Tagebuch Samstag, 9. September 2023 – Taschenkontrolle

Gestern saß ich in gleich doppelter charmanter Begleitung schon wieder in der Isarphilharmonie. Ich konnte mich allerdings nicht sofort auf Beethoven und Brahms konzentrieren, denn der Einlass hatte mich etwas mehr verstört als ich dachte.

Igor Levit war zu Gast, gemeinsam mit dem Israel Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Lahav Shani, der ab 2026 die Münchner Philharmoniker übernehmen wird. Das Konzert begann etwas unüblich erst um 20.30 Uhr – nach Sonnenuntergang halt, es war noch Sabbat. Es fielen einem schon ein paar kräftig gebaute Herren mit Ohrstöpseln auf, die vor allem neben, wenn wir richtig geguckt hatten, der neuen Generalkonsulin des Staats Israel ein paar Reihen vor uns Platz nahmen.

Am Eingang zum Gebäude wurde ich freundlich gefragt, ob man mal in mein Handtäschchen gucken dürfe. Das kannte ich von einem klassischen Konzert noch nicht. Aus Fußballstadien, logisch, und leider auch aus Jüdischen Museen oder beim Besuch von Synagogen, wo man durch einen Metalldetektor geht, seinen Rucksack durchleuchten lässt und den auch nochmal inspizieren lassen muss. Der St.-Jakobsplatz hier in München ist mit versenkbaren Pollern gesichert, damit kein Fahrzeug ans Museum oder die Synagoge fahren kann. Es kotzt mich so an, dass diese Mittel anscheinend notwendig sind, und es hat mich doch mehr beunruhigt als ich gedacht hatte. Die ersten fünf Minuten Beethoven waren jedenfalls verschenkt, aber als Levit zum ersten Mal die Tasten berührte, war alles wieder in Ordnung. Ich habe keine Ahnung, was seine Spielweise so besonders macht, aber mich hat er immer sofort in der Tasche.

Bei der Zugabe war ich mir nicht sicher: Beethoven? Brahms? Hatte er nicht gerade auf Insta mal wieder Brahms gespielt? Ein Zuschauer, der zur Pause hinter mir entlangging, verriet seiner Begleitung, dass es der zweite Satz der Pathétique gewesen war. Danke, unbekannter Wissender.

Nach der Pause plüschten die ersten beiden Sätze von Brahms’ 1. Sinfonie ebenfalls ein bisschen an mir vorbei, aber der dritte Satz hatte mich dann, und spätestens im vierten wollte ich, dass das Konzert noch ein bisschen länger dauern könnte. Dauerte es auch, weil es noch einen Mendelssohn als Zugabe gab und danach noch eine Runde lustiges Pizzicato des Orchesters, womit man sehr beschwingt und gut gelaunt aus dem Saal ging – und mir erst dann wieder die blöde Taschenkontrolle einfiel. Well played (haha).

Im vierten Satz kam plötzlich ein Motiv, das ich kannte und seitdem war mein Kopf ein bisschen zu sehr damit beschäftigt, sich zu fragen, aus welcher Fernsehsendung ich dieses Stückchen Melodie wohl kennen könnte. Google half in der U-Bahn nach dem Konzert: Es ist die Titelmusik des Hamburg-Journals. Wie passend. (Brahms Erste war das erste Stück, das in der Elbphilharmonie aufgeführt wurde. Hier das Motiv des vierten Satzes.)

In den ersten Sätzen, die, wie erwähnt, etwas an mir vorbeigingen, dachte ich über einen kleinen Absacker nach dem Konzert nach. Das Lokal direkt an der Isarphilharmonie würde überlaufen sein, alles auf dem Weg zur U-Bahn sprach mich auch nicht an, aber: Wir sitzen ja eh in der U3, von wo man entspannt in die U6 umsteigen kann, und die fährt einen bis fast vor die Tür des Tantris. Die dortige Bar hat bis 2 Uhr geöffnet. F. war leicht zu überzeugen, wir fuhren, traten ein, wurden begrüßt wie alte Freunde – „Sie waren jetzt aber schon mindestens ein halbes Jahr nicht mehr hier!“ –, was stimmte, denn im Februar hatten wir es uns hier zum letzten Mal gut gehen lassen. „Ich erinnere mich: Sie waren im DNA und wollten eigentlich schon gehen, sind dann aber doch noch auf einen Drink geblieben.“ Ich meine, es waren zwei, und auch gestern sollte es nur einer werden, aber es wurden drei. Und noch ein halbes Gläschen Chardonnay, der vermutlich gestern im Tantris in der Weinbegleitung des Menüs gewesen war. Denn der Sommelier kam kurz vorbei, begrüßte uns und brachte dann einfach was an den Tisch: „Mal sehen, ob euch das Spaß macht.“ Es ist nach Tohru anscheinend jetzt auch im Tantris so weit, dass wir geduzt werden und hier noch ein Gläschen und dort noch ein Gläschen angereicht bekommen, die nicht auf der Rechnung auftauchen.

