Tagebuch, Montag bis Samstag, 5. bis 10. August – Beta-Papa

Mein Vater hatte im Mai einen Schlaganfall und war dann nach einer Operation in der Reha. Seit vorletzter Woche ist er wieder zuhause. Er ist noch der Papa, den ich kenne, aber mit neuen Features und anderen, die nicht mehr so recht funktionieren. Ein Beta-Papa vielleicht. Ich war in der vergangenen Woche in der alten Heimat, um meine Mutter etwas zu entlasten, während sich Dinge wie Pflegedienste und Hilfsmittelfirlefanz einspielen. Das gehört aber nicht hier ins Blog, denn das ist nicht meine Geschichte.

Was meine Geschichte ist: Es war die anstrengendste Woche meines Lebens, und mein bisheriger Rekord, eine 70-Stunden-Woche in der Werbeagentur, war ein Spaziergang mit Käsekuchen und Konfetti dagegen. Ich hatte die Tragweite der Veränderungen, nicht nur an Papa, sondern auch im Elternhaus und in der Familiendynamik optimistisch unterschätzt. Die plötzliche Intimität war für mich anstrengend, das Arbeiten (Dinge erledigen, Dinge vor- und einkochen, Dinge vorbereiten) war für mich anstrengend, weil die häusliche Umgebung nicht auf meine, sondern auf anderer Leute Bedürfnisse eingestellt war, das Schlafen im alten Kinderzimmer war anstrengend, weil es nicht nur mal eben zu Weihnachten für eine Nacht nach viel gutem Essen und Sekt war, sondern nach einem Tag, der emotional und körperlich sehr schlauchte, und dann kam noch ein Tag und noch einer, und ich bin fast stolz darauf, erst am Freitag einen völligen Überforderungsheulflash bekommen zu haben. Um dann vom Vater getröstet zu werden, wegen dem man heult und der einen für die eigene Schwester hält.

Die komplette Fremdbestimmung durch einen Kranken war für mich mit am anstrengendsten, denn wenn ich etwas schätze, ist das meine relative Freiheit, die mir Selbständigkeit, Studium, Wohnsituation und Beziehungen lassen – im Prinzip kann ich so gut wie dauernd machen, was ich will und wann ich es will, und wie großartig das ist, habe ich erst in der letzten Woche so richtig gemerkt. Wegen dieser konstanten Fremdbestimmung und Überforderung und Anstrengung dachte ich die ganze Woche lang, ich will nach Hause, ich will nach Hause, ich will nach Hause, auch wenn ich mich sehr darüber gefreut habe, wirklich eine Hilfe sein zu können, sowohl in wenigen Augenblicken für die Pflegenden als auch ganztags für meine Mutter, und sei es nur durch eine aus Gartenfrüchten zubereitete Tomatensauce, die Mama jetzt nur noch aufwärmen muss, um schnell ein Mittagessen fertig zu haben.

Die Zugfahrt gestern nach München war eine Art Dekompression; ich las ungefähr eine Seite in meinem mitgebrachten Buch – immerhin eine mehr als die ganze letzte Woche –, hörte aber sonst nur Klassik auf Spotify und guckte aus dem Fenster. Zuhause räumte ich sofort den Kofferinhalt brav weg, setzte Wäsche an, sagte allen meinen Blumen persönlich guten Tag, warf mich aufs arg vermisste Sofa, um endlich wieder eine Serienfolge zu sehen und dachte, so, alles prima, wieder daheim, yay. Aber ich merkte nach ungefähr 20 Minuten, dass ich sehr unkonzentriert schaute und es mir eigentlich auch egal war. Und dann dachte ich: Ich will wieder in den Norden, wo ich sinnvollere Dinge tun kann als Serien zu gucken, die mir egal sind.

Ich weiß noch nicht, was ich mit dieser sehr unerwarteten Reaktion anfange.

