Was schön war, KW 34 – Arbeit und Essen

Arbeit tut gut. Also nicht nur die Kunstgeschichte, sondern auch die schnöde Werbung. Gerade habe ich mehrere kleine Jobs auf dem Tisch, die meinen Kopf in unterschiedliche Richtungen schicken, und das gefällt mir sehr gut. Es lenkt außerdem vom Norden ab, ich denke nicht ständig daran, ob alles in Ordnung ist.

Was sich dort schon verändert: das Mütterchen ruft öfter an als vorher, obwohl es gar nichts zu erzählen hat. Aber jetzt ist eben kein Ansprechpartner mehr für die kleinen Nichtigkeiten des Alltags im Haus, an den sie diese loswerden kann. Und, und das freut mich außerordenlich: Sie sagt Sätze wie „Wenn ich denn nach München komme …“ oder „Wenn ich wieder in die Oper gehe …“, was sie über zwei Jahre nicht sagen konnte.

Sehr interessiert gelesen: What if friendship, not marriage, was at the center of life? Der Untertitel, ein Zitat zweier Freundinnen, um die es auch geht, verdeutlicht, was der Kern ist: „Our boyfriends, our significant others, and our husbands are supposed to be No. 1. Our worlds are backward.“

Im Artikel wird das Konzept hinterfragt, alle Bedürfnisse, die man hat, auf ein einziges Paar Schultern zu legen, was mir immer sinnvoller vorkommt, je älter ich werde. Vermutlich denke ich eh nicht mehr ganz so in diesen engen Konzepten, seit ich weiß, dass ich mir selbst genüge. Wobei das natürlich einfacher ist, wenn man weiß, dass im Hintergrund genügend andere Menschen sind, denen ich auch genüge. Aber alleine die Idee abzuschütteln, man bräuchte jemand anderen, um sich selbst zu komplettieren, ist harte Arbeit, vor allem, wenn man sie jahrelang eingetrichtert bekommen hat.

Ich fand am Artikel auch spannend, dass sich das Konzept von Freundschaft über die Jahrhunderte verändert hat:

„Intimate friendships have not always generated confusion and judgment. The period spanning the 18th to early 20th centuries was the heyday of passionate, devoted same-sex friendships, called “romantic friendships.” Without self-consciousness, American and European women addressed effusive letters to “my love” or “my queen.” Women circulated friendship albums and filled their pages with affectionate verse. In Amy Matilda Cassey’s friendship album, the abolitionist Margaretta Forten inscribed an excerpt of a poem that concludes with the lines “Fair friendship binds the whole celestial frame / For love in Heaven and Friendship are the same.” Authors devised literary plot lines around the adventures and trials of romantic friends. In the 1897 novel Diana Victrix, the character Enid rejects a man’s proposal because her female friend already occupies the space in her life that her suitor covets. In words prefiguring Kami West’s, Enid tells the man that if they married, “you would have to come first. And you could not, for she is first.” […]

These friendships weren’t the exclusive province of women. Daniel Webster, who would go on to become secretary of state in the mid-1800s, described his closest friend as “the friend of my heart, the partner of my joys, griefs, and affections, the only participator of my most secret thoughts.” When the two men left Dartmouth College to practice law in different towns, Webster had trouble adjusting to the distance. He wrote that he felt like “the dove that has lost its mate.” Frederick Douglass, the eminent abolitionist and intellectual, details his deep love for his friends in his autobiography. Douglass writes that when he contemplated his escape from slavery, “the thought of leaving my friends was decidedly the most painful thought with which I had to contend. The love of them was my tender point, and shook my decision more than all things else.”

One question these friendships raise for people today is: Did they have sex? Writings from this time, even those about romantic relationships, typically lack descriptions of sexual encounters. Perhaps some people used romantic friendship as a cover for an erotic bond. Some scholars in fact suspect that certain pairs had sex, but in most cases, historians—whose research on the topic is largely confined to white, middle-class friends—can’t make definitive claims about what transpired in these friends’ bedrooms. Though we will never know the exact nature of every relationship, it’s clear that this period’s considerably different norms around intimacy allowed for possibilities in friendship that are unusual today. […]

Beliefs about sexual behavior also played a role. The historian Richard Godbeer notes that Americans at the time did not assume—as they do now—that “people who are in love with one another must want to have sex.” Many scholars argue that the now-familiar categories of heterosexuality and homosexuality, which consider sexual attraction to be part of a person’s identity, didn’t exist before the turn of the 20th century. While sexual acts between people of the same gender were condemned, passion and affection between people of the same gender were not.“

Mit diesem Artikel guckte sich die Mini-Serie „It’s a sin“ noch schmerzlicher weg, als es eh schon war. Trotzdem große Empfehlung.

Ich erwähnte letzte Woche, wie gerne ich die Serie „High on the hog“ geschaut hatte, die auf dem gleichnamigen Buch beruhte. Ich zitiere mich selbst und möchte festhalten, dass ich durchaus das Gefühl hatte, die Formulierung sei sehr an der Grenze zur Bettelei: „Das Buch […] liegt auf meiner Merkliste. Es steht hier nur in einer Fachbereichsbibliothek, ich kann es aber nicht ausleihen.“

Seit Donnerstag liegt es stattdessen hier, und die Botschaft der freundlichen Schenkerin lautete: „Der Wink mit dem Zaunpfahl wurde verstanden :-)“ (Hier die errötende Anke vorstellen.) Vielen Dank, ich habe mich sehr gefreut.

Diese Woche war die erste in diesem Jahr, in der ich ein frisch gezapftes Bier in der Gastronomie genießen konnte. (Okay, fünf.) Bei allen Gästen wurde ein Impfzertifikat kontrolliert. Das Obacht ist eben ein guter Laden.

Mehrere Tweets wiesen mich diese Woche auf die unterschiedliche Inzidenz für Geimpfte und Ungeimpfte hin, hier in Bayern waren das laut Tweet in der vorletzten Woche 5,75 versus 58. Ich suchte ein bisschen nach Infos und fand diese Pressemitteilung der bayerischen Staatsregierung, in der die aktuellen Inzidenzen (gerundet) lauten: Bei Geimpften 9, bei Ungeimpften 111. Na bravo.

Ich las zusätzlich einen der wöchentlichen Situationsberichte des RKI, bei dem ich verschreckt feststellte, dass bei den Menschen unter 60 Jahren noch satte 35 Prozent nicht geimpft sind. Was ist mit den Leuten?

In Berlin läuft derzeit im DHM eine Ausstellung zu den sogenannten „Gottbegnadeten“, also Künstler*innen, die Hitler als wertvoller als den Rest ansah und die zum Beispiel nicht eingezogen werden konnten. Die Ausstellung zeigt verschiedene Lebenslinien und verweist auf die Nicht-Zäsur von 1945.

Der Katalog wird mich nächste Woche erreichen, bis dahin verweise ich auf den folgenden Monopol-Artikel, der natürlich totales Wasser auf allen meinen Mühlen ist.