Wir waren die letzten Gäste – „Keine Eile!“ –, ich gönnte mir ein Taxi, während F. noch einen Bus fand, der ihn nach Hause brachte, und ich war wieder halbwegs mit der Welt versöhnt. Es könnte alles so schön sein. Herrliche Musik, nette Menschen, ein freundlicher Umgang miteinander. Und stattdessen muss man über Attentate nachdenken, wenn man Beethoven hören möchte, der von einem Orchester aus Israel gespielt wird. Erneut: Es kotzt mich so an. Cocktails helfen zeitweilig, aber das scheint mir auch keine optimale Lösung zu sein.

Igor Levit: „Wo sind die Demos gegen Faschisten?“

Aus dem Merkur:

„Ich habe mich in den letzten Jahren immer wieder öffentlich zu politischen und gesellschaftlichen Fragen geäußert und mich klar positioniert. Gegen Menschenhass und deren Verursacher. Und was ist die Realität heute? 21 Prozent der Deutschen wollen Faschisten wählen. Also müssen wir irgendetwas falsch gemacht haben. Wir haben zu viele Menschen ganz offensichtlich nicht erreicht. Ich stimme mit dem Salzburger Festspielintendanten Markus Hinterhäuser vollkommen überein, der vor „Empörungsritualen“ warnt. Die Auseinandersetzung zum Beispiel mit der AfD muss eine andere werden. Wenn Sie so wollen, eine erwachsenere. Abgesehen davon setzt ein fataler Gewöhnungsprozess ein. Nach der Bundestagswahl 2017, als die AfD über 13 Prozent bekam, stand ich auf dem Berliner Alexanderplatz und habe mitgerufen „Wir sind die 87 Prozent“. Heute sind wir laut Umfragen die 79 Prozent. Gibt es überhaupt eine Demo dagegen, dass 21 Prozent der Deutschen Faschisten wählen wollen? In Israel zum Beispiel stehen Hunderttausende wöchentlich auf der Straße und demonstrieren für Rechtsstaat und Demokratie – das wären in Deutschland umgerechnet über zwei Millionen. Wo sind sie? Deshalb habe ich immer weniger Lust darüber zu reden, ob wir Künstler, wie Sie es hier formulieren „die Klappe aufmachen müssen“ – in einem Land, das in seinem Phlegma so viel toleriert.“

Tagebuch Freitag, 8. September 2023 – Burgunder

F. und ich haben unterschiedliche Lieblingsrestaurants in München: F. liebt Tohru, ich liebe das Alois, und wir lieben beide das Tantris DNA. Dort hat leider die Küchenchefin Virginie Protat schon vor ein paar Monaten ihre Messer gepackt und ist wieder nach Frankreich gegangen. Und nun verlässt auch Max Natmessnig München und das Alois; er zieht nach New York, wo er mit Marco Prins den legenden Chef’s Table at Brooklyn Fare übernimmt, wo er bereits – mit Prins – als Souschef gearbeitet hat. Er war nicht mal ein ganzes Jahr in München, was F. und ich wissen, weil wir quasi direkt nach der Wieder-Eröffnung des Alois unter Natmessnig im November 2022 dort gegessen haben. Ich war so davon begeistert, dass mich F. zu meinem Geburtstag im März genau dorthin ausführte. Und weil wir davon nochmal begeistert waren, reservierten wir ein drittes Mal in zehn Monaten, noch bevor wir wussten, dass es das letzte Mal unter diesem Küchenchef sein würde.

Gestern gönnten wir uns zwei Flaschen Wein statt der glasweisen Weinbegleitung, wie neulich bei Tohru auch schon, wir sind jetzt fit genug für Weinkarten (okay, eher F. als ich). Nakamura hatten wir beim Gespräch in der Küche vor dem Menübeginn angefleht, nicht auch noch aus München wegzugehen, sonst müssten wir uns nicht nur zwei, sondern drei neue Lieblingsrestaurants suchen. Es klang so, als würde er bleiben.

