November-Journal, 12.11.2012

Morgens die totale Streberin gemacht und für vier Stunden im Lesesaal der Zentralbibliothek verschwunden. Alleine zwei Stunden über Beethovens Klaviertrio Op. 1 gebrütet. Nachdem wir in der letzten Stunde den ersten Satz durchgekaut haben, kommen nächstes Mal die letzten drei Sätze dran. Ich suchte also nach der Grundtonart, Variationen, Imitationen, lustigen Akkordfolgen, die mir irgendwas sagen wollen – und nach und nach war das ganze Notengewirr kein Notengewirr mehr, sondern eine verdammt clevere Ansammlung von Tonfolgen, die mich sogar in Schriftform begeistern konnten, ohne dass ich sie höre. Nebeneffekt: Ich höre jetzt auch bei Popsongs genauer hin und suche Wiederholungen, Terzen, Synkopen. Der temporäre Mitbewohner meint: „Du hast deine Unschuld verloren.“ Ich meine: Das ist alles sehr aufregend.

Danach zu meiner Wohnung gefahren und die Saturn-Einkäufe von vorgestern aus ihren Pappkartons befreit. Der temporäre Mitbewohner war von der Hochgeschwindigkeit entsetzt, mit der ich durch den Elektromarkt sprintete: Die Nespresso-Maschine hatte ich mir vorher ausgesucht, der Rest war Spontankauf. „Du musst doch vergleichen, dich informieren, Testberichte lesen …“ (ab hier habe ich nicht mehr zugehört.) Ich kaufe, was mir gefällt. Von einem Staubsauger erwarte ich, dass er staubsaugt. Das werden wohl alle Geräte können, die da vor mir stehen, und wenn er noch halbwegs okay aussieht und kein Monatsgehalt kostet, passt das. In nicht einmal 45 Minuten waren wir wieder draußen. Der Mitbewohner hatte Schnappatmung und ich ein befriedigtes „Keine Zeit für Quatsch verschwenden“-Gesicht.

Meine Eltern angerufen, die immer noch etwas zögerlich auf meinen München-Enthusiasmus reagieren. „Aber du hast doch so einen guten Job.“ Ja, Mama. „Du brauchst das doch gar nicht.“ Nein, Mama. „Und was das kostet!“ Wem sagst du das, Mama. Sie versuchen sich für mich zu freuen, aber so ganz haut das nicht hin.

Die beiden haben quasi ihr ganzes Leben lang gearbeitet, weswegen es für sie schwer nachzuvollziehen ist, wie jemand freiwillig einen Job ruhen lässt, bei dem man mehr verdient als es die beiden jemals hinbekommen haben. Ich war aber sehr gerührt davon, dass mein Papa mich während des ganzen Immatrikulationsstresses anrief und mir sehr lange seine Laufbahn beschrieb, während der er auch mal den Wunsch verspürt habe, sich zu verändern, etwas anderes zu machen. Hat er aber nie, und im Nachhinein war das auch die richtige Entscheidung. Dagegen konnte ich natürlich nicht anstinken, denn außer „Ich mach das, weil ich das gerade will“ habe ich argumentativ nicht viel zu bieten. Wobei ich als Wohlstandskind ja eh nix zu bieten habe, was gegen die Kriegsgeneration anstinken kann. Ich weiß sehr wohl, was meine Eltern geleistet haben – abgesehen von so cleveren Ideen wie die zehnjährige Anke in eine Wagner-Oper oder in eine Ausstellung über ägyptische Kunst zu schleppen –, und das sage ich ihnen auch. Aber umgekehrt hadern sie noch etwas damit, dass ich mich auf einmal mit Dingen „hauptberuflich“ beschäftigen will, die doch eher für die Freizeit da sind. (Stichwort „brotlose Kunst“.)