, also nicht am Klavier begleitet werde, hat Martina Zeit, meine Gesprächspartnerin zu sein. Wenn ich ihr also albern rumzappelnd erzähle, dass something in mir gerade gechanged hat, kommt von ihr mittendrin ein „Ach was?!“, damit ich bloß nicht wieder anfange, das ernst zu nehmen, was ich da mache. „Echt? Erzähl mir mehr. Voll spannend!“ Und irgendwann fühlt es sich dann wirklich wie ein Frauenabend mit zu viel Rotwein an, wo man über die Jungs lästert, anstatt wie die große Ballade, die beschreibt, das ab jetzt alles verdammt noch mal anders wird, BIG TIME, BABY.

Vielleicht gerade, weil es mir fürchterlich gegen den Strich geht, hat mein Körper vorgestern einen guten Tag gehabt. Normalerweise gehe ich spätestens beim c” in die Kopfstimme – heute ging auch das e” noch mit der Bruststimme. Ohne dass ich es wollte, ohne dass ich es darauf angelegt hatte, es kam einfach so und zwar, weil ich rumgealbert habe und so damit beschäftigt war, über mich selbst zu lachen, dass ich keine Zeit mehr hatte, irgendwelche Töne festzuhalten, die anscheinend dringend von mir wegwollten.

Das war allerdings deutlich anstrengender als sonst. Ich hatte zum ersten Mal mitten im Lied das Gefühl, dass ich mich jetzt gerne setzen und einen Schnaps trinken wollte, aber ich habe mit Playback gesungen und das zieht mich immer irgendwie mit. Als der herrliche Kampfschrei zum Schluss durch war, war ich es auch, und obwohl sich meine Schultern zwei Meter breit anfühlten und die Energie meiner Endorphine wahrscheinlich eine durchschnittliche Großstadt hätten beleuchten können, war ich nicht so euphorisch wie sonst, sondern eher: „Ach, so kann sich das anfühlen. Cool!“

Als Rausschmeißer haben wir einen anderen Liebling von mir gesungen, Can’t help lovin’ that man of mine. Und wo ich eben noch unglaublich laut und kraftvoll war, war ich jetzt ganz klein und kuschelig, so klein und kuschelig war ich noch nie, und ich habe ungefähr fünfzehnmal mitten im Lied entweder „wow“ gesagt oder angefangen zu heulen, weil es so unfassbar gut klang. Ich habe alle Töne losgelassen, die noch da waren; ich war so fertig von Defying Gravity, dass ich keine Kraft mehr hatte, irgendwas machen zu wollen, irgendwie zu arbeiten, zu pushen, zu meckern, ich habe nur noch machen lassen und es war großartig. Als das Lied vorbei war, habe ich nicht nölig geatmet und keine verächtliche Handbewegung gemacht, weil ich zum ersten Mal in den zweieinhalb Jahren, in denen ich jetzt wieder singe, das Gefühl hatte: So soll’s sein. So soll sich’s anfühlen.

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