Ein zielvolles Dankeschön …

… an Julia, die mich mit Richard J. EvansThe Pursuit of Power: Europe 1815–1914 überraschte. Ich meine dieses Buch in einer Rezension zu einem anderen Geschichtsbuch entdeckt zu haben, und weil es so viel spannender klang als das besprochene, musste ich es gleich auf den Wunschzettel setzen. Kann aber auch sein, dass in der FAZ die deutsche Ausgabe rezensiert wurde und ich dachte, ach, les ich doch gleich das Original. Wie dem auch sei, ich zitiere bequem den Perlentaucher zur deutschen Fassung:

„‚Das europäische Jahrhundert‘ entwirft ein außergewöhnlich facettenreiches, überraschendes und unterhaltsames Panorama des 19. Jahrhunderts in Europa. Der Kontinent durchlief zwischen 1815 und 1914 eine drastische Transformation mit grundstürzenden Veränderungen in Kultur, Politik und Technik. Was in einer Dekade als modern empfunden wurde, war in der nächsten bereits veraltet. Großstädte schossen innerhalb einer Generation aus dem Boden, und neue europäische Länder gründeten sich. In der Zeit zwischen der Schlacht von Waterloo und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs beherrschte Europa den Rest der Welt wie niemals zuvor oder je wieder danach.“

Und, Achtung, totaler Allgemeinplatz, das 20. Jahrhundert in seinen Widerlichkeiten wäre ohne diesen Verlauf des 19. vermutlich – hoffentlich – anders verlaufen. Auch deshalb interessiert mich die, im wahrsten Sinne des Wortes, Vorgeschichte.

Vielen Dank für das Geschenk, ich habe mich sehr gefreut.

Links vom Sonntag, 4. August 2019

Die ethische Last journalistischer Arbeit

Carolin Emcke schreibt, warum sie die Enthüllung von Hingsts erfundenen Geschichten richtig findet, denkt aber auch über journalistische Verantwortung nach.

„Als Journalistin nicht zu reflektieren über die Frage, über was es zu schreiben oder nicht zu schreiben gilt, das wäre auch unrecht. So zu tun, als ginge uns dieser Tod nichts an, als forderte er uns nicht alle heraus, das wäre allzu zynisch und bequem. Sie steht ja im Raum, die Frage: Ob es unlauter war, eine Person zu konfrontieren mit ihren Lügen, jemandem die Identität(en) zu entziehen, die sie sich selbst erschaffen hatte – und sie möglicherweise dadurch bedenklich zu destabilisieren. […]

Ich weiß nicht, ob ich die Not des Gegenübers erkannt hätte, ich weiß nicht, ob ich versucht hätte zu helfen, wenn ich sie erkannt hätte. Ich hoffe es. Aber ich weiß, dass ich mich auch in der Verantwortung gegenüber den echten Toten und Überlebenden der Schoah begriffen hätte, deren Geschichte sich niemand aneignen darf, als sei es ein Accessoire. Und ich weiß um alle die antisemitischen Revisionisten, die immer noch und immer wieder versuchen, die Tatsache von Auschwitz zu bestreiten, ich weiß, wie sehr erfundene Opfergeschichten denen nutzen, die allzugern behaupten, die Verbrechen der Nationalsozialisten habe es nie gegeben. Ich weiß, dass die Erinnerung an die Wahrheit und der Widerspruch gegen das Leugnen zu dem gehört, was mir aufgetragen ist.

So furchtbar es ist, es lässt sich beides denken: Auch ich hätte geschrieben über die Täuschungen, weil wir das den Angehörigen der Opfer der Schoah schuldig sind. Und gleichzeitig wünschte ich wie alle anderen, es hätte verhindert werden können, dass ein junger Mensch aus dem Leben geht.“

Warum der SPIEGEL über den Fall Marie Sophie Hingst berichten musste

Martin Doerry erläutert, warum er seinen Artikel und dessen Veröffentlichung immer noch für richtig hält und erwähnt auch seinen Kollegen von der Irish Times.

