Tagebuch, Montag bis Samstag, 5. bis 10. August – Beta-Papa

Mein Vater hatte im Mai einen Schlaganfall und war dann nach einer Operation in der Reha. Seit vorletzter Woche ist er wieder zuhause. Er ist noch der Papa, den ich kenne, aber mit neuen Features und anderen, die nicht mehr so recht funktionieren. Ein Beta-Papa vielleicht. Ich war in der vergangenen Woche in der alten Heimat, um meine Mutter etwas zu entlasten, während sich Dinge wie Pflegedienste und Hilfsmittelfirlefanz einspielen. Das gehört aber nicht hier ins Blog, denn das ist nicht meine Geschichte.

Was meine Geschichte ist: Es war die anstrengendste Woche meines Lebens, und mein bisheriger Rekord, eine 70-Stunden-Woche in der Werbeagentur, war ein Spaziergang mit Käsekuchen und Konfetti dagegen. Ich hatte die Tragweite der Veränderungen, nicht nur an Papa, sondern auch im Elternhaus und in der Familiendynamik optimistisch unterschätzt. Die plötzliche Intimität war für mich anstrengend, das Arbeiten (Dinge erledigen, Dinge vor- und einkochen, Dinge vorbereiten) war für mich anstrengend, weil die häusliche Umgebung nicht auf meine, sondern auf anderer Leute Bedürfnisse eingestellt war, das Schlafen im alten Kinderzimmer war anstrengend, weil es nicht nur mal eben zu Weihnachten für eine Nacht nach viel gutem Essen und Sekt war, sondern nach einem Tag, der emotional und körperlich sehr schlauchte, und dann kam noch ein Tag und noch einer, und ich bin fast stolz darauf, erst am Freitag einen völligen Überforderungsheulflash bekommen zu haben. Um dann vom Vater getröstet zu werden, wegen dem man heult und der einen für die eigene Schwester hält.

Die komplette Fremdbestimmung durch einen Kranken war für mich mit am anstrengendsten, denn wenn ich etwas schätze, ist das meine relative Freiheit, die mir Selbständigkeit, Studium, Wohnsituation und Beziehungen lassen – im Prinzip kann ich so gut wie dauernd machen, was ich will und wann ich es will, und wie großartig das ist, habe ich erst in der letzten Woche so richtig gemerkt. Wegen dieser konstanten Fremdbestimmung und Überforderung und Anstrengung dachte ich die ganze Woche lang, ich will nach Hause, ich will nach Hause, ich will nach Hause, auch wenn ich mich sehr darüber gefreut habe, wirklich eine Hilfe sein zu können, sowohl in wenigen Augenblicken für die Pflegenden als auch ganztags für meine Mutter, und sei es nur durch eine aus Gartenfrüchten zubereitete Tomatensauce, die Mama jetzt nur noch aufwärmen muss, um schnell ein Mittagessen fertig zu haben.

Die Zugfahrt gestern nach München war eine Art Dekompression; ich las ungefähr eine Seite in meinem mitgebrachten Buch – immerhin eine mehr als die ganze letzte Woche –, hörte aber sonst nur Klassik auf Spotify und guckte aus dem Fenster. Zuhause räumte ich sofort den Kofferinhalt brav weg, setzte Wäsche an, sagte allen meinen Blumen persönlich guten Tag, warf mich aufs arg vermisste Sofa, um endlich wieder eine Serienfolge zu sehen und dachte, so, alles prima, wieder daheim, yay. Aber ich merkte nach ungefähr 20 Minuten, dass ich sehr unkonzentriert schaute und es mir eigentlich auch egal war. Und dann dachte ich: Ich will wieder in den Norden, wo ich sinnvollere Dinge tun kann als Serien zu gucken, die mir egal sind.

Ich weiß noch nicht, was ich mit dieser sehr unerwarteten Reaktion anfange.