Der Abend gestern war genauso perfekt wie die anderen beiden. Ich wimmerte das letzte Drittel des Menüs dauernd vor Abschiedsschmerz, aber Burgunder und Cognac halfen. Der Guide Michelin hat einen Gang, den wir gestern genossen, als einen von fünf genannt, die man sich aus dem Jahr 2023 merken sollte. Ich fand ihn wie ich Donnerstag schon Mahler fand: Ich hatte keine Ahnung, was das Ding von mir will, aber ich lasse mich gerne überall hin mitnehmen. Diese angenehme Überforderung durch Texturen, Geschmäcker und 15 Ebenen, die sich auf vier Bissen drängen, werde ich fürchterlich vermissen.

F. so: „Dann müssen wir halt nach New York.“ Ja gut dann.

Tagebuch Donnerstag, 7. September 2023 – Glocken

Wir saßen gestern abend in der Isarphilharmonie und hörten Mahlers 2. Sinfonie. Ich kannte das Stück noch nicht – und wurde völlig von ihm überrumpelt. Das Ding dauert 90 Minuten, hat fünf Sätze, wird ohne Pause gespielt (perfekt, Pausen nerven), und ich war keine Sekunde abgelenkt. Das ist mir in klassischen Konzerten vermutlich noch nie passiert. So sehr ich diese Art Musik liebe – irgendwann schweife ich dann doch mal ab, denke ans Essen oder das Universum oder mir fällt auf, dass die Hüsterchen im Saal wieder zunehmen, aber gestern war mein Kopf so gut wie ausnahmslos vorne auf der Bühne, wo ein riesiges Orchester, ein ebenso riesiger Chor und zwei Solistinnen alles zwischen Pianissimo und Fortissimo von sich gaben.

Es gab acht Kontrabässe, zwei Harfen, die vier (?) Percussionisten waren deutlich sichtbar beschäftigt, mir ist die Pikkoloflöte noch nie so oft aufgefallen, zwischendurch mussten zwei Bläser mal hinter die Bühne fürs Fernorchester, dann kamen zwei Schlagzeuger für einen schönen Trommelwirbel auf die Bühne, der Chor erhob sich nach Stimmen getrennt und natürlich gab es neben einem riesigen Gong auch Glocken, warum auch nicht, GLOCKEN, WIR HABEN GLOCKEN! Die Wall of Sound ist ein Kindergarten dagegen.

Das Ding ist eine einzige Wundertüte, bei der ich nie wusste, wo es hinging, und ich habe mich gerne in alle Richtungen mitnehmen lassen. Falls dieses Zauberwerk mal in eurer Nähe aufgeführt wird – geht ruhig mal hin. Wer dazu keine Gelegenheit hat, mag vielleicht dem Symphonieorchester und dem Chor des Bayerischen Rundfunks unter Zubin Mehta zuhören.

Tagebuch Mittwoch, 6. September 2023 – Lesen und schreiben

Klingt nach einem interessanten Buch für mich: „Historische Grundlagen der mobilen Gesellschaft. Technologien der Verkehrslenkung und drahtloser Information auf Straßen und Wasserwegen in Europa.“ Rezension bei hsozkult:

„Mit solchen Beiträgen zeigt der Band, was eine moderne, Infrastrukturen untersuchende Technikgeschichte zu leisten vermag. Sie kann verdeutlichen, wie Ordnungsdenken, Konsumgewohnheiten, gesellschaftlicher Handlungsdruck und staatliche Innovationsimpulse technische Entwicklungen beförderten. Sie belegt aber zugleich, wie Entscheidungen und Handlungen von technischen Voraussetzungen abhängen und welche Potentiale technische Entwicklungen (etwa der Durchbruch zum digital geprägten Rundfunk) freisetzen können. Hier spielten – wie erwähnt – der Staat und die Automobilunternehmen eine wichtige Rolle, aber auch, wie die Autoren ebenfalls immer wieder hervorheben, Zulieferer wie Bosch und Radiogeräte-Hersteller wie Blaupunkt, die die Möglichkeiten technischen Handelns in einem komplexen Netzwerk konfigurierten. Lernprozesse in der von Technik und Automobilität geprägten westlichen Industriemoderne der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verliefen offenbar in komplizierten Mischungsverhältnissen. Sie prägten Lebensvollzüge und Alltag zunehmend und vielleicht ähnlich stark wie einige hochpolitische Debatten, die oft eher im Mittelpunkt zeitgeschichtlicher Betrachtungen stehen. So ist dies ein nützlicher und stellenweise faszinierender Sammelband nicht nur für Mobilitätshistoriker:innen.“