„Der Berliner Korrespondent der “Irish Times”, Derek Scally, hat Marie Sophie Hingst etwa eine Woche nach der Veröffentlichung aufgesucht und ein anderes Bild von ihr gewonnen. Er zeichnet in seinem Porträt das Bild einer verwirrten, hilflosen Person, die an der jüdischen Familienlegende verzweifelt festhält. Er behauptet, ich hätte übersehen, in welcher katastrophalen psychischen Verfassung Frau Hingst gewesen sei. Was er dabei übersieht, ist die Tatsache, dass Frau Hingst vor der Publikation des Artikels keineswegs verzweifelt und niedergeschlagen war, sondern souverän, kämpferisch und entschlossen. Er ist ihr erst begegnet, als ihre fiktive Identität zusammengebrochen war. Wir haben zwar dieselbe Person getroffen, aber in zwei völlig unterschiedlichen Lebenssituationen.

Scallys Bericht löste in den sozialen Netzwerken ein starkes Echo aus. In vielen Kommentaren wird ihre von ihm kolportierte Aussage, sie habe sich durch den SPIEGEL “wie bei lebendigem Leibe gehäutet” gefühlt, als Beleg seelischer Grausamkeit gesehen. Die Tatsache, dass Marie Sophie Hingst sechs Jahre lang systematisch Lügen über ihre angeblich im Holocaust umgekommenen Vorfahren verbreitet hat – nicht nur in ihrem viel gelesenen und prämierten Blog, sondern auch in öffentlichen Reden vor großem Publikum –, erscheint dagegen häufig als lässliche Sünde oder wird gar nicht thematisiert.“

Athleisure, barre and kale: the tyranny of the ideal woman

Ein mäandernder, aber genau in dieser Flaniererei guter Artikel von Jia Tolentino, der aber die Grundtendenz der modernen Frau in welcher Ausprägung auch immer gut zusammenfasst: Wir optimieren uns, um in einem System mitzuspielen, das uns gar nicht mitspielen lassen will.

Sie beginnt mit dem Feminismus in seiner weichgespülten Form, der uns Dinge verkaufen will:

„Today’s ideal woman is of a type that coexists easily with feminism in its current market-friendly and mainstream form. This sort of feminism has organized itself around being as visible and appealing to as many people as possible; it has greatly over-valorized women’s individual success. Feminism has not eradicated the tyranny of the ideal woman but, rather, has entrenched it and made it trickier. These days, it is perhaps even more psychologically seamless than ever for an ordinary woman to spend her life walking toward the idealized mirage of her own self-image. She can believe – reasonably enough, and with the full encouragement of feminism – that she herself is the architect of the exquisite, constant and often pleasurable type of power that this image holds over her time, her money, her decisions, her selfhood and her soul.

Figuring out how to “get better” at being a woman is a ridiculous and often amoral project – a subset of the larger, equally ridiculous, equally amoral project of learning to get better at life under accelerated capitalism. In these pursuits, most pleasures end up being traps, and every public-facing demand escalates in perpetuity. Satisfaction remains, under the terms of the system, necessarily out of reach.“

Dann schreibt sie über Lunch Breaks, in denen wir teure Salate bei Vapiano und Co. essen, um möglichst schnell wieder ins Hamsterrad zu kommen, am besten, während man noch mal schnell die Arbeitsmail checkt. Für psychologischen Ausgleich durch Sport betreibt Tolentino Barre, ein Sport, bei dem es eher darum geht, gut auszusehen als stark zu werden. Und das alles in athleisure, ein Kleidungskonzept, das uns in der Freizeit aussehen lässt wie beim Sport. Jedenfalls einige von uns:

„Spandex – the material in both Spanx and expensive leggings – was invented during the second world war, when the military was trying to develop new parachute fabrics. It is uniquely flexible, resilient and strong. It feels comforting to wear high-quality spandex, but this sense of reassurance is paired with an undercurrent of demand. Shapewear controls the body under clothing; athleisure broadcasts your commitment to controlling your body through working out. And to even get into a pair of Lululemons, you have to have a disciplined-looking body. (The founder of the company once said that “certain women” aren’t meant to wear his brand.) “Self-exposure and self-policing meet in a feedback loop,” Weigel wrote. “Because these pants only ‘work’ on a certain kind of body, wearing them reminds you to go out and get that body.”

