Tagebuch Freitag, 2. August 2019 – Nürnberger Feierabend

Gestern morgen zusammengepackt, ausgecheckt, das Köfferchen im Hotel gelassen und ein letztes Mal den Weg von dort zum Kunstarchiv gegangen. Nochmal St. Lorenz gewunken; die Kirche hatte ich mir bei meinem letzten Nürnberg-Besuch mal etwas ausführlicher angeschaut.

Dann wühlte ich weiter in den noch übriggebliebenen Boxen und Mappen des Nachlasses. Bei meinen letzten drei Besuchen hatte ich mir notiert, wo was liegt, denn, wie vermutlich schon erwähnt, ist der Nachlass noch unsortiert und unverzeichnet, das heißt, er hat auch noch keine zitierbare Inventarnummer. Ich durfte die 15 Behältnisse aber nummerieren, und im Moment ist das dann auch die offizielle Quellenangabe: Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Deutsches Kunstarchiv, Nachlass Protzen, Carl Theodor, Box oder Mappe sowieso.

In vielen Boxen lagen Ausstellungskataloge, von denen der Herr oder seine Frau teilweise fünf Duplikate aufgehoben haben. Warum davon nicht gleich vier an irgendwelche Bibliotheken gegangen sind, weiß ich nicht – darf man als annehmende Institution den Nachlass noch ausflöhen oder muss der auf alle Ewigkeit so bleiben wie er ankam? Ich wollte bei einigen dringend was fürs ZI klauen, habe mich aber brav zurückgehalten. Wobei: die Kataloge, die bei uns fehlen, waren hier auch meist nur einmal vorhanden. Aber eben immerhin einmal, ha!

Ich schaffte es gestern, noch alles abzuarbeiten, was wichtig war. Was eher zweitrangig war, bleibt für den nächsten Besuch liegen: einige der Fotoalben, in denen die beiden private Aufnahmen eingeklebt hatten, blätterte ich nicht noch einmal durch, weil ich keine Zeit mehr hatte. Zwei schaute ich nochmal durch, weil da Aufnahmen von Familienmitgliedern drin waren, bei denen ich auf Bildunterschriften hoffte, aber davon waren die beiden anscheinend keine Fans. Und bei einem weiteren wusste ich, dass darin Aufnahmen von der Grundsteinlegung vom Haus der (deutschen) Kunst waren, die wollte ich auch nochmal anschauen. Ganze vier Seiten voller Fotos waren eingeklebt, das war deutlich mehr als der Aufenthalt in Avignon 1929, nur mal als Vergleich. Zur Grundsteinlegung gab es einen Festumzug, der auch auf einigen Bildern zu sehen ist. Und es gab ein Programmheft dazu, das wusste ich noch nicht. Interessiert durchgeblättert, ob ich bekannte Namen fand; fand ich, waren aber für meine Arbeit egal. Aber diese Anzeige fand ich dann ganz spannend.

Ich freute mich auch über einen skurrilen Heftfund, der mir letztes Mal beim hektischen Durchgucken entgangen war: „Das deutsche Malerblatt.“ Dieses Heft existiert sonst nur noch im Deutschen Museum hier in München und in ihm befindet sich ein Artikel zur sogenannten Ehrenhalle, mit der die Ausstellung „Die Straße“ von 1934 eröffnet wurde. In dieser temporären Ausstellung malten zehn Maler gemeinsam acht Werke an die Wände, was aus kunsthistorischer Sicht ziemlich gaga ist, weil ein Wandgemälde eigentlich etwas Dauerhaftes ist. Diese schlaue Erkenntnis teilte mir eine andere Doktorandin mit, die ein anderes Thema hat, das sich aber hier in dieser Ausstellung mit meinem Thema überkreuzt, denn einer dieser zehn Maler war der Herr Protzen. (Und ich weiß immer noch nicht, wie er an diesen prestigeträchtigen Auftrag gekommen ist, knurr.) Wir sind von meinem Doktorvater verbandelt worden, und die Dame freute sich außerordentlich über meine Fotos des Hefts und der folgenden Seiten. Und ich freute mich, dass ich jemandem eine Freude machen konnte.

Und auch, weil ich endlich wusste, welches der Bilder Protzen nun gemalt hatte, denn um diese genaue Auskunft drückten sich alle Aufsätze und Quellen, die ich bisher gefunden hatte. Aber: Im Nachlass finden sich Fotos von Kartons, die als Vorlage für die endgültigen Gemälde dienten, aber nur von vier der acht Bilder. Also gehe ich mal optimistisch davon aus, dass er nur an „2. Die römische Straße“, „4. Die Straße im frühen Mittelalter“, „5. Die Straße nach dem Dreißigjährigen Krieg“ sowie „6. Die Straße um 1800“ beteiligt war. Oder er hat ein paar Fotos bewusst vernichtet, denn in den Gemälden „7. Die Straße frei den brauen Bataillonen, Nürnberg 1933“ sieht man einen gemeinsamen Aufmarsch von SA, SS und Soldaten vor einer Fachwerkhauskulisse und in „8. Die Straßen Adolf Hitlers“ eine breite, moderne Autobahnbrücke durch eine dörfliche Gegend. Wobei das letzte Bild gut in sein späteres Schaffen passen würde, aber vielleicht war er hier wirklich noch unbeteiligt. Das ist jetzt also keine wilde Entdeckung, dass er an diesen Werken beteiligt war, aber immerhin eine Eingrenzung, und mich freuen solche Details.