„Einige der Künstler durften dann sogar NS-Gedenkstätten ausgestalten. So etwas wurde nicht kritisiert?

Nein, und das ist wirklich bemerkenswert. Anfang der 1960er gestaltete Willy Meller eine Monumentalskulptur für das erste westdeutsche NS-Dokumentationszentrum, in Oberhausen. Die Entrüstung darüber blieb aus, erstaunlicherweise, denn Meller war einer der erfolgreichsten Bildhauer im Nationalsozialismus gewesen. Er wurde unter anderem mit der Bauplastik für NS-Ordensburgen oder dem KdF-Seebad Prora beauftragt. Dass dieser Künstler eine figürliche Plastik vor diesem Dokumentationszentrum errichten durfte, das war einer der Momente während der Recherche, in denen ich dachte, ich werde bekloppt. Kunst war im Nationalsozialismus sehr populär. Es gab viele Ausstellungen, Kunstzeitschriften, Postkarten, Kunstdrucke – in Sachen Merchandising waren die Nationalsozialisten wirklich durchaus modern. 1962 müssen viele Leute gewusst haben, wer Willy Meller ist. Trotzdem gab es keinen Widerspruch.“

In meiner Diss verweise ich auf die Vorarbeiten, die Protzen – 20 Jahre nach seinen Arbeiten für die Reichsautobahn – für die Bundesautobahn leistete, zu denen ich leider nichts in den Archiven finden konnte, was über die wenigen Schriftstücke im Nachlass hinausging. Das Volkswagenwerk kaufte bereits 1950 mehrere Werke von Erich Mercker, die Kopien oder Varianten zweier Werke von 1936 und 1939 waren. VW nutzte zusätzlich ein Gemälde Werner Peiners, einer der Gottbegnadeten, als Hintergrund für eine Bulli-Werbung; die Werbung erschien Anfang der 1950er-Jahre, das Gemälde stammte aus der Zeit zwischen 1936 und 1938.

Ich habe mich sehr über eine Reply gefreut.

Die cool people unter uns wissen natürlich, dass das ein Zitat aus „Tristan und Isolde“ ist. Sehr gelacht, vielen Dank an den Autor.

Gestern hatte der FC Bayern sein zweites Heimspiel in dieser Bundesligasaison. Zufällig waren F. und ich draußen unterwegs und trafen auf einige Fans mit Schals. Das hatte ich auch schon lange nicht mehr gesehen: Menschen, die offensichtlich zu Fußballspielen gingen. Das war schön.

Der Wochenhöhepunkt war der gestrige Abend, denn F. führte mich mal wieder groß aus. Es ging in den Salon Rouge, für den bzw. dessen Vorgängerwirkungsstätten Tohru Nakamuras wir mehrere Reservierungen hatten, aber dann, na ja, Sie wissen schon. Statt im Mai 2020 oder im Dezember 2020 saßen wir halt jetzt in seinem Restaurant, ich freute mich über die Kontrolle des Impfstatusses und die laut Website vorhandenen H14-HEPA-Filter, wir schlemmten daher kaiserlich.


Eine knusprige Schale, Tomatenschaum, Wasabi und Kaviar. Der perfekte Bissen: knusprig, weich, kühl und gleichzeitig gefühlt warm durch den Schaum, scharf und mild. Genau das finde ich so irre an Nakamura: In jedem Bissen ist alles.


Ein kaltes, festes Tomatenviertel, darunter weiche Aubergine, darauf knusprige Kombu-Alge und ein kleines Scheibchen Habanero.


Die beste Tomate, die ich je hatte. Unter ihr Lachsforelle und Chawanmushi, eine Art Eierstich.


Bachforelle, Gurke, Verbene und Kapuzinerkresse. Irgendwo war noch Ingwer, und ich erinnerte mich wieder daran, wie großartig Ingwer zum Gurkensalat schmeckt. Ja, profan bei einen derartig schönen Teller, aber ich bin alt, ich vergesse manchmal, was mir gut geschmeckt hat. Deswegen muss ich essen gehen, um daran erinnert zu werden. Win-win!

Mit diesem Gang begann auch die Weinbegleitung, die, natürlich, natürlich, großartig war.


Huch, schon ein Fleischgang? Ozaki Wagyu mit Rettich, Grünkohl (alle Influencer haben mich für „kale chips“ verloren), Meerrettich und Beurre blanc. Ich hätte das Fleisch fast mit etwas weniger drumrum auf dem Teller haben wollen, aber das ist Meckern auf sehr hohem Niveau.


Der Gang nannte sich „Münchner Umland“, wir kommen also aus Japan kurz wieder nach Hause. Er war vegetarisch, bestand aus Artischocke, Karotte und Thai-Basilikum mit Safrandressing, das einem schon entgegenduftete, als der wie immer hervorragende Service sie frisch auf den Teller tropfte. Das fand ich sehr erfrischend, ein schöner „palate cleanser“.


Schlimmstes Gefäß, tollster Wein. Auf dem glitzendern Wulst, das sich Teller nennt, lag ein perfekt gegartes Stück weißer Heilbutt, darauf drei Muscheln, die mit Soja glasiert wurden, darunter ein Reisrisotto mit Pilzaioli. Der Wein dazu war die Premiumvariante der Weinbegleitung, die F. dringend haben wollte und ich habe so gar keine Gegenwehr geleistet. Ein Chardonnay aus dem Burgund, den wir laut Sommelier erstmal ein paar Minuten atmen lassen sollten. Kein Problem, wir haben Zeit. Er veränderte sich quasi mit jedem Schluck und jedem begleitenden Bissen und war einer der tollsten Weine, die ich je getrunken habe.


Der Hauptgang waren zwei Stücke Kotelette vom Pyrenäenschwein, dazu gab es gerösteten Mais und ein Bohnencassoulet, das auch am Tisch blieb, damit man das kleine Kupfertöpfchen leeressen konnte, was wir pflichtschuldig erledigten. Der Pinot Noir aus dem Burgund dazu war wieder ein Premiumweinchen, und ich gestehe, dass ich gewimmert habe, als das wirklich komplett leergeatmete Glas abgeräumt wurde, ich hätte es gerne in den Arm genommen. Ein unglaublicher Wein.


Das Fiese an den Sternengängen ist bei mir immer: Bei Gang 3 denke ich, OMG wir sind schon halb durch, wie haben doch gerade erst angefangen, aber beim ersten Dessert bin ich dann so erledigt, dass ich geistig abschalte. Daher habe ich zu diesem Gang – Melone, Earl-Grey-Geliertes, marinierte Blaubeere und Pistazienblättchen – kaum etwas beizutragen. Ich habe mich nur etwas geärgert, dass aus dem schönen Tageslicht inzwischen ein arg schummeriges Halbdunkel geworden war, das mich die vielen lustigen Baisertröpfchen und Kleckse und Dekoblümchen nicht mehr recht erkennen ließ. Das Restaurant ist nur noch bis Oktober in der vorläufigen Location im Werksviertel, danach warten wir alle brav, bis das Innenstadtgebäude renoviert wurde. Daher rechne ich beim nächsten Besuch wieder mit besserem Licht.