Und sie schließt mit einer deprimierenden Feststellung für alle Beauty-Bloggerinnen und Influencerinnen da draußen, die vermutlich zu beschäftigt sind, um dieses Essay zu lesen:

„The realm of what is possible for women has been exponentially expanding in all beauty-related capacities – think of the extended Kardashian experiments in body modification, or the young models whose plastic surgeons have given them entirely new faces – and remained stagnant in many other ways. We have not “optimized” our wages, our childcare system, our political representation; we still hardly even think of parity as realistic in those arenas, let alone anything approaching perfection. We have maximized our capacity as market assets. That’s all.“

Wenn Sie beim Lesen ein bisschen Musik hören wollen – oder einfach nur so Musik hören wollen –, empfehle ich die 5. Sinfonie (1946) von Bohuslav Martinů. Schon viel zu lange keinen Martinů mehr gepluggt. Dauert auch nur ne halbe Stunde.

Tagebuch Freitag, 2. August 2019 – Nürnberger Feierabend

Gestern morgen zusammengepackt, ausgecheckt, das Köfferchen im Hotel gelassen und ein letztes Mal den Weg von dort zum Kunstarchiv gegangen. Nochmal St. Lorenz gewunken; die Kirche hatte ich mir bei meinem letzten Nürnberg-Besuch mal etwas ausführlicher angeschaut.

Dann wühlte ich weiter in den noch übriggebliebenen Boxen und Mappen des Nachlasses. Bei meinen letzten drei Besuchen hatte ich mir notiert, wo was liegt, denn, wie vermutlich schon erwähnt, ist der Nachlass noch unsortiert und unverzeichnet, das heißt, er hat auch noch keine zitierbare Inventarnummer. Ich durfte die 15 Behältnisse aber nummerieren, und im Moment ist das dann auch die offizielle Quellenangabe: Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Deutsches Kunstarchiv, Nachlass Protzen, Carl Theodor, Box oder Mappe sowieso.

In vielen Boxen lagen Ausstellungskataloge, von denen der Herr oder seine Frau teilweise fünf Duplikate aufgehoben haben. Warum davon nicht gleich vier an irgendwelche Bibliotheken gegangen sind, weiß ich nicht – darf man als annehmende Institution den Nachlass noch ausflöhen oder muss der auf alle Ewigkeit so bleiben wie er ankam? Ich wollte bei einigen dringend was fürs ZI klauen, habe mich aber brav zurückgehalten. Wobei: die Kataloge, die bei uns fehlen, waren hier auch meist nur einmal vorhanden. Aber eben immerhin einmal, ha!

Ich schaffte es gestern, noch alles abzuarbeiten, was wichtig war. Was eher zweitrangig war, bleibt für den nächsten Besuch liegen: einige der Fotoalben, in denen die beiden private Aufnahmen eingeklebt hatten, blätterte ich nicht noch einmal durch, weil ich keine Zeit mehr hatte. Zwei schaute ich nochmal durch, weil da Aufnahmen von Familienmitgliedern drin waren, bei denen ich auf Bildunterschriften hoffte, aber davon waren die beiden anscheinend keine Fans. Und bei einem weiteren wusste ich, dass darin Aufnahmen von der Grundsteinlegung vom Haus der (deutschen) Kunst waren, die wollte ich auch nochmal anschauen. Ganze vier Seiten voller Fotos waren eingeklebt, das war deutlich mehr als der Aufenthalt in Avignon 1929, nur mal als Vergleich. Zur Grundsteinlegung gab es einen Festumzug, der auch auf einigen Bildern zu sehen ist. Und es gab ein Programmheft dazu, das wusste ich noch nicht. Interessiert durchgeblättert, ob ich bekannte Namen fand; fand ich, waren aber für meine Arbeit egal. Aber diese Anzeige fand ich dann ganz spannend.

