Tagebuch Samstag, 9. September 2023 – Taschenkontrolle

Gestern saß ich in gleich doppelter charmanter Begleitung schon wieder in der Isarphilharmonie. Ich konnte mich allerdings nicht sofort auf Beethoven und Brahms konzentrieren, denn der Einlass hatte mich etwas mehr verstört als ich dachte.

Igor Levit war zu Gast, gemeinsam mit dem Israel Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Lahav Shani, der ab 2026 die Münchner Philharmoniker übernehmen wird. Das Konzert begann etwas unüblich erst um 20.30 Uhr – nach Sonnenuntergang halt, es war noch Sabbat. Es fielen einem schon ein paar kräftig gebaute Herren mit Ohrstöpseln auf, die vor allem neben, wenn wir richtig geguckt hatten, der neuen Generalkonsulin des Staats Israel ein paar Reihen vor uns Platz nahmen.

Am Eingang zum Gebäude wurde ich freundlich gefragt, ob man mal in mein Handtäschchen gucken dürfe. Das kannte ich von einem klassischen Konzert noch nicht. Aus Fußballstadien, logisch, und leider auch aus Jüdischen Museen oder beim Besuch von Synagogen, wo man durch einen Metalldetektor geht, seinen Rucksack durchleuchten lässt und den auch nochmal inspizieren lassen muss. Der St.-Jakobsplatz hier in München ist mit versenkbaren Pollern gesichert, damit kein Fahrzeug ans Museum oder die Synagoge fahren kann. Es kotzt mich so an, dass diese Mittel anscheinend notwendig sind, und es hat mich doch mehr beunruhigt als ich gedacht hatte. Die ersten fünf Minuten Beethoven waren jedenfalls verschenkt, aber als Levit zum ersten Mal die Tasten berührte, war alles wieder in Ordnung. Ich habe keine Ahnung, was seine Spielweise so besonders macht, aber mich hat er immer sofort in der Tasche.

Bei der Zugabe war ich mir nicht sicher: Beethoven? Brahms? Hatte er nicht gerade auf Insta mal wieder Brahms gespielt? Ein Zuschauer, der zur Pause hinter mir entlangging, verriet seiner Begleitung, dass es der zweite Satz der Pathétique gewesen war. Danke, unbekannter Wissender.

Nach der Pause plüschten die ersten beiden Sätze von Brahms’ 1. Sinfonie ebenfalls ein bisschen an mir vorbei, aber der dritte Satz hatte mich dann, und spätestens im vierten wollte ich, dass das Konzert noch ein bisschen länger dauern könnte. Dauerte es auch, weil es noch einen Mendelssohn als Zugabe gab und danach noch eine Runde lustiges Pizzicato des Orchesters, womit man sehr beschwingt und gut gelaunt aus dem Saal ging – und mir erst dann wieder die blöde Taschenkontrolle einfiel. Well played (haha).

Im vierten Satz kam plötzlich ein Motiv, das ich kannte und seitdem war mein Kopf ein bisschen zu sehr damit beschäftigt, sich zu fragen, aus welcher Fernsehsendung ich dieses Stückchen Melodie wohl kennen könnte. Google half in der U-Bahn nach dem Konzert: Es ist die Titelmusik des Hamburg-Journals. Wie passend. (Brahms Erste war das erste Stück, das in der Elbphilharmonie aufgeführt wurde. Hier das Motiv des vierten Satzes.)

In den ersten Sätzen, die, wie erwähnt, etwas an mir vorbeigingen, dachte ich über einen kleinen Absacker nach dem Konzert nach. Das Lokal direkt an der Isarphilharmonie würde überlaufen sein, alles auf dem Weg zur U-Bahn sprach mich auch nicht an, aber: Wir sitzen ja eh in der U3, von wo man entspannt in die U6 umsteigen kann, und die fährt einen bis fast vor die Tür des Tantris. Die dortige Bar hat bis 2 Uhr geöffnet. F. war leicht zu überzeugen, wir fuhren, traten ein, wurden begrüßt wie alte Freunde – „Sie waren jetzt aber schon mindestens ein halbes Jahr nicht mehr hier!“ –, was stimmte, denn im Februar hatten wir es uns hier zum letzten Mal gut gehen lassen. „Ich erinnere mich: Sie waren im DNA und wollten eigentlich schon gehen, sind dann aber doch noch auf einen Drink geblieben.“ Ich meine, es waren zwei, und auch gestern sollte es nur einer werden, aber es wurden drei. Und noch ein halbes Gläschen Chardonnay, der vermutlich gestern im Tantris in der Weinbegleitung des Menüs gewesen war. Denn der Sommelier kam kurz vorbei, begrüßte uns und brachte dann einfach was an den Tisch: „Mal sehen, ob euch das Spaß macht.“ Es ist nach Tohru anscheinend jetzt auch im Tantris so weit, dass wir geduzt werden und hier noch ein Gläschen und dort noch ein Gläschen angereicht bekommen, die nicht auf der Rechnung auftauchen.

Wir waren die letzten Gäste – „Keine Eile!“ –, ich gönnte mir ein Taxi, während F. noch einen Bus fand, der ihn nach Hause brachte, und ich war wieder halbwegs mit der Welt versöhnt. Es könnte alles so schön sein. Herrliche Musik, nette Menschen, ein freundlicher Umgang miteinander. Und stattdessen muss man über Attentate nachdenken, wenn man Beethoven hören möchte, der von einem Orchester aus Israel gespielt wird. Erneut: Es kotzt mich so an. Cocktails helfen zeitweilig, aber das scheint mir auch keine optimale Lösung zu sein.

Igor Levit: „Wo sind die Demos gegen Faschisten?“

Aus dem Merkur:

„Ich habe mich in den letzten Jahren immer wieder öffentlich zu politischen und gesellschaftlichen Fragen geäußert und mich klar positioniert. Gegen Menschenhass und deren Verursacher. Und was ist die Realität heute? 21 Prozent der Deutschen wollen Faschisten wählen. Also müssen wir irgendetwas falsch gemacht haben. Wir haben zu viele Menschen ganz offensichtlich nicht erreicht. Ich stimme mit dem Salzburger Festspielintendanten Markus Hinterhäuser vollkommen überein, der vor „Empörungsritualen“ warnt. Die Auseinandersetzung zum Beispiel mit der AfD muss eine andere werden. Wenn Sie so wollen, eine erwachsenere. Abgesehen davon setzt ein fataler Gewöhnungsprozess ein. Nach der Bundestagswahl 2017, als die AfD über 13 Prozent bekam, stand ich auf dem Berliner Alexanderplatz und habe mitgerufen „Wir sind die 87 Prozent“. Heute sind wir laut Umfragen die 79 Prozent. Gibt es überhaupt eine Demo dagegen, dass 21 Prozent der Deutschen Faschisten wählen wollen? In Israel zum Beispiel stehen Hunderttausende wöchentlich auf der Straße und demonstrieren für Rechtsstaat und Demokratie – das wären in Deutschland umgerechnet über zwei Millionen. Wo sind sie? Deshalb habe ich immer weniger Lust darüber zu reden, ob wir Künstler, wie Sie es hier formulieren „die Klappe aufmachen müssen“ – in einem Land, das in seinem Phlegma so viel toleriert.“