Ralph Bollmann: „Walküre in Detmold“

„Anders als in Berlin herrscht in München eine klare Hierarchie der Opernhäuser. Die Staatsoper für den Glanz und die großen Namen, der Gärtnerplatz für das Volk. Weil in der sozial weniger gespaltenen Gesellschaft Münchens auch ganz normale Leute ins Theater gehen, bleibt der Spielraum für Experimente begrenzt. Berlins Komische Oper wollte stets ein Musiktheater für alle sein, in dem verständlich auf Deutsch gesungen wird und die Stoffe ganz alltagspraktisch auf die Bühne kommen, zuletzt auch gerne provokant, was zu einem Austausch der Zuschauer führte. Jetzt ist das Publikum dort jünger und intellektueller. Das konnte nur funktionieren, weil es in Berlin ein bodenständiges Opernpublikum kaum gibt – und wenn, dann geht es in die großen Häuser. Die sogenannten kleinen Leute wollen auf der Bühne nicht ihren Alltag sehen, sondern heile Welt, gern Operette. Damit muss ein Intendant am Gärtnerplatz stets rechnen, ohne deshalb ins Anspruchslose abzukippen. Zuletzt klappte das nur bedingt, auch weil die Personalpolitik des Hauses nicht glücklich war.

Ausnahmsweise entscheiden wir uns deshalb für eine alte Produktion, Friedrich von Flotows Martha in der Inszenierung von Loriot, die 1986 in Stuttgart Premiere hatte und seit 1997 in München läuft. Das ist Opernmuseum, in diesem Fall aber gutes Museum. Die Aufführung funktioniert noch immer. Der Kellner, der im Waldrestaurant mit seiner Spucke die Tische putzt, während die anderen Liebesarien schmettern; der ungerührt die Stühle auf die Tische räumt; der vergeblich der Festgesellschaft die Rechnung zuzustellen sucht: Das ist eine Figur wie aus den klassischen Sketchen des Humoristen. Hier auf der Opernbühne weiß man nicht genau, ob das eigentlich noch Loriot ist oder schon Christoph Marthaler, der später die Ästhetik des deutschsprachigen Theaters mit ähnlichen Pathosbrüchen prägte.

Loriot erfindet zwei Hauptfiguren hinzu. Er belässt die Handlung in England, verlegt sie aber in die Entstehungszeit des 1847 uraufgeführten Stücks. Am Schluss thront daher Queen Victoria als riesiger, gluckenhafter Teewärmer über einer nicht minder bauchigen Kanne, dazu spielt das Klavier God save the Queen. Der zweite Gast ist Richard Wagner, inspiriert durch den Umstand, dass die männliche Hauptfigur Tristan heißt und Loriot den Komponisten ohnehin verehrt. Der „sächsische Tondichter“, wie es auf dem Besetzungszettel heißt, sitzt in der zentralen Biergartenszene auf der Bühne. Er wird auch musikalisch zitiert, den ersten Auftritt Tristans begleitet der einschlägige Akkord. Loriot greift in die Musik ein, mehrfach sogar. Bei Flotow darf er das, der mecklenburgische Singspielautor und zeitweilige Schweriner Opernintendant zählt nicht zu den Unantastbaren des musikalischen Olymp. Aber was, wenn es jemand umgekehrt machte und im Tristan unvermittelt singen ließe: „Martha, Martha, du entschwandest“? Nicht auszudenken.

Als wir das Theater verlassen, laufen in den Wirtshäusern die Fernseher. Wenig später hat Bayern München das Finale der Champions League verloren. Nach dem Abpfiff endet der sonnige Tag mit einem überraschenden Regenschauer. Die enttäuschten Fans lassen sich die Laune nicht verderben und kommen mit ihren nassen Bayern-Schals noch auf ein Helles in die Schankstube. Wir sitzen an blanken Holztischen, essen unter einer herrlichen Stuckdecke unser saures Lüngerl. So schön kann Bayern sein.“

Ralph Bollmann, Walküre in Detmold (Affiliate-Link), Klett-Cotta 2011, S. 274/275.

Das Buch erwähnte ich bereits einmal; jetzt habe ich’s durchgelesen und würde es euch allen gerne schenken, so großartig fand ich’s. Man muss nicht mal Opernfan sein, ja eigentlich muss man noch nie in die Oper gegangen sein, um das Buch trotzdem zu genießen. Es macht ein bisschen mehr Spaß, wenn man grob weiß, wer so Jungs wie Verdi oder Wagner waren, aber notfalls hilft ein kurzer Blick in die Wikipedia weiter.

Der Inhalt hört sich simpel an: In Deutschland gibt es 81 Opernhäuser, und Autor Bollmann guckt sich in jedem Haus eine Aufführung an, manchmal auch mehrere. Er beschreibt kurz die Höhepunkte oder die Dinge, die ihm aufgefallen sind; meist bekommt ein Haus nicht mehr als ein oder zwei Seiten im Buch. Den Rest der knapp 300 Seiten füllt er mit kleinen Ausflügen in die spezielle Geschichte zum Haus oder dem Ort, an dem es steht. Ich habe viel erfahren über den deutschen Föderalismus, die Kulturförderung, den Anspruch von Publikum und Kunstschaffenden, der nicht immer auf einer Linie liegt, und über viele Orte, Landschaften und Sehenswürdigkeiten, die bisher an mir vorbeigegangen sind. (Ich muss ganz dringend nach Sachsen-Anhalt! Wer hätte es gedacht.)

Ich fand den Stil sehr wohltuend und passend; kein doofes Bildungsbürgergequatsche, kein elitärer Opernsnobismus. Ganz im Gegenteil: Ich behaupte, dass auch Leute, die vorher dieser Kunstform so gar nichts abgewinnen konnten, sich jetzt vielleicht doch mal so einen Quickie wie Tosca mit ihren lausigen zwei Stunden Spieldauer anschauen wollen, weil Walküre so herrlich nahbar ist. Jedenfalls wünsche ich mir das. Genauso wie ich mir wünsche, dass Bollmann ne Menge Exemplare von diesem kleinen Schmuckstück verkauft.