Das zweite Dessert haben sowohl F. als auch ich eher verwackelt bis gar nicht fotografiert, das war ein lustiges Wassereis mit Yuzu. Das hier war einmal Haselnusseis (TEAM HASELNUSS!) und davor … äh … irgendwas. Ich glaube, Himbeere. Ich war durch.

Zum Abschluss gab’s statt Espresso für uns einen äußerst weichen japanischen Whisky, dann schaukelten wir mit S- und U-Bahn nach Hause und fielen ohne große Umstände ins Bett. Essen ist anstrengend, aber irgendwer muss es ja machen.

Gute Woche, diese Woche.

Leserinnenpost

Gestern erreichte mich ein elektronisches Schreiben, in dem mir eine Leserin mitteilte, dass sie mein Blog nun nicht mehr verfolgen möchte, weil ich einen Menschen, der sich nicht impfen lassen möchte, als „störrisch“ bezeichnet habe.

Falls eine:r von euch da draußen eventuell auch nicht mehr mitlesen möchte, sich aber nicht ganz sicher ist, vielleicht bin ich ja doch innerlich total verständig und das war ein Ausrutscher, formuliere ich das als kleinen Service nochmal anders: Ich halte Menschen, die sich nach 18 Monaten Pandemie, mehreren sicheren und wirksamen Impfstoffen, die inzwischen großflächig und meist ohne längere Wartezeit verfügbar sind und diversen Studien über die Schäden, die eine Erkrankung mit COVID-19 mit sich bringt, immer noch nicht nicht impfen lassen, obwohl sie es könnten und damit nicht nur sich, sondern auch alle Menschen in ihrer Umgebung schützen könnten, für rücksichtslose Egoist:innen.

Was schön war, KW 33

Letzte Woche war die Inzidenz hier in München noch in den 30ern, jetzt sind wir seit Tagen über 50 und so langsam habe ich das Gefühl, es wird allen allmählich egal. Fast egal, denn das Restaurant, für das F. und ich am Samstag eine Reservierung haben, zeigte heute auf Insta eine Texttafel, dass nur Geimpfte, Genesene und Getestete reinkommen, was mir den Aufenthalt in einem Innenraum sehr erleichtern wird.

Ich hoffe eh darauf, dass das der Weg sein wird, auch noch die vorletzten zum Impfen zu bekommen: Wenn man nirgends anders mehr reinkommt, ist der Weg zur Ärztin und zur Spritze vielleicht einfach bequemer als sich ständig testen lassen zu müssen.

Das ist allerdings auch nur eine vage Hoffnung. Am Freitag waren F. und ich auf einer Hochzeit im engsten Familienkreis; bis auf die wenigen Minuten im Standesamt fand alles im Garten des Brautpaars statt, aber ich wusste, dass einer der Anwesenden sich störrisch weigert, sich impfen zu lassen, weswegen ich äußerst unentspannt war und nach immerhin fünf Stunden auch nach Hause fuhr. Im Zug, wo ich nicht weiß, ob irgendjemand geimpft ist. Es ist alles Quatsch.

Aber es war auch vieles schön.

Nach Monaten traute ich mich endlich mal wieder in ein Museum, genauer gesagt, in die Pinakothek der Moderne. Seit 2020 sind dort drei Grossbergs als Dauerleihgabe vorhanden – und ich wusste sogar nur von einem. Ich fiepste daher glücklich unter meiner Maske, als ich gleich drei Gemälde vor der Nase hatte.

An der Nachbarwand hingen zwei Radziwills, von denen ich nur einen im Kopf hatte, keine Ahnung, ob das andere Werk auch schon länger hängt oder hing. Egal, gern gesehen.

Sehr gefreut habe ich mich über ein Wiedersehen mit einem meiner liebsten Kanoldts, dem Halbakt II, und dem Mädchen mit Schmuck von Wilhelm Lachnit. Zwischen den beiden hängt derzeit eine großformatige Fotografie von Cindy Sherman. Die Räume, die sonst meine liebsten im Museum sind – Neue Sachlichkeit, der seit letztem Jahr nicht mehr existente Saal 13 mit der Kunst aus der NS-Zeit, bye-bye Protzen, ich konnte mich nicht von dir verabschieden, sowie die Expressionist:innen –, sind derzeit durchmischt mit Werken der zeitgenössischen Kunst. Bei derartigen Ausstellungen weiß ich nie so recht, wem das eigentlich zugute kommt: Für mich sehen die frühen Arbeiten oft irre revolutionär aus und das Neue wie ein billiger Abklatsch. Aber auch hier, egal, endlich wieder Kunst gucken, und mich über Kiki Smith und ein Werk von Louise Bourgeois gefreut, das ich schon aus der Sammlung Goetz kannte, und über die Paper Drops von Tillmans.

„Howl“ von Kapoor geht übrigens bis unter das Glasdach des Museums. Im Vordergrund ist die graue Brüstung der Rotunde zu sehen, kein Pixelfehler. #nofilter

Es ist nicht mehr so irre heiß. Radfahren war schön, weiterhin abends einen Negroni auf dem Balkon zu trinken war auch schön. Teilweise habe ich morgens unter der Stadiondecke auf meinem Sofa im Arbeitszimmer den ersten Kaffee getrunken und durch die geöffnete Balkontür ins Grüne geguckt.

Frau Mayröcker knows best.

Am Samstag übel mit Wein und F. abgestürzt, es war herrlich.

Auf Netflix gibt es die erste Staffel von „High on the Hog“ über die Ursprünge der afroamerikanischen Küche, die – natürlich – in Afrika lag. Moderator Stephen Satterfield, der durch die Sendung führt, ist mir einen Hauch zu uncharismatisch und seine Beschreibungen der Mahlzeiten, die er genießt, sind etwas zu eindimensional – „mmmh, that’s good“ ist mir ein bisschen zu dünn –, aber seine Gesprächspartner machen das wieder wett. Mir hat vor allem die Folge zum Reis Carolina Gold gefallen – mir war nicht klar, dass der Reisanbau (durch Sklav:innen) einige der Südstaaten reich gemacht hatte.

Das Buch von Jessica B. Harris, auf dem die Serie beruht, liegt auf meiner Merkliste. Es steht hier nur in einer Fachbereichsbibliothek, ich kann es aber nicht ausleihen.

Von meiner Schwester in Niedersachsen gelernt: Laugencroissants sind ein Ding.

Ein Buch geschenkt bekommen: „Einstürzende Reichsbauten“, eine Publikation zur neuesten Ausstellung von Henrike Naumann, die ich bekannterweise sehr schätze.

Sie kommt auch in der Sendung „Propaganda aus Stein“ zu Wort. Ich verzeihe mal kurz den albernen Titel; Steine sind erstmal Steine und ein Haus ist erstmal ein Haus und einem Gebäude einzuschreiben, dass es eine Ideologie transportiert, ist genau die Idee, die die Nationalsozialisten in ihrer Literatur verbreiteten. Der Titel führt hier also einen NS-Gedanken brav fort und es macht mich allmählich irre.