Ich freute mich auch über einen skurrilen Heftfund, der mir letztes Mal beim hektischen Durchgucken entgangen war: „Das deutsche Malerblatt.“ Dieses Heft existiert sonst nur noch im Deutschen Museum hier in München und in ihm befindet sich ein Artikel zur sogenannten Ehrenhalle, mit der die Ausstellung „Die Straße“ von 1934 eröffnet wurde. In dieser temporären Ausstellung malten zehn Maler gemeinsam acht Werke an die Wände, was aus kunsthistorischer Sicht ziemlich gaga ist, weil ein Wandgemälde eigentlich etwas Dauerhaftes ist. Diese schlaue Erkenntnis teilte mir eine andere Doktorandin mit, die ein anderes Thema hat, das sich aber hier in dieser Ausstellung mit meinem Thema überkreuzt, denn einer dieser zehn Maler war der Herr Protzen. (Und ich weiß immer noch nicht, wie er an diesen prestigeträchtigen Auftrag gekommen ist, knurr.) Wir sind von meinem Doktorvater verbandelt worden, und die Dame freute sich außerordentlich über meine Fotos des Hefts und der folgenden Seiten. Und ich freute mich, dass ich jemandem eine Freude machen konnte.

Und auch, weil ich endlich wusste, welches der Bilder Protzen nun gemalt hatte, denn um diese genaue Auskunft drückten sich alle Aufsätze und Quellen, die ich bisher gefunden hatte. Aber: Im Nachlass finden sich Fotos von Kartons, die als Vorlage für die endgültigen Gemälde dienten, aber nur von vier der acht Bilder. Also gehe ich mal optimistisch davon aus, dass er nur an „2. Die römische Straße“, „4. Die Straße im frühen Mittelalter“, „5. Die Straße nach dem Dreißigjährigen Krieg“ sowie „6. Die Straße um 1800“ beteiligt war. Oder er hat ein paar Fotos bewusst vernichtet, denn in den Gemälden „7. Die Straße frei den brauen Bataillonen, Nürnberg 1933“ sieht man einen gemeinsamen Aufmarsch von SA, SS und Soldaten vor einer Fachwerkhauskulisse und in „8. Die Straßen Adolf Hitlers“ eine breite, moderne Autobahnbrücke durch eine dörfliche Gegend. Wobei das letzte Bild gut in sein späteres Schaffen passen würde, aber vielleicht war er hier wirklich noch unbeteiligt. Das ist jetzt also keine wilde Entdeckung, dass er an diesen Werken beteiligt war, aber immerhin eine Eingrenzung, und mich freuen solche Details.

Dann fand ich ein Werk von ihm auch noch in Farbe, das war auch schön. Es gibt so wenige Farbaufnahmen der Autobahnbilder, und bei einigen Werken weiß ich immer noch nicht, wo sie sich heute befinden, falls sie überhaupt noch existieren. Das ist ist, falls ihr die Überschrift aus der Sonderausgabe der Monatshefte von Velhagen & Klasing nicht lesen könnt, die Lauterbachtalbrücke bei Kaiserslautern.

Bei einem Katalog von 1955 musste ich sehr grinsen und an meine Großeltern und Eltern denken, die gerne alles irgendwie beschriften und notieren, man weiß ja nie. Der Katalog war von der 29. Jahresschau Oberpfälzer und niederbayerischer Künstler und Kunsthandwerker im Kunst- und Gewerbehaus Regensburg, die Ende 1955 stattfand. Protzen war als Gast eingeladen und zeigte unter anderem sein Stilleben mit schwarzem Korb, das ich mal keck auf 1955 datiere, weil er fast konstant aktuelle Werke zeigte, egal wo und wann. (Wenige Ausnahmen direkt nach dem Krieg, als noch keiner so recht wusste, was man jetzt überhaupt zeigen sollte oder durfte. In der Zeit produzierte er auch fast ausschließlich unverdächtige und kreuzlangweilige Blumenstillleben.) Im Katalog war sein Werk auch abgebildet, aber ohne Name oder Bildtitel, wie sich das eigentlich gehört, nur mit Katalognummer. Also hat der gute Mann bei allen Abbildungen die Namen der Künstler handschriftlich notiert – auch bei seinem eigenen Werk.