Zwischendurch mal wieder ein paar Namen bei #EveryNameCounts abgeschrieben. Und dabei auch gleich mal nach Ernst Wiechert gesucht, von dem ich ja gerade einiges lese.

Umsonst zum Download: Henning Borggräfe, Christian Höschler, Isabel Panek (Hrsg.): „Tracing and Documenting Nazi Victims Past and Present“, 2020.

Tagebuch Dienstag, 5. September 2023 – Kalk

Ich so gestern im Blog: „Bei meiner Espressomaschine hat’s leider nicht geklappt, die muss jetzt doch in die Reparatur.“

Meine geliebte Bezzera fing vor Monaten an, keinen schönen Espresso mehr zu produzieren, sondern sauren Schleim. Oder heiße Luft. Auf jeden Fall kam das Wasser nicht mehr dort an, wo es hingehörte. Ich reinigte die Siebe und die Brühgruppe fünfmal, obwohl ich das brav regelmäßig tue – nichts. Ich schraubte auseinander, was ich mich auseinanderzuschrauben traute, reinigte – nichts. Dann war ich bockig, ließ die Maschine rumstehen und holte die Nespresso wieder aus dem Keller.

Vor einigen Wochen war die Vermissung groß genug, um mich um die Reparatur zu kümmern. Die Vorstellung, meine zehn Kilo schwere Maschine durch die Gegend zu schleppen, hatte bei über 30 Grad Außentemperatur aber so gar keine Chance, in die Realität umgesetzt zu werden, weswegen das Maschinchen erst einmal weiter tatenlos bei mir rumstand.

Vor einigen Tagen holte ich aber endlich mal die Originalverpackung aus dem Keller, putzte meinen kleinen/schweren Liebling, stellte ihn in seinen Karton und rief gestern den Dealer an, um einen Reparaturtermin zu vereinbaren. Ich schilderte das Problem, woraufhin der freundliche Herr am Telefon meinte: „Haben Sie es denn schon mal mit Entkalken versucht?“ Ich so: „Äh.“

Ich verwende in der Bezzera kein Leitungswasser, weil das in München quasi nur aus Kalk besteht, sondern schütte teures Volvic in den Tank. Daher habe ich noch nie ans Entkalken gedacht, denn Volvic ist ja quasi kalkfrei. Aber eben nur quasi, und nach fünf Jahren hatte sich da wohl doch eventuell etwas festgesetzt. Ich fuhr also statt mit dem schweren Karton und einem Taxi per U-Bahn zum Laden, erstand für 10 Euro Entkalker, war dann zwei Stunden lang mit schrittweisem Wasserablassen beschäftigt – und dann produzierte mein Herzblatt wieder Espresso, wie er sich gehörte. Naja, fast, die Bohnen in der Mühle schmeckten nach Monaten nicht mehr ganz taufrisch, weswegen ich die heute morgen ersetzte. Aber dann saß ich wieder auf dem Balkon und freute mich darüber, mein Morgenritual wiedergewonnen zu haben. Ja, Nespresso geht schneller, und ja, schmeckt auch, aber ich mag diesen kleinen Aufwand des Mahlens, Milchaufschäumens und halt des Espressobezugs sehr gern.

(Entkalken! Ich Depp.)

Tagebuch Montag, 4. September 2023 – Zusage

Schreibtischtag, Sekundärliteratur, in der eigenen Stoffsammlung rumgewühlt.

Mittags Sticky Rice mit Mango. Sehr gut. Natürlich nach „Immer schon vegan“, bitte kaufen Sie dieses Buch und alle anderen Bücher von Katharina Seiser auch.

Nachmittags dann eine frohe Kunde: Ich habe einen Platz in der Fortbildung Provenienzforschung der FU Berlin erhalten. An vier Terminen lerne ich noch mehr über dieses Gebiet, was mich sehr freut. Und: Ich komme mal wieder nach Berlin und Dresden, da war ich ja auch schon viel zu lange nicht mehr.