Ich mochte an der Sendung aber, dass verschiedene Stimmen zu hören waren: Die einen, die sagen, zum Beispiel die Reichstagsbauten in Nürnberg sollten doch bitte abgetragen werden, weil an ihnen die Ideologie nun doch recht deutlich abzulesen ist, und andere, die sagen, dass es nett ist, dass man dort nach Feierabend ein Bierchen trinken kann und genau das nicht tut, was dort in den 1930er-Jahren gemacht wurde, nämlich in Reih und Glied zu marschieren. Eine Meinung fand ich sehr überzeugend: Wenn wir alle Gebäude einebnen, wird das Überwältigungspotenzial dieser Bauten – und im zweiten Schritt der Partei – den Nachgeborenen nicht mehr klar. Kein Buch, kein Foto, kein Google-Arts-Pixel-Denkmal kann das Gefühl ersetzen, vor diesen Klötzen zu stehen.

Ich versuche hier einen Schlenker zum abgerissenen Palast der Republik, aber ich habe mich zu wenig mit DDR-Architektur befasst, um da ernsthaft etwas sagen zu können. Ich mochte einen Insta-Beitrag von Olly Wainwright sehr gerne, der gerade durch Berlin spaziert: Von ihm weiß ich jetzt, dass es den Palast der Republik noch als Schlüsselanhänger im albernen, überflüssigen und ärgerlichen Humboldt-Forum gibt, das nun an seiner Stelle steht.

Das Programm für eine Tagung im ZI im Oktober zu Kunst im NS ist raus. Mein Winzvortrag steht auch schon.

Ebenfalls gern gesehen, weil informativ, nicht weil’s so erbaulich war: die vierteilige ARD-Serie über das heutige Afghanistan. Wir fangen zwar erst in den 1960er Jahren an, aber es erklärt einiges über den Zustand des Landes.

Zu diesem Thema: „What I Learned While Eavesdropping on the Taliban.“

Im Bücherflohmarkt im Haus, also der Ecke im Hausflur, wo alle ihren noch brauchbaren Kram ablegen, den sich jemand anders einfach mitnehmen kann, lag ein Buch über Marianne von Werefkin. Meins.

Meine Eltern haben jetzt Internet. Dass ich das noch erleben darf.

Schullektüren

In meiner Ecke des Internets erinnern sich gerade einige Menschen an die Bücher, die sie in der Schule lesen mussten oder durften. Ich habe bei einem meiner letzten Umzüge endgültig die ganzen kleinen gelben Reclams verklappt, die ich seit 30 Jahren mit mir rumschleppe, daher vergesse ich vermutlich vieles. Das hier wird auch keine vollständige Liste, ich wollte einfach mal nachdenken, was mir noch einfällt – und ob die Lektüren einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben.

Hermann Hesse, „Unterm Rad“

Ich weiß noch, wie bedrückend ich dieses Buch fand, aber ich erinnere mich hauptsächlich an diese Lektüre, weil wir eine Vertretungslehrerin hatten, mit der ich nicht warm wurde. Dieses Halbjahr war das einzige, wenn ich mich richtig erinnere (also vermutlich nicht), in dem meine Deutschnote schlechter als 2 war, weil ich keine Lust hatte, mich zu beteiligen.

Es hat mir Hesse allerdings nicht verleidet, in meinem Regal finden sich bis heute mehrere Werke von ihm. Ich habe „Narziss und Goldmund“ in China gelesen, im Urlaub. „Das Glasperlenspiel“ steht hier bis heute unberührt, und an den „Steppenwolf“ kann ich mich nicht erinnern, nicht mal, ob ich ihn durchgelesen habe. Vermutlich eher nicht. Könnte man mal reingucken.

Bertolt Brecht, irgendwas. Vermutlich „Mutter Courage und ihre Kinder“, keine Erinnerung. Im Schultheater haben wir einige Szenen aus „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ aufgeführt. Auch hier hat die Schule mir den Autor nicht verleidet. Gerade beim Gang am Regal entlang dachte ich: Könnte man mal wieder reingucken.

Max Frisch, „Homo Faber“.

Oder „Andorra“? Ich weiß es nicht mehr, aber Frisch mag ich bis heute gerne. Oder: Ich glaube, ich mag ihn gerne, ich habe jedenfalls danach noch einiges von ihm gelesen, und ein Schuber mit seinen gesammelten Werken steht im Regal. Könnte man mal wieder reingucken.

Goethe, „Faust I“

Ich meine, dass wir den 2. Teil auch noch angefangen haben, aber wenn, dann habe ich da nur Königs Erläuterungen quergelesen. „Faust“ war Thema meiner Abiklausur im Deutsch-Leistungskurs. Ich habe danach auch noch mehrere Werke von Goethe gelesen, aber ein Liebling wird er nicht mehr werden. Viel spannender fand ich seine Biografie und den Besuch seines Wohnhauses, den ich noch zu DDR-Zeiten erlebte – auf einer Gruppenreise von Jugendlichen aus dem Landkreis Hannover in den Süden der DDR, die ich dreimal mitmachte. Das Goethehaus in Weimar sah ich nur einmal, die Gedenkstätte Buchenwald oberhalb der Stadt allerdings auf allen Fahrten. Daher ist Goethe fieserweise in meinem Kopf immer sehr mit deutscher Geschichte verbunden. Sein Frankfurter Haus besuchte ich ebenfalls vor einigen Jahren, was mir erst wieder einfiel, als ich nach dem Stichwort „Buchenwald“ im eigenen Blog googelte.

„Die Leiden des jungen Werther“ lasen wir auf jeden Fall, aber ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern, ob mir das Buch gefiel.

Jakob Wassermann, „Das Gold von Caxamalca“

An das Buch kann ich mich überhaupt nicht erinnern, aber an die Reaktionen meiner Klasse darauf. Ich weiß den Jahrgang nicht mehr, aber irgendein Deutschlehrer hatte mal die eigentlich gute Idee, uns über die nächste Lektüre abstimmen zu lassen. Einige Freiwillige lasen daher Bücher und stellten sie der Klasse vor, diese stimmte dann ab, was alle lesen würden. Ich stellte „Das Gold von Caxamalca“ anscheinend spannender vor als irgendwer das rosa Kaninchen, das von Hitler gestohlen wurde (bis heute nicht gelesen), und so lasen wir alle Wassermann. Und alle fanden es fürchterlich langweilig. Außer mir. Ich hätte viel früher merken müssen, wie gut ich werben kann.

Friedrich Schiller, „Don Carlos“

„Geben Sie Gedankenfreiheit!“ Mehr weiß ich nicht mehr. Aber an das Reclamheft erinnere ich mich noch, das bestand quasi nur aus fünf verschiedenen Textmarkerfarben. Schade, dass ich es weggeschmissen habe.