Bei einem anderen Katalog wimmerte ich hingegen sehr. Zusammen mit Protzen stellte nämlich auf der Dresdner Schau „Kunst und Technik“ 1939 auch ein gewisser Carl Grossberg aus, dem ich immer noch sehr hinterhertrauere. Von ihm kannte ich ja schon Bilder vom Ende der 30er Jahre – er starb 1940 –, aber die hier kannte ich noch nicht. Das Werk Grossbergs ist nach 1933 noch so gut wie nicht aufgearbeitet, weil die ollen Erben nicht wollen, dass er irgendwie in den Ruch eines Nazikünstlers kommt. Die Gefahr sehe ich natürlich nicht, aber auch generell wäre es spannend, sich diese Zeit in Bezug auf ihn anzuschauen, weil er ein hervorragendes Beispiel dafür ist, dass eben nicht alles, was zwischen 1933 und 1945 in Deutschland als Kunst produziert und offiziell ausgestellt wurde, so aussah, als wolle Göring es sich übers Sofa hängen. Genau das war meine erste Dissertationsidee, die aber leider am Nein der Grossberg-Erben scheiterte. Und so wimmerte ich noch ein bisschen weiter, wo ich endlich mal wieder ein Bild von ihm sah. Ich liebe sein Zeug so sehr.

Wer noch mehr zu Grossberg und seinem halbwegs aktuellen Forschungsstand lesen möchte, kann das in diesem pdf der Galerie Hasenclever von 2017 tun. Die Zeit ab 1933 und die nicht vorhandene kunsthistorische Auseinandersetzung mit ihm fängt auf Seite 6 an, Autor ist der von mir sehr geschätzte Olaf Peters.

Und so wuschelte ich bis kurz nach 15 Uhr durch, das sah ungefähr so aus, Belegbild mal wieder nur für F. aus der Hüfte geschossen, und allmählich sollte ich mir angewöhnen, auch diese Hüftbilder anständig zu machen, denn die landen neuerdings irgendwie immer im Blog:


(Mein Trackpad am Laptop hat eine Macke, und das externe Trackpad wackelt, und ich komme wir wirklich immer wie ein Idiot vor, neben Laptop und Trackpad noch einen gefalteten Zettel in alle Bibliotheken zu schleppen, damit es eben nicht mehr wackelt, ich Hobo der Kunstgeschichte. Aber bevor die Diss nicht fertig ist, gibt’s keinen neuen Rechner. Never touch a running system.)

Als Abschluss blätterte ich noch einmal das Gästebuch durch, das die Protzens von 1926 bis ungefähr 1962 führten, die letzten Einträge sind undatiert, Henny Protzen-Kundmüller starb 1967, Protzen bereits 1956, was sie auch im Gästebuch vermerkte. In den letzten Tagen, in denen ich endlich mal konzentriert und länger am Nachlass arbeiten konnte als bisher, wo ich immer nur für einen Tag in der Stadt war, sind mir eben doch noch viele Namen und Dinge aufgefallen, und einiges fand ich im Gästebuch wieder. Ich fand auch einiges nicht, was ich erwartet hatte, was mir auch wieder Interpretationsspielraum gibt. Ich bleibe hier mal so vage, sonst wird der Eintrag noch länger.

Aber das war eine wirklich schöne und ertragreiche Woche. Zu den Nachlässen der anderen Künstler bin ich nicht mehr gekommen, aber ich ahne, dass ich noch ein fünftes Mal alles durchwühlen werde, vermutlich wenn ich wieder einige Monate neue Recherche hinter mir habe. Darauf freue ich mich jetzt schon.