Hunderttausende Entnazifizierungsakten aus dem Landesarchiv NRW online

(via @Cartoonist@mastodon.social, der es natürlich von Klaus Graf hat.)

Ich lese derzeit Steffen MausLütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft“ (2019) und poste dauernd seitenweise Inhalte daraus auf Mastodon. Rpunkt machte mich gestern darauf aufmerksam, dass es das Buch auch bei der Bundeszentrale für politische Bildung gibt. Mein Leseexemplar ist aus der Münchner Stadtbibliothek, aber die 4,50 Euro bei der BPB habe ich gestern gern investiert. Ähem. Und gleich noch weitere 50 Euro dazu, es gibt da ja doch einiges, was mich interessiert.

Meine übliche Taktik bei Elektrogeräten – ausschalten, putzen, warten – hat beim Geschirrspüler funktioniert. Läuft hoffentlich wieder – jedenfalls ist die Fehlermeldung weg. Bei meiner Espressomaschine hat’s leider nicht geklappt, die muss jetzt doch in die Reparatur.

Tagebuch Sonntag, 3. September 2023 – Sonntag halt

Ewig im Bett rumgelungert, gekuschelt, Wäsche gemacht, Kuchen gebacken, gelesen, auf dem Balkon gesessen, Blumen gegossen, Serien geguckt, Kuchen gegessen, nochmal gelesen und dann war der Tag schon rum. Das einzige, was kurz vor dem Schlafengehen genervt hat, war eine Fehlermeldung am Geschirrspüler (AM GESCHIRRSPÜLER, WARUM, WARUM AUSGERECHNET DU, GELIEBTES DING), die auch heute morgen nicht verschwunden ist. Das Internet bietet mir lustige Selbstbastelanleitungen, die ich gleich sein lasse, ich bastele nicht, ich lasse basteln, dafür gibt es Profis. Aber vorerst mache ich einfach mal alles sauber, was geht, lasse die Maschine ein paar Tage lang offen rumstehen und auslüften, und wenn dann die Fehlermeldung immer noch da ist, wird die Fachkraft angerufen. Bis dahin spüle ich wieder von Hand und werde mir das als Entschleunigung, mehr Nähe zum Produkt, meditative Beschäftigung, erdet total, schönreden.

Tagebuch Samstag, 2. September 2023 – „Das einfache Leben“

Das Buch „Das einfache Leben“ von Ernst Wiechert ausgelesen. Ich hätte nicht gedacht, dass es mir (zum allergrößten Teil) gefällt, aber ich wurde überrascht. Ich zitiere die Wikipedia, auch wenn ich den Begriff der „Inneren Emigration“ nicht mehr gelten lassen kann:

„Wiechert schrieb dieses Buch unmittelbar nach seiner Haft im KZ Buchenwald im Sommer 1938, um sich die erlittenen Leiden „von der Seele zu wälzen. … Mit ihm spülte ich mir von der Seele, was sie beschmutzt, befleckt, erniedrigt, entwürdigt und zu Tode gequält hatte. Mit ihm baute ich noch einmal eine Welt auf, nachdem die irdische mir zusammengebrochen oder schrecklich entstellt worden war.“ Erst nach dem Verfassen dieses Buches war Wiechert seelisch in der Lage, seinen Bericht über die Leiden im KZ, „Der Totenwald“, niederzuschreiben. Für Wiechert bedeutete Das einfache Leben die psychische Genesung und zugleich ein Weg, nach den gemachten Erfahrungen seinen Lesern den Ausweg in die Innere Emigration zu weisen.“

(Einschub: Den „Totenwald“ las ich vor dem „Einfachen Leben“.)