Ich bin mir sicher, dass ich von Kafka in der Schule etwas gelesen habe, vermutlich einige der kürzeren Erzählungen. Nicht die „Verwandlung“, keinesfalls einen der Romane. Ich wüsste sonst nicht, wie ich an Kafka herangekommen sein könnte wenn nicht in der Schule. Sein Gesamtwerk steht bei mir im Schrank. Danke, Schule.

Horvaths „Jugend ohne Gott“. Auch hier: danke, Schule, Horvath ist großartig. Es folgten viele Theaterbesuche und weitere Bücher.

Theodor Fontane, „Irrungen, Wirrungen“

Keine Erinnerung, außer: langweilig. Ich habe Fontane danach noch Chance um Chance gegeben, weil mich das 19. Jahrhundert irgendwann interessierte, aber ich glaube, ich habe außer der Schullektüre nichts mehr von ihm beendet. Auch nicht „Effie Briest“, mehrfach begonnen, irgendwann nicht mal mehr quergelesen, einfach auf dem Kindle ignoriert.

Lenz’ „Deutschstunde“? Oder hab ich das privat gelesen?

Vermutlich gelesen: Theodor Storms „Der Schimmelreite“, danach las ich noch freiwillig „Pole Poppenspäler“, aber mehr wollte ich dann nicht lesen. („Es muss was Lebendiges in den Deich!“ ist allerdings ein Krachersatz.) Ich meine, den „Zerbrochenen Krug“ von Kleist gehasst zu haben und ich kenne auch nichts anderes von ihm. Büchners „Dantons Tod“ könnten wir gelesen haben. Ich erinnere mich auch an „Frühlingserwachen“ von Wedekind, aber das mag eine Theateraufführung als Schulbesuch gewesen sein. „Nathan der Weise“?

An englische Lektüre aus dem Leistungskurs erinnere ich mich noch weniger. Ich behaupte „Of Mice in Men“ in der Schule besprochen zu haben, und von Herrn Steinbeck stehen hier noch … Moment, ich gehe zählen … fünf weitere Bücher im Regal, unter anderem natürlich „Grapes of Wrath“. Da hat die Schule solide Grundlagenarbeit geleistet.

Im Hinterkopf sind noch Arthur Millers „Death of a Salesman“ (toll) und Tennessee Williams’ „The Glass Menagerie“ (mir egal). Ich glaube, wir haben ein paar Shakespeare-Verfilmungen angeschaut, und ich habe „Romeo and Juliet“ zu Schulzeiten gelesen, aber vermutlich freiwillig. „Room at the top“ steht hier und sieht nach Schullektüre aus, aber ich habe keinerlei Erinnerungen daran.

Jetzt denke ich über die Frauenquote bei Schullektüre nach.

Für mich spannend: die Aufzählung bei Kittykoma, die in der DDR aufwuchs. Viele der dort genannten Bücher stehen bei mir als Leipziger Reclam-Ausgabe im Regal, für die ich die zwangsumgetauschten Ostmärker ausgab.

Was schön war, KW 32

Das Schönste, und ich hoffe, das war korrekt so, war, dass es meiner Mutter gut genug ging, um meine Hilfe nicht zu benötigen. Sie sagt immer, dass alles in Ordnung ist, aber ich frage trotzdem lieber meine Schwester, ob das auch stimmt. Dieses Mal schien es zu stimmen. Ich musste nicht in den Norden fahren, kam so um den Bahnstreik herum und konnte mal wieder etwas konzentrierter arbeiten als in den vergangenen Wochen.

Die letzten Abende, bevor es 30 Grad wurden, saß ich abends alleine auf meinem Balkon, starrte stumm zum Tagesabschluss ins Grüne oder die Mondsichel an und trank dazu einen Negroni. Das war sehr schön.

Mein Ventilator. Das Marvel Cinematic Universe. In diesem Zusammenhang: F.s Disney+-Abo. Der erste Bundesligaspieltag – mit Menschen in Stadien! Das klang so herrlich. Augsburg verlor 0:4 und es war total egal.

Ausgelesen: Käsebier erobert den Kurfürstendamm von Gabriele Tergit. Ich mochte von ihr ja schon die Effingers sehr – wenn Sie sich vielleicht dieses kleine Buch als Einstieg kaufen würden? Es lohnt sich, gerade wenn man sich für die Zeit Ende der 1920er, Anfang der 1930er-Jahre interessiert und gerne eine spannende Sprache liest. Es ist weitaus weniger ausschweifend und beschreibend als die Effingers, sondern wirft eher Schlaglichter auf die Zeitungsbranche, das Publikum, Bürgerlichkeit, politische und wirtschaftliche Entwicklungen sowie Geschlechterbeziehungen. Sehr viel drin; gerne gelesen.

Was schön war, KW 31

Am Mittwoch vor einer Woche saß ich platt und erschöpft im ICE von Hannover nach München. In manchen Zügen hängen Monitore an der Decke, auf denen neben launigen Werbeanzeigen der nächste Halt eingeblendet wird, immer garniert mit irgendeinem generischen Bild der Stadt, in der man demnächst ankommt. Zwischen Würzburg und Nürnberg guckte ich so dauernd auf ein Foto des Dürer-Hauses – und auf das Selbstbildnis im Pelzrock, das in der Alten Pinakothek hängt. Das kenne ich natürlich in- und auswendig, aber ich habe es selten so beruhigend gefunden wie an diesem Tag. Danke, Albrecht, 500 Jahre später.

Als ich nach Hause kam, fand ich zwei Buchgeschenke vor, über die ich mich sehr gefreut habe. Danke für Käsebiers Eroberung des Kurfürstendamms und ein neues Backbuch; sie sind beide schon in Benutzung.

Was ich außerdem vorfand, war eine Glückwunschkarte von F., der mir zum Abschluss meiner Promotion gratulierte. Die Abgabe der Diss sowie die Verteidigung hatten wir ausgiebig feiern können. Der letzte Schritt, die Abgabe des Buchmanuskripts, ging völlig in meiner hektischen Zugfahrt nach Hannover unter. Mir war es ernsthaft nicht mal aufgefallen, dass ich jetzt mit allem durch bin. Keine Zeit.

Am Donnerstag konnte ich wieder mit F. einschlafen. Da meine innere Uhr noch auf norddeutscher Zeit stand, waren wir, glaube ich, gegen 21.30 Uhr im Bett.

Ich erwähnte im letzten (?) Blogeintrag, dass meine vier Balkonkräuter meine längere Abwesenheit nicht überlebt hätten. Nun: Rosmarin und Thymian kriegt anscheinend nichts kaputt, das Basilikum blüht eher als dass es Blätter hat, aber das ist mir gerade egal, und aus den vielen gelblichweißen, vertrockneten Ärmchen der Petersilie gucken erstaunlicherweise ein paar frische grüne Zweige hervor. Nature is healing.

Am Freitag führte mich F. nach zehn Monaten mal wieder in ein Sternerestaurant. Er hatte endlich seit letzter Woche einen vollständigen Impfschutz, und da wir beide damit rechnen, dass eine weitere Welle Restaurantbesuche wieder erschweren wird, erledigten wir das jetzt. Wir waren erstmals im Sparkling Bistro, von dem wir zu meinem Geburtstag ein ganz hervorragendes Essen zuhause genossen hatten.