(Und ich habe mich über eure Mails gefreut, die davon berichtet haben, dass ihr meine Archivarbeit nicht so langweilig findet, wie ich innerlich erwartet hatte. DIE IST AUCH NICHT LANGWEILIG! Seid froh, dass ich nicht wieder mit Golfspielen anfange.)

Tagebuch Donnerstag, 1. August 2019 – Sooo laaange

Sieben Stunden durchgearbeitet – und gerade eine Box mit Katalogen geschafft sowie eine mit Zeitschriften. Wimmer! Wissenschaft nervt, weil sie sooo laaange dauert! Nix war’s mit Tagebüchern einsehen von anderen Malern, erstmal muss die olle Pflicht erledigt werden – welches Bild hing wann wo, und nein, nicht nur den Papenbrock/Saure abschreiben, denn wie ich dauernd merke, sind da gerne Fehler drin, immer schön selbst in die Kataloge gucken, immer brav die Originalquelle checken, soll ja anständig werden, das Ding. Aber das dauert halt sooo laaange!

Aber immerhin waren in der Zeitschriftenkiste einige Hefte dabei, die mir wichtige Fragen beantworten konnten, deren Antworten ich in allen Büchern und Aufsätzen zur Autobahn nicht finden konnte, ha! Außerdem habe ich immerhin ein neues Bild von Herrn Protzen in Farbe gefunden, darüber freue ich mich auch immer sehr, weil ich ihn quasi nur in Schwarzweiß kenne. Es ist alles irgendwie Fusselkram, den ich erledigt habe, ich konnte gar nicht glauben, dass der Arbeitstag schon rum war, während mein knurrender Magen vermutlich den ganzen Lesesaal unterhalten hat, und ich fühlte mich danach wie dieses klassische gif. (Wie matschig mein Kopf war, merkt man daran, dass ich beim Twittern die Zeitschriftenkiste ernsthaft schon vergessen hatte. Wie ich auch jetzt beim morgendlichen Tippen schon nicht mehr genau weiß, was ich gestern alles aufgeschrieben habe.)

Abends nichts mehr gemacht, nicht fein essen gewesen, nichts im Museum angeguckt, lieber ein Sandwich vom Bahnhof sowie meinen restlichen Keksvorrat im klimatisierten Zimmer verspeist, passt schon, letzte Folge von Jane the Virgin geschaut und wie jede Folge herrlich gefunden. Die FAZ ernsthaft komplett auf dem Handy durchgelesen, also die Teile, die ich sonst komplett auf Papier lese, und ansonsten hirntot Candy Crush und andere Zeiträuber gedaddelt. Anstrengender, aber guter Tag. Jetzt bin ich so richtig schön im Nachlass-Groove, und jetzt muss ich schon wieder weg. Mpf.

Stiefkind-Adoption

MyCuppaTea und ihre Frau haben nun ein gemeinsames Kind:

„Der Vorgang ist unnötig und belastend (und durchaus auch kostenintensiv) für die ganze Familie – für das Kind ist es schließlich unbestritten nur von Vorteil, wenn es statt nur einem Elternteil von Geburt an zwei hat. Noch dazu ändert sich an der Lebenssituation ja nichts, egal ob mit oder ohne Adoption. Des Weiteren ist es höchst kritisch zu sehen, dass man in dem Prozess private/intime Details in solchem Umfang preisgeben muss. Welches heterosexuelle Paar, das ein Kind bekommt, muss dem Staat solche Einblicke in das Privatleben gewähren?“

How Phones Made the World Your Office, Like It or Not

Halt, nicht weglaufen, ist kein fieser Work-Life-Balance-Artikel, sondern einer mit herrlichen Fotos von alten Telefonen!

„History’s first call on a hand-held wireless phone was made on April 3, 1973, by a Motorola executive named Martin Cooper. Mr. Cooper had developed the phone himself and, having a cheeky streak, decided to step out onto Sixth Avenue, in Midtown Manhattan, and call his rival at Bell Laboratories to gloat a little. Can you hear me now?