Dann fand ich ein Werk von ihm auch noch in Farbe, das war auch schön. Es gibt so wenige Farbaufnahmen der Autobahnbilder, und bei einigen Werken weiß ich immer noch nicht, wo sie sich heute befinden, falls sie überhaupt noch existieren. Das ist ist, falls ihr die Überschrift aus der Sonderausgabe der Monatshefte von Velhagen & Klasing nicht lesen könnt, die Lauterbachtalbrücke bei Kaiserslautern.

Bei einem Katalog von 1955 musste ich sehr grinsen und an meine Großeltern und Eltern denken, die gerne alles irgendwie beschriften und notieren, man weiß ja nie. Der Katalog war von der 29. Jahresschau Oberpfälzer und niederbayerischer Künstler und Kunsthandwerker im Kunst- und Gewerbehaus Regensburg, die Ende 1955 stattfand. Protzen war als Gast eingeladen und zeigte unter anderem sein Stilleben mit schwarzem Korb, das ich mal keck auf 1955 datiere, weil er fast konstant aktuelle Werke zeigte, egal wo und wann. (Wenige Ausnahmen direkt nach dem Krieg, als noch keiner so recht wusste, was man jetzt überhaupt zeigen sollte oder durfte. In der Zeit produzierte er auch fast ausschließlich unverdächtige und kreuzlangweilige Blumenstillleben.) Im Katalog war sein Werk auch abgebildet, aber ohne Name oder Bildtitel, wie sich das eigentlich gehört, nur mit Katalognummer. Also hat der gute Mann bei allen Abbildungen die Namen der Künstler handschriftlich notiert – auch bei seinem eigenen Werk.

Bei einem anderen Katalog wimmerte ich hingegen sehr. Zusammen mit Protzen stellte nämlich auf der Dresdner Schau „Kunst und Technik“ 1939 auch ein gewisser Carl Grossberg aus, dem ich immer noch sehr hinterhertrauere. Von ihm kannte ich ja schon Bilder vom Ende der 30er Jahre – er starb 1940 –, aber die hier kannte ich noch nicht. Das Werk Grossbergs ist nach 1933 noch so gut wie nicht aufgearbeitet, weil die ollen Erben nicht wollen, dass er irgendwie in den Ruch eines Nazikünstlers kommt. Die Gefahr sehe ich natürlich nicht, aber auch generell wäre es spannend, sich diese Zeit in Bezug auf ihn anzuschauen, weil er ein hervorragendes Beispiel dafür ist, dass eben nicht alles, was zwischen 1933 und 1945 in Deutschland als Kunst produziert und offiziell ausgestellt wurde, so aussah, als wolle Göring es sich übers Sofa hängen. Genau das war meine erste Dissertationsidee, die aber leider am Nein der Grossberg-Erben scheiterte. Und so wimmerte ich noch ein bisschen weiter, wo ich endlich mal wieder ein Bild von ihm sah. Ich liebe sein Zeug so sehr.

Wer noch mehr zu Grossberg und seinem halbwegs aktuellen Forschungsstand lesen möchte, kann das in diesem pdf der Galerie Hasenclever von 2017 tun. Die Zeit ab 1933 und die nicht vorhandene kunsthistorische Auseinandersetzung mit ihm fängt auf Seite 6 an, Autor ist der von mir sehr geschätzte Olaf Peters.

Und so wuschelte ich bis kurz nach 15 Uhr durch, das sah ungefähr so aus, Belegbild mal wieder nur für F. aus der Hüfte geschossen, und allmählich sollte ich mir angewöhnen, auch diese Hüftbilder anständig zu machen, denn die landen neuerdings irgendwie immer im Blog:


(Mein Trackpad am Laptop hat eine Macke, und das externe Trackpad wackelt, und ich komme wir wirklich immer wie ein Idiot vor, neben Laptop und Trackpad noch einen gefalteten Zettel in alle Bibliotheken zu schleppen, damit es eben nicht mehr wackelt, ich Hobo der Kunstgeschichte. Aber bevor die Diss nicht fertig ist, gibt’s keinen neuen Rechner. Never touch a running system.)

Als Abschluss blätterte ich noch einmal das Gästebuch durch, das die Protzens von 1926 bis ungefähr 1962 führten, die letzten Einträge sind undatiert, Henny Protzen-Kundmüller starb 1967, Protzen bereits 1956, was sie auch im Gästebuch vermerkte. In den letzten Tagen, in denen ich endlich mal konzentriert und länger am Nachlass arbeiten konnte als bisher, wo ich immer nur für einen Tag in der Stadt war, sind mir eben doch noch viele Namen und Dinge aufgefallen, und einiges fand ich im Gästebuch wieder. Ich fand auch einiges nicht, was ich erwartet hatte, was mir auch wieder Interpretationsspielraum gibt. Ich bleibe hier mal so vage, sonst wird der Eintrag noch länger.

Aber das war eine wirklich schöne und ertragreiche Woche. Zu den Nachlässen der anderen Künstler bin ich nicht mehr gekommen, aber ich ahne, dass ich noch ein fünftes Mal alles durchwühlen werde, vermutlich wenn ich wieder einige Monate neue Recherche hinter mir habe. Darauf freue ich mich jetzt schon.

(Und ich habe mich über eure Mails gefreut, die davon berichtet haben, dass ihr meine Archivarbeit nicht so langweilig findet, wie ich innerlich erwartet hatte. DIE IST AUCH NICHT LANGWEILIG! Seid froh, dass ich nicht wieder mit Golfspielen anfange.)