Ich nahm einen Bus bis zur Türkenstraße und ging die letzten 400 Meter zu Fuß. Die Türkenstraße liegt im Univiertel und besteht in der Ecke bis zum Restaurant quasi aus einer Kneipe neben der nächsten, dazwischen liegen Cafés und Bäckereien. Es war ein warmer Sommerabend, alle Bürgersteige standen mit Tischen und Tischchen voll, lauter gut gelaunte Menschen aßen und tranken. Was mich vor wenigen Monaten noch hätte panisch werden lassen – MENSCHEN! OHNE MASKE! IN MASSEN! – tat mir jetzt sehr überraschend sehr gut. Es fühlte sich, Achtung, das böse Wort, normal an. Ein normaler, schöner Sommerabend in München, wie selbst ich Sommerverächterin ihn mag. Was so eine Impfung für einen Unterschied macht.

F. ging es leider nicht ganz so, er ist immer noch deutlich angespannter als ich. Keine Ahnung, ob es daran liegt, dass ich in den letzten Wochen in so vielen Zügen gesessen habe, dass mir ein Gang durch eine belebte Straße nicht mehr so viel ausmacht, ich weiß es nicht. Ich stellte nur freudig überrascht fest, wie schön das war, dort entlangzugehen und sich auf einen Restaurantbesuch zu freuen.

Der war dann noch toller als erwartet. Mein Lieblingsgang war gleich der erste, aber ich fand alle großartig. Ich war im wahrsten Sinne des Wortes ausgehungert.

Kohlrabi mit Mohn, Brokkoli mit Senfsaat, hab ich vergessen, Spargel mit Kaffee (!).

Pilze mit Erbsen und Specksauce. Klingt so simpel, war aber der Kracher.

Zander mit Blumenkohl und Zitrone.

Tiroler Flusskrebs mit Lammbries, Mandel und Kopfsalat. Mein Foto wird dem feinen Gang überhaupt nicht gerecht.

Laaer Zwiebel mit Käse, Roggen und Fenchel.

Mostviertel Wagyū mit N25 Kaviar, Artischockenpüre und Jus gras. Das war einer der Gänge, die man schweigend genießt. Das Fleisch!

Johannisbeeren mit Meringue, Mandel und Vanille. Wie bei Oma und so sollte es auch sein.

Ingwereis mit Kaffee, glaube ich.

Danach gab’s zu zwei kleinen Pralinchen für mich einen Haselnussbrand, für F. einen aus der Vogelbeere, beide vom Sammerhof, den wir jetzt leerkaufen müssen, und danach spazierten wir äußerst gut gelaunt nach Hause. Vorneweg hatten wir einen Negroni, auch völlig vergessen, wie gut das Ding schmeckt. Sehr gerne wieder.

KW 31 – Keine passende Überschrift

Das Konstrukt, dass eine 81-Jährige für die Pflege eines 83-Jährigen verantwortlich ist, war seit Monaten fragil, vor allem, wenn dieser 83-Jährige geistig und körperlich immer mehr abbaut. Es hatten auch ausnahmslos alle Menschen, die davon Ahnung haben, Ärztinnen, Pfleger etc. in der Reha, in diversen Praxen und schon im Krankenhaus 2019 direkt nach dem Schlaganfall von Papa von Anfang an gesagt, dass Vaddern eigentlich zu krank ist, um zuhause adäquat versorgt zu werden. Bei solchen Ansagen wird das Mütterchen aber leider sehr schnell sehr bockig und bekommt so ein „Das wollen wir doch mal sehen“-Glimmen in den Augen.

In den letzten zweieinhalb Jahren retteten wir uns quasi von Monat zu Monat. Eine örtliche Pflegeeinrichtung versorgt Papa dreimal am Tag ganz hervorragend, und den Rest des Tages ist das Mütterchen da. Einmal im Monat komme ich für eine Woche, jedenfalls theoretisch, damit sie mal ausschlafen oder zu Ärzten kann und nicht kochen muss. Theoretisch, weil: Corona, Inzidenzen, Zugfahren uswusf., Sie kennen das, Sie waren dabei. Meine Schwester unterstützt beim Papierkram, der Schwager hilft im Garten, die Nachbarn sind da, Dorf halt, das ist schon super. Aber im Prinzip ist meine Mutter seit zweieinhalb Jahren im Dauerdienst. An miesen Tagen weiß sie das auch, dann legt sie heulend am Telefon auf, wenn man vorsichtige Kritik an irgendwas anbringt und sagt Dinge wie: „Du weißt ja nicht, wie das ist, wenn man zweieinhalb Jahre eingesperrt ist.“ Bis jetzt ist mir noch nie rausgerutscht: „Das war deine Idee, kein Mensch auf diesem Planeten verlangt das von dir, und wir schon gar nicht“, aber ich konnte mich bis jetzt immer beherrschen.

Daher war der sofortige Modus, als sie Dienstag vor einer Woche anrief und sagte, sie müsse ins Krankenhaus, auch: Ich buche einen Zug, packe hektisch meinen gerade ausgepackten Koffer wieder ein und übernehme. Dieses Mal konnte ich mich innerlich nicht ganz so stählen wie sonst, weswegen alles noch unvermittelter über mich hereinbrach, aber immerhin: Geheult habe ich erst am Telefon, als meine Mutter aus dem Krankenhaus anrief mit der üblichen Grabesstimme. Und dieses Mal rutschte dann auch alles raus, was ich mir seit zweieinhalb Jahren verkneife bzw. was seit einigen Monaten, wo Papa und nun auch Mama deutlich abbauen, ganz vorne auf der Zunge liegt.

Auch die Pflegenden sind am Ende ihrer Kräfte angelangt, wirklich jede und jeder legt Mama nahe, Papa nun doch in ein Pflegeheim zu geben, wo er besser versorgt werden kann, Schwester, Schwager und ich sammeln seit Monaten Argumente, die man ihr liebevoll und vorsichtig vortragen kann, vielleicht bei einem gemütlichen Beisammensein im Wohnzimmer, mit Kuchen, in Ruhe, aber wir drückten uns genauso lange um eine Aussprache, weil wir nicht das „Das wollen wir doch mal sehen“-Glimmen herausfordern wollten. Nun war der Punkt aber gekommen, an dem das wackelige „Das geht schon irgendwie“ sehr wankte, und so spulte ich heulend alles ab, was im Hinterkopf war, verschwitzt und überfordert im alten Kinderzimmer, und das Mütterchen mit Medikamenten vollgepumpt im Krankenhaus bekam es ungefiltert ab. Wir weinten beide, und irgendwann kam ein gepiepstes „Ich glaube, ihr habt recht.“

In der letzten Woche suchten Schwester, Schwager und ich per Telefon, Internet und Beziehungen einen Platz fürs Väterchen, und weil das Universum irgendwas wieder gutmachen will, fanden wir zunächst einen Kurzzeitpflegeplatz und haben Aussicht auf einen Dauerpflegeplatz. Schwester und ich hatten uns mehrere Heime angeschaut, hatten telefoniert und gemailt und noch mehr telefoniert, aber ich konnte mich Mittwochmittag in den Zug setzen mit dem Gefühl, das alles organisiert ist. Die Entscheidung kam überstürzter und chaotischer und hektischer als wir uns das vorgestellt hatten, aber sie ist endlich da. Komischerweise fühlt genau das sich noch scheiße an: Die Option, die Idee, Papa ganztägig irgendwann in professionelle Hände zu geben, war in Ordnung, aber jetzt, wo diese Option eine Tatsache ist, fragt man sich doch den ganzen Tag, ob man es richtig gemacht hat. Zum Schluss waren Schwester und ich uns erneut unsicher und fragten das Mütterchen, das ja ewig dagegen gewesen war, aber selbst sie hatte inzwischen verstanden, dass gerade alles über aller Kräfte geht, auch die von Papa.