Told recently that his call was a great P.R. stunt, Mr. Cooper, who turned 90 last year, said: “Remember, this was the first public call ever made and I only cared about one thing: Was the phone going to work? This thing was a handmade prototype — thousands of parts carefully wired together by an engineer, not a production guy — and there were only two in existence.”“

Tagebuch Mittwoch, 31. Juli 2019 – Immer noch Archivglück

Okay, im Vergleich zu vorgestern war das gestern etwas mühseliger, weil ich bei jeder Kiste, die ich vom Rollwägelchen mit Protzens Nachlass runternahm, dachte, kennste schon, haste schon gesehen, haste fotografiert, haste zuhause schon stundenlang drüber gebrütet. Aber wie bereits des Öfteren erwähnt, sieht man dann doch immer noch was Neues, auch wenn es nur noch kleine Details sind und keine irren Entdeckungen. Mit denen rechne ich auch nicht mehr wirklich. Meistens war ich nur damit beschäftigt, im Text Fußnoten zu ergänzen, wo bisher nur stand „Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Deutsches Kunstarchiv, Nachlass Carl Theodor Protzen, Box ???“ und dann das betreffende Stück. Ich habe in den letzten Tagen viele Fragezeichen löschen können.

Um den Kopf ein bisschen abzulenken, bat ich um zwei Stücke aus dem riesigen Nachlass der Galerie Heinemann, der netterweise vernünftig verzeichnet ist, und konnte so noch zwei Dinge im Text ergänzen, die bisher noch mit „Originalquelle einsehen!“ markiert waren. Und nebenbei fand ich Dinge, die ich nicht auf dem Plan hatte, wie immer. (GEHT MEHR IN ARCHIVE!)

Außerdem erfuhr ich von der freundlichen Ansprechdame, dass die drei Maler, deren Nachlass ich in der Onlinesuche bei zweien als unverzeichnet interpretiert hatte, immerhin schon in Listenform aufgearbeitet waren. Ich muss also nicht selber in Kisten wühlen, um zu wissen, was Anton Leidl, Carl Otto Müller und Alwin Stützer hinterlassen haben, sondern kann erstmal ein paar DIN-A4-Seiten durchlesen. Das erbrachte leider das erwartete Ergebnis: Die Herren haben irgendwie, keine Ahnung warum, wie konnte das nur passieren, huch, große Lücken zwischen 1930 und 1950 und es finden sich nur ein paar sporadische Funde, von denen sie vermutlich ahnten, dass sie damit nicht so recht durchkommen, wenn die fehlen (Spruchkammerbögen, Ausstellungskataloge aus der NS-Zeit). Bei Herrn Stützer sind immer noch noch Tagebücher da, und genau da werde ich heute oder morgen mal reinschauen – und vorher beten, dass der Mann kein Sütterlin mehr geschrieben hat. Bei Protzen habe ich Glück, der schrieb so ein Mittelding zwischen Sütterlin und heutiger Schreibweise, das kann ich lesen.

Sehr matschig im Kopf und sehr hungrig um halb vier Feierabend gemacht. Ich arbeite durch, weil ich weiß, wie wenig Zeit ich habe, aber gestern dachte ich so gegen kurz nach drei, wärste man gegen eins auf einen Kaffee rausgegangen, dann könntest du jetzt besser denken.

Wie gut, wenn man abends mit einem charmanten Herrn zum Essen bei einem netten Italiener verabredet ist. Danach war mein Kopf auch wieder da, und so konnte ich im Hotel noch ein paar Textblöcke aufräumen. Spaßeshalber zählte ich dann mal wieder die Seiten zusammen, die ich bisher aus NICHTS, wie ich ja gerne rummeckere, zusammengekloppt habe. Ich bin dann jetzt bei 101, und ich bin immer noch nicht im Kapitel mit den Autobahnbildern. Ähem.