Bereits im ersten Kapitel war ich kurz davor, das Buch wegzulegen, als aus der Zeit gefallen, gestrig, zu behäbig. Ich haderte auch sehr mit den Beschreibungen der Großstadt, vermutlich Berlin:

„Und weshalb wartete er nur auf einen dieser Züge? Auf diese donnernden Ungetüme mit ihrem grellen Licht, ihrer verbrauchten Luft und den verwüsteten Gesichtern, die geradeaus ins Leere starrten? Weshalb wartete er fast jeden Abend auf sie, um ziellos und sinnlos durch diese Stadt zu fahren, die er haßte? Stunde für Stunde, kreuz und quer? Mit der Stadtbahn, dem Autobus, der Straßenbahn? Durch die Elendsviertel und die Paläste (aber sie waren elender als jene), die Augen von Gesicht zu Gesicht wendend, als suchten sie etwas schrecklich Verlorenes? Konnte er nicht mehr ertragen, allein zu sein, oder tat er es gerade, um allein zu sein, hoffnungslos allein unter Verfluchten und Verlorenen? Die anderen kauften Rauschgifte; an dunklen Straßenecken, finsteren Torwegen konnte man sie haben. Und er fuhr und fuhr, stieg aus und fuhr wieder weiter, berauschter als sie alle, aber doch mit der eiskalten Angst im Herzen, es könnte ihm entgehen, es könnte nicht gefunden werden, was er suchte: ein Gesicht, eine Erkenntnis, der Friede … er wußte es nicht.“ (S. 17)

Die Hauptfigur Thomas von Orla, Kapitän im Ersten Weltkrieg, entzieht sich dieser Stadt, seiner Ehe mit einer Frau, die er in den letzten Kapiteln „dieses Kind“ nennt (uah) und seinem Sohn, der anscheinend bei seiner Gouvernante eh besser aufgehoben ist, indem er nach Osten wandert. Bei der Beschreibung der sich ändernden Landschaft gruselte es mich auch kurz, weil ich derartige Beschreibungen (über die von der Wehrmacht eroberten Ostgebiete) aus anderen Zusammenhängen kenne. Hier Wiechert, etwas unschlüssig, ob die für ihn neue Landschaft jetzt gut oder schlecht ist:

„Indes er fast geräuschlos dahinglitt, von einem sanften seitlichen Winde je nach der Biegung der Straße gehindert oder getrieben, versuchte er zu ergründen, weshalb sein Atem leicht zu gehen schien in dieser Landschaft, obwohl sie doch im ersten Anschauen streng, weit und nicht ohne Düsterkeit sich ihm darbot. Er bemerkte, daß die Luft rauher ging, daß Wachstum und Feldbestellung gegen seine Heimat weit zurückgeblieben waren, daß Häuser und Dörfer ärmlicher, fast liebloser in den umgebenden Raum gebettet waren. Doch schienen wiederum Straßen und Pfade menschenleerer, alles Gerät einfacher und verbrauchter, ja auch alle Ansprüche bescheidener, als ob die Erde noch unbedingter hier herrsche, den Forderungen des Menschen noch widerwilliger verschlossen als in anderen Bezirken des Reiches, und als ob der Mensch hier mehr auf eigener Kraft und im eignen Inneren beruhen müsse, ohne die gedankenlose Unterstützung der Masse, die ihm woanders, zumal in den Städten, so leicht und so verhängnisvoll zufalle.“ (S. 36/37)

Und hier ein kleiner Ausschnitt aus meiner Diss, in der ich drei Vorworte zu den Katalogen „Deutsche Künstler sehen das Generalgouvernement“ von 1941 bis 1943 zitiere:

„Im Vorwort schrieb Ernst Jaenicke über die vergangenen Ausstellungen und ihre Zielrichtungen. 1941 hatte seiner Meinung nach das „aufbaubildnerische Element“ in den Kunstwerken vorgeherrscht, das entstanden war, während deutsche Soldaten, „die als Ordner und Gestalter in das ihnen vielfach neue und fremde Land gekommen waren und nun daran gingen, ihren neuen Wirkungskreis mit erfrischender Schöpferfreudigkeit zu erfüllen“, einen gnadenlosen Angriffskrieg führten. Jaenicke verbrämte diese Tätigkeiten äußerst euphemistisch: „So entstanden großzügige Neu- und Umbauten, deutsche Häuser und Gaststätten, so kam Ordnung in das Landschaftsbild, und die Einrichtung der neuen Häuser erfüllte die Atmosphäre deutscher Wohnkultur. Die künstlerische Arbeit stand überwiegend im Zeichen des Neuaufbaus und war hauptsächlich von diesen praktischen Gesichtspunkten bestimmt.“

