‘In den Westen flüchten. Das war eines meiner Lieblingsspiele. Man musste mindestens zu viert sein. Drei Kinder stellten sich in einer Reihe am Klettergrüst auf, das waren die Grenzer. Der Vierte musste versuchen, an den Grenzern vorbei durch das Gerüst zu steigen. Wenn man es auf die andere Seite geschafft hatte, musste man „Westen“ schreien und hatte gewonnen. Einmal waren wir mit der Klasse am Brandenburger Tor. Ich war acht Jahre alt. Die Lehrerin wollte uns den „antifaschistischen Schutzwall“ zeigen. Während die Lehrerin vom sozialistischen Friedenskampf erzählte, überlegten wir, wie man es am besten anstellen könnte, da rüberzukommen. Mit einem Kranauto, schlug einer vor, mit einem Segelflugzeug ein anderer. Am nächsten Tag schrieben wir in der Schule eine Heimatkundearbeit zum Thema „Warum die Staatsgrenze geschützt werden muss“. Anne hat meinen Heimatkundehefter aus der dritten Klasse aufgehoben. Vor mir liegt das linierte Blatt mit der vorgedruckten Frage. Ich habe geschrieben: „Weil sonst alle abhauen und weil drüben Faschisten sind.“ Ich bekam dafür nur eine Drei. Die richtige Antwort ist mit roter Tinte danebengeschrieben: „Damit der Frieden gesichert bleibt.“’

Maxim Leo, Haltet euer Herz bereit: Eine ostdeutsche Familiengeschichte, Heyne 2011, S. 186

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