Ich stand Mittwoch also wie immer um 5.45 Uhr auf, weckte Papa, gab ihm etwas zu trinken, deckte ihn nochmal zu, während ich lüftete, machte mich für den Tag fertig, die Pflege kam, kümmerte sich um seine körperlichen Belange und hob ihn vom Bett in seinen Pflegerollstuhl, in dem er wochentags zur Tagespflege abgeholt wird. Während wir auf den Fahrer warten, gibt’s immer einen Liter Tee in Etappen, die Kanne steht in der Küche, der Rollstuhl im Wohnzimmer, damit Papa in den Garten gucken kann, und dieses Mal heulte ich bei jedem Gang kurz in der Küche, riss mich wieder zusammen, ging zu ihm, gab ihm den Tee bzw. half bei der Tätigkeit des Trinkens, ging wieder heulen und Tee nachfüllen und so weiter.

Ich schob ihn um kurz vor 8 in die Diele, von wo er nach draußen gucken kann, um das Fahrzeug zu sehen, und als es kam, nahm ich ihn in den Arm und sagte: „Ich hab dich lieb, Papa.“ Und er sagte: „Ich hab dich auch lieb, Anke.“ Selbst wenn er mich demnächst nicht mehr erkennen wird – das kann ich noch mitnehmen.

Auf der Zugfahrt war ich körperlich und emotional platt, ich hörte fünf Stunden Popmusik aus den 80ern und dachte an möglichst gar nichts.

Donnerstag mittag brachten ihn dann Schwester und Schwager ins Heim. Freitag früh telefonierte Schwesterchen mit dem Heim und ihm, er hatte schon gefrühstückt und klang gut. Das wurde mir sofort weiterberichtet und ich war deutlich beruhigter.

Auch das Mütterchen ist seit Donnerstag nachmittag wieder zuhause, hier hilft Schwesterchen noch bei größeren Dingen, weil sie sich noch nicht so anstrengen soll. Ich ahne, dass ich nächste Woche noch einmal mindestens für ein längeres Wochenende hochfahren werde, damit nicht alles an meiner Schwester hängenbleibt, aber sie meinte, das geht schon. Auch Mama rief gestern an und meinte, es sei nicht so schlimm gewesen wie sie es sich vorgestellt hätte, in ein leeres Haus ohne Papa zu kommen, und sie klang deutlich besser als erwartet.

Mir fiel in den letzten Wochen auf, wie hilfreich es ist, das nicht alles alleine durchstehen zu müssen. Auch wenn Schwester und Schwager im Prinzip den selben Job hatten wie ich, konnten sie doch kurz zwischendurch nach Hause, in ihren Garten, in ihre eigene Umgebung. Ich saß im alten Kinderzimmer, das inzwischen einfach nicht mehr mein Zimmer ist, sondern nur noch irgendeins im alten Elternhaus und hatte nur die DMs von F., der sich nach Kräften bemühte, für mich da zu sein. Die beiden konnten sich aber abwechseln, damit einer kurz heulen oder die Welt anschreien konnte, während ich allein war.

Ich weiß, dass die Beziehung von Ehefrau und Ehemann eine andere ist als die zwischen Eltern und Kindern; ich ahne, dass es daher Mama etwas leichter gefallen ist, sich so komplett einem anderen Leben unterzuordnen, aber ich bin jetzt noch erstaunter als früher, wie lange sie es durchgehalten hat. Ich kann auch nicht wirklich erklären, warum es so unfassbar anstrengt, sich um seinen dementen Vater zu kümmern, selbst wenn er im Bett liegt und man nicht, wie viele andere Kinder und Partner, aufpassen muss, dass er nicht den Herd anlässt oder auf Hauptstraßen rennt.

Ich habe noch keine endgültige Meinung zu irgendwas, ich weiß immer noch nicht, ob es das Richtige ist, was wir tun oder taten oder noch tun werden. Die letzten zehn, vierzehn Tage waren wildes Reagieren, was deutlich anstrengender für mich ist als eine geplante Aktion, und daher fühle ich mich immer noch wie mitten drin. Ich kann meinen Kopf noch nicht ausmachen, ich denke abends immer noch darüber nach, ob ich alle Klamotten rausgelegt habe und der Personenlifter aufgeladen ist, und ich wache immer noch morgens um 5 auf. Mal sehen, wann das aufhört.

KW 30 – Manuskriptabgabe und keine Party

Ich hatte gehofft, dass vor meiner zweiten Schicht im Norden – die letzten 10 Tage der Reha meiner Mutter – noch eine CD aus dem Kunstarchiv in Nürnberg in meinem Briefkasten landen würde. Ich war Anfang Juni dort gewesen, hatte 54 Fotos im Nachlass von Protzen per Einlegeblatt markiert und um Einscannen derselben gebeten. Seitdem wartete ich auf eine CD oder einen Download-Link, denn diese 54 Bilder fehlten mir noch für die Manuskriptabgabe meines Protzen-Buchs Ende Juli. Ich versuche gerade, mir das Wort „Diss“ abzugewöhnen, denn gefühlt ist sie das nicht mehr. Promotionsordungstechnisch schon, aber buchmarktmäßig halt nur noch so halb.

Es kamen weder CD noch Link, und so fragte ich am Anfang Juli mal vorsichtig nach; ich bekam netterweise statt einer Mail gleich einen Anruf, dass die Rechnung schon längst bei mir hätte sein sollen, denn 54 Scans kosten mich 540 Euro, und die hätte das Archiv gerne vorab. Kein Problem, aber dann bräuchte ich halt eine Rechnung. Die Dame aus dem Archiv fragte nochmal in der Rechnungsabteilung nach, dort entdeckte man einen Zahlendreher in der Adresse, weswegen das Schreiben auch wieder nach Nürnberg zurückgegangen war, ich bat um die Rechnung per Mail, die kam auch sofort, ich überwies sofort und vermeldete das per Mail sofort – aber es kam keine CD, bis ich am 11. Juli wieder in den Norden musste.