1942 hatte Jaenicke „Neuland“ gesehen, das die deutsche Kunst hier gefunden hätte, und bestätigte erneut den Anspruch der Deutschen auf diese Gebiete: „In der Landschaft stand neben der trostlosen Weite, Planlosigkeit und Verkommenheit des Ostens die Entdeckung weiter Gebiete mit heimischen Charakterzügen.“ 1943 nun zeigte sich laut Jaenicke in den ausgestellten Bildern „eine stärkere Geschlossenheit, die, ohne einseitig zu werden, gerade in der Vielfalt der Themen und der Farbgebung kühn die Gestaltung des Neuen versucht und damit den alten Lebenskreis erweitert.“ (Gröner 2022, S. 262/263)

Mitten in den Sätzen von Wiechert kommen dann auch noch Bemerkungen, die mich kurz innehalten ließen, Hervorhebung von mir:

„Ja, er sei zur See gefahren, sagte Thomas auf die erste ungeschickte Frage hin, sein ganzes Leben lang, als Steuermann auf einem großen Dampfer. Aber da es nun damit zu Ende sei, es ihm auch in den engen Städten nicht gefiele, wo der Wind nur Staub und Papierfetzen vor sich hertreibe statt des salzigen Schaumes der See, so habe er beschlossen, sich in dieser Landschaft umzutun, ob er nicht etwas wie eine Fischereipacht fände, von der man bei harter Arbeit doch sein Brot habe und zum mindesten sein Essen, wenn das bedruckte Geld schon immer schneller in den Rauchfang stiege.

Das könne wohl möglich sein, meinte der Mann langsam, und wenn er auch hier in der Gegend nichts wisse, vielmehr alles in festen Händen sei, so könne er ihm doch hier und da einen Namen an den Seen sagen, wo er Bescheid und wohl auch Rat finden werde. Denn es sei viel Unruhe in der Landschaft, nicht nur wegen der Angst vor den Polen, sondern es sei überall auch wie bei ihnen selbst, daß die jungen Leute den Dienst aufsagten, nicht nur, weil es ihnen zu einsam sei, sondern auch weil sie meinten, die Arbeit werde nun abgeschafft oder mindestens denen aufgelegt, die bisher nach ihrer Meinung nicht gearbeitet hätten. So seien auch sie allein geblieben, und Knecht und Magd seien des Weges gegangen, in die Hauptstadt der Provinz, wo sie nun wahrscheinlich schon auf einem goldenen Throne säßen. (S. 41/42)“

Orla findet seine Fischereipacht und ab dort hat das Buch auf mich einen völlig unerwarteten Sog entwickelt. Ich kopiere mal einen Teil der Inhaltsbeschreibung aus der Wikipedia, weil ich sie gelungen finde:

„Fünf Jahre nach Kriegsende ist Thomas immer noch mit der Verarbeitung der Kriegsereignisse beschäftigt. In dieser Situation hat er ein Schlüsselerlebnis, als er den Psalm 90 von der „Zuflucht in unserer Vergänglichkeit“ verinnerlicht: „wir bringen unsre Jahre zu wie ein Geschwätz.“ Der 45-jährige Offizier entschließt sich daraufhin, der quirligen Großstadt und seiner Familie den Rücken zu kehren, durchquert Polen und geht nach Ostpreußen. „Auf dem Wege der Arbeit als der einzigen Erlösung des Menschen“ beginnt Thomas eine jahrelange Suche nach dem Sinn seines Lebens. Dabei gerät er zufällig in eine scheinbar heile preußische Welt, die in der Zeit der Weimarer Republik ihren alten Charakter bewahrt hat. Die wichtigsten Beziehungen knüpft Thomas zu dem bärbeißigen General von Platen, zu dessen Enkelin Marianne, dem Förster Gruber sowie zu dem Nachbarn Graf Natango Pernein, einem jungen, zurückgezogen lebenden Schöngeist und Liebhaber naturwissenschaftlicher Experimente. Die Landbevölkerung bleibt dagegen weitgehend konturlos.“

Die Beschreibungen Wiecherts vor allem der Landschaft, Orlas körperlicher Arbeit und im Gegensatz dazu seine inneren Monologen über Wissenserwerb, Gott, die Schöpfung, unseren Platz darin, was war und was bleibt, haben mich eigentümlich angerührt. (Ich stutze gerade über „eigentümlich“ und frage mich, ob ich das Wort vor einer Woche auch getippt hätte.) Wiecherts Sprache hat bei mir den Effekt einer langen Medidation gehabt, ich habe mich mit dem Buch in der Hand entschleunigt gefühlt, wie behutsam in eine völlig andere Welt gesetzt und dort einfach mal mir selbst überlassen. Ja, ich habe einiges angestrichen, was mir verdeutlich hat, dass das Buch 1939 erschienen ist, aber es gab deutlich mehr Passagen, die ich als zeitlos empfunden habe.

Am Ende kann Wiechert sich anscheinend selbst nicht so ganz von seiner Welt trennen, die letzten drei Kapitel waren etwas mühsam, und eine Stelle hat mich ganz persönlich etwas angefasst, weil man inzwischen weiß, was nach 1939 und dem Erscheinen des Buchs passiert und weil meine Mutter aus Ostpreußen stammt und es immer noch ihre Heimat nennt, obwohl sie seit 1946 (oder 1947?) nicht mehr dort lebt.

„Bergengrün war fertig mit seiner Gottesgelehrtheit und sollte nun mit dem Gottesdienst beginnen und zu Pfingsten seine erste Predigt von der Kanzel halten, die der General ihm versprochen hatte. »So lange ist es her, Kind«, sagte Thomas, »seit ich auf der Treppe stand, und ihr kamt mir entgegen. Eine goldene Krone habe ich dir versprochen, aber sie liegt noch immer auf dem Grunde, und nur manchmal ist mir, als scheine sie über das Wasser hin.«

»Du trägst sie ja, Thomas«, erwiderte sie, »du siehst es nur nicht.«

Aber er schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich will schon zufrieden sein, wenn ich meinen Helm in Ehren tragen und ihn am Abend ein bißchen abnehmen kann. Es ist schon recht in der Welt, wenn die Männer den Helm und die Frauen die Krone tragen.«

Sie standen am Walde der guten Hoffnung und sahen auf die jungen Pflanzen nieder, die in langen Reihen hügelauf und hügelab liefen. Der Kuckuck rief, aber sie zählte nun nicht mehr. Sie glaubte zu wissen, daß sie lange leben würde. Ihre Kinder würden Erdbeeren unter diesen Gräsern sammeln und groß werden und mit der Büchse über den Knien hier auf das ziehende Wild warten, wenn das Haus auf der Insel schon leer stehen würde. Niemand sollte dort mehr wohnen als sie selbst, wenn sie alt geworden war. Und dort wollte sie auch begraben werden. – »Er wird wachsen, gleichviel, was wir tragen«, sagte sie auf dem Heimweg. (S. 377/378)

„Das einfache Leben“ ist schon gemeinfrei; beim bösen Online-Händler kann man es sich umsonst auf den Kindle holen, oder ihr lest bei Gutenberg. Gebt dem Buch ruhig mal eine Chance. Vielleicht werdet ihr ähnlich überrascht werden. Ich frage mich immer noch, ob ich das Werk vor fünf, zehn, 20 Jahren gelesen hätte – und glaube es nicht. Aber jetzt passte es gerade.

Tagebuch Freitag, 1. September 2023 – Archivkartons

Von den zwei letzten Kartons, die noch für mich bereitlagen, habe ich alle geschafft, die Jahre 1940 bis 1944. Nur noch neun Seiten vollgetippt, insgesamt waren das jetzt 38 Seiten an Notizen, knapp 70.000 Zeichen, eine Bachelorarbeit aus Archivkartons.

Abends keine Serien geguckt, sondern beim Fuppes gewesen, mit weiteren, laut Stadionlautsprecher, 611 Besucher*innen, die sich die Amateure des FC Bayern im Grünwalder Stadion anschauten. Das war nett, laue Temperaturen, Sonnenuntergang, ein 4:3-Sieg und die U-Bahn fast vor der Tür. Stadien mitten in der Stadt sind sehr schön.

Tagebuch Donnerstag, 31. August 2023 – Archivkartons

Von den vier Kartons, die für mich bereitlagen, habe ich immerhin zwei geschafft, die Jahre 1934 bis 1939. 16 Seiten vollgetippt. Ich bin gespannt darauf, wieviele Seiten es heute werden. Hoffentlich werde ich die restlichen zwei Kästen, die die Zeit bis 1945 umfassen (plus ein paar Ausreißer von 1947 und 1948), komplett beackern können.

Abends nur noch Serien geguckt, gegessen und ins Bett gefallen, mehr ging gestern nicht mehr. Freuen Sie sich jetzt schon auf den Blogeintrag von morgen, wo ich vermutlich diesen Eintrag copypasten werde.