Wir hatten den total unkomplizierten Plan, dass F. alle zwei Tage in meinen Briefkasten schaut, sich die CD auf seinen Rechner zieht, die Daten per WeTransfer an meine Schwester schickt, ich zu ihr fahre, denn dort gibt es INTERNET, alles runterlade und gemütlich bearbeite, um am 29. Juli entspannt mein komplettes Manuskript mit allen Bildern abzugeben.

Dieser tolle Plan klappte leider nicht, weil keine CD kam, die war wirklich erst da, als auch ich mit dem Köfferchen ins Haus rollte und den Briefkasten öffnete. Am 22., meinem Ankunftstag zuhause in München, brauchte ich erstmal Pause, nachdem ich überprüft hatte, dass ich die CD öffnen konnte und alle Bilder da waren. Waren sie, und sogar noch ein Bonusbild von einer Fotorückseite. Die sagte mir nichts, was ich nicht schon wusste, aber das fand ich trotzdem sehr nett, dass die kostenlos mitgescannt wurde, denn ich hatte die Fotos natürlich nicht aus den Alben gepult, als ich sie damals vor 100 Jahren per iPhone bzw. Spiegelreflex ablichtete, um mit ihnen arbeiten zu können, ohne ständig nach Nemberch zu müssen.

Am 23. war Date Night, da gönnte ich mir auch noch Pause, aber ab Samstag war ich dann hibbelig und arbeitete das Wochenende durch. Montag guckte ich nochmal über alles rüber und war zufrieden. Dienstag morgen guckte ich nochmal rüber, fand noch einen Fehler, korrigierte und war zufrieden.

Normalerweise lasse ich nach Korrekturen alles noch eine weitere Nacht liegen, schadet nie, aber irgendwie war mir danach, jetzt endlich einen Haken an das Ding zu machen. Den Text hatte ich geschätzt 180 Mal Korrektur gelesen, da sollte jetzt wirklich nichts mehr dran sein. Die Bilder waren nun auch alle da, bearbeitet und korrekt benannt, ich hatte alle Markierungen aus dem Dokument entfernt, die mal drin waren – los, Hase, jag es raus. Also schickte ich ein Word-Dokument und ein PDF mit jeweils 390 DIN-A4-Seiten an den Verlag und lud 1,6 GB Bilddaten auf die WeTransfer-Server. Dann twitterte ich, wie man das halt heutzutage macht nach großen Sachen, lehnte mich zurück und dachte vergnügt: Jetzt hast du ein paar Tage frei, dann kümmerst du dich um alles, was in den letzten vier Wochen liegen geblieben ist, Freitag gehst du auf eine Hochzeit im kleinen Kreis, das erste Mal seit … weiß ich nicht … dass ich mit mehr als vier Leuten irgendwo bin, und überhaupt musst du erst im September wieder in den Norden.

Dieses wohlige Gefühl konnte ich genau zwei Stunden lang genießen, bis mein Handy klingelte und mein Mütterchen mir sagte, dass sie ins Krankenhaus muss.

Schwester und Schwager waren im Süden, um die letzten Handgriffe für eine Wohnungsübergabe zu erledigen, die sie eh nur Etappen hatten erledigen können, weil wir uns ja die Pflege von Papa geteilt hatten, die waren unabkömmlich. Also packte ich meinen gerade ausgepackten Koffer wieder ein, buchte den nächstmöglichen Zug und fuhr wieder in den Norden, sehr müde und traurig.

Wir fällen hier gerade größere Entscheidungen, dem Mütterchen geht es den Umständen entsprechend, uns auch, aber das gehört alles nicht ins Blog. Überhaupt habe ich seit Längerem das Gefühl, dass vieles nicht mehr in mein Blog gehört. Ich lese kaum noch andere Blogs, schaue derzeit auch auf Twitter nur sporadisch in der Gegend rum und nicht mehr alle fünf Minuten. Vielleicht ändert sich das wieder, ich weiß es nicht. Jetzt gerade ist alles zu viel. Vielleicht erwischt mich auch mit Verzögerung nun die Lockdown- und Einschränkungsmüdigkeit, von der ich mich halbwegs gut ablenken konnte, weil ich an der Diss (der zukünftigen Ex-Diss) rumpuzzeln musste.

Was schön war. Seufz.

– Die Hochzeit habe ich leider verpasst, aber F. sah todschick aus in seiner Tracht, von der er mir ein Foto schickte. Meine neu angeschafften Plünnen müssen auf die nächste Hochzeit warten. (Keine Tracht.)

– Gestern war Papa um 20 Uhr schon so müde, dass man ihm Gute Nacht sagen konnte. Deswegen konnte ich ab viertel nach den „Fliegenden Holländer“ aus Bayreuth gucken. Die Kleinstadt-Inszenierung fand ich nervig bis doof, die Kostüme teilweise toll, größtenteils sozialistisches Elend und damit ebenfalls doof, die Idee, Senta durch zwei bunte Haarsträhnen und einen Hoodie als die totale Außenseiterin auszuweisen, lächerlich, jede Bankangestellte hat eine auffälligere Frisur, aber Asmik Grigorian als Senta war großartig. Das hat sehr gut getan, ihr in Ruhe zuhören zu können. Was mir auch gefiel und was, soweit ich weiß, eher den Hygiene-Vorschriften geschuldet war: die Inszenierung der Chöre. Auf der Bühne stand die Hälfte des Chores (oder Statisten, das weiß ich nicht), die nur die Lippen bewegten; die singenden Chöre waren geimpft und getestet auf Proberäume verteilt, schmetterten von dort und wurden auf die Bühne übertragen. Da eben eh nicht „vor Ort“ gesungen wurde, entschied sich Regisseur Dmitri Tcherniakov dafür, den Chor der Holländer nicht mal die Lippen bewegen zu lassen. Die saßen im 3. Akt beim Showdown einfach nur stoisch und bedrohlich da und fixierten den Chor der Norweger, um irgendwann, als ihre Einsätze lauter und dramatischer wurden, aufzustehen und mit wenigen Ausnahmen weiter eine unbewegliche Drohkulisse zu sein. Das war’s. Fand ich großartig.

– Diese seltsame Blume auf der Fensterbank in Papas Zimmer, von der ich wegen ihrer spitzgezackten Blätter immer dachte, sie sei ein Kaktus. Flora Incognita behauptete, es sei eine Ananas, aber Herr Doppelhorn konnte korrigieren: Es ist eine Aechmea oder schnöde: eine Lanzenrosette. So werde ich das Ding aber nie nennen, weil doof. Überlege zum ersten Mal, mir eine Zimmerpflanze anzuschaffen, die über Ficus oder Ikea-Grünzeug hinausgeht. Ihre Blüte betrachte ich jeden Tag, und beim, wie ich dachte, vorerst letzten Pflegeaufenthalt für mindestens vier Wochen, war ich ein bisschen traurig, dass ich nun die weiteren Entwicklungsschritte der Blüte von schlicht pink über pink mit roten Punkten zu pink mit roten und blauen Blüten nicht mehr beobachten konnte. Kann ich ja jetzt. Danke auch, Universum, du Nervensäge.