Was schön war, Samstag/Sonntag, 25./26 August 2018 – Politische Goldene Hochzeit

Samstag früh um kurz vor acht trug ein schnuffiger IC F. und mich ins Schwäbische, wo mein Patenonkel und seine Frau ihre Goldene Hochzeit feierten. Normalerweise sitzen wir lesend oder dösend im Großraumwagen nebeneinander, wenn wir länger Zug fahren, aber hier gab es nur Abteile, wir hatten netterweise eins für uns, und so klönten wir entspannt bis Ulm. Das fehlende Dösen rächte sich ein bisschen in einem Nachmittagstief, aber das konnten wir mit Kaffee und frischer Luft bekämpfen.

Wir hatten in Ulm zwar bewusst eine gute halbe Stunde Aufenthalt zum Umsteigen gewählt anstatt der auch möglichen sieben Minuten, aber die Zeit reichte natürlich nicht, um kurz zum Münster rüberzuhüpfen. Ich bewunderte es beglückt aus der Ferne.

Am Zielort angekommen, wurden wir mit dem Auto abgeholt und zur ungefähr 800 Meter entfernten Kirche chauffiert, da hatte sich Frau Gröner in Maps arg bei der Entfernung verguckt. So waren wir etwas zu früh da, konnte dafür aber dem Posaunenensemble mehrfach dabei zuhören, ein Motiv aus einem der später zu singenden Lieder zu spielen. Überhaupt war es schön, mal wieder laut zu singen, vor allem „Bewahre uns Gott“, das mag ich sehr gerne. (Memo to me: endlich in München eine Gesangslehrerin suchen.)

Dann ging’s mit der ganzen Festgesellschaft in einen nahegelegenen Gasthof, wo die üblichen Familienfeierportionen auf uns warteten. Ich glaube allmählich, für derartige Feste trainiert man sich im Laufe seines Lebens einen eigenen Magen an. Wir hatten eine äußerst angenehme Tischgesellschaft, darunter auch den Sohn des Ehepaars und seine Frau, die schon bei der Goldenen Hochzeit meiner Eltern an meinem Tisch gesessen hatten. So konnten wir quasi nahtlos an unsere Gespräche über Kunst und Religion – die beiden sind Pastor*innen – anknüpfen.

Was mir an der Feier besonders gefallen hat, war das Rahmenprogramm, wenn man es so nennen kann. Das Ehepaar selbst hatte sich die üblichen Bilder ausgesucht, die nach dem Mittag und vor Kaffee und Kuchen gezeigt wurden – also im kleinen Zeitfenster von gefühlt 20 Minuten. Wir sahen Dias von der Hochzeit (Dias = gescannte Fotos über Beamer und Laptops der Söhne), einige Menschen wurden besonders erwähnt, weil sie nicht mehr am Leben waren und man an sie erinnern wollte. Und dann erwartete ich den üblichen Rückblick auf 50 Jahre Familienleben, aber: Die Söhne hatten sich etwas leicht anderes ausgedacht. Sie erinnerten daran, dass die Eltern ja ausgerechnet 1968 geheiratet hatten – ein Jahr, das für die Gesellschaft der Bundesrepublik eine gewisse historische Zäsur war. Praktischerweise waren viele der Gäste im Saal damals auch schon dabeigewesen, man habe also eine Menge Zeitzeugen versammelt, die der nachfolgenden Generation vielleicht etwas erzählen konnten. Und so starteten sie die Fragerunde gnadenlos mit einem Bild des Prager Frühlings und fragten ihre Eltern, wie sie die Ereignisse damals erlebt hätten. Was ich spannend fand – und womit ich ehrlich gesagt nicht gerechnet hatte: Nicht nur das Ehepaar erzählte kurz, sondern es schilderten auch sofort einige Gäste ihre Sicht. So meinte die Frau meines Patenonkels, dass sie die Ereignisse zwar mitbekommen hätte, aber keine Angst gehabt habe, woraufhin sich eine ältere Frau mit erkennbar sächsischem Akzent meldete, deren Freunde damals bei der NVA gewesen waren, um die hätte sie schon Angst gehabt. Ein Herr meinte, er wäre damals gerade frisch bei der Bundeswehr gewesen und auch dort sei diskutiert worden. Alleine für diese fünf Minuten hatte sich die ganze Feier gelohnt. (Ich erwischte mich wie in guten Vorlesungen dabei, mit offenem Mund zuzuhören.)

Es kamen natürlich auch entspannendere Fragen dran; wir hörten Heintje und sahen das Plakat von „Zur Sache, Schätzchen“, verbunden mit Fragen zu eigenen Lieblingssongs oder ob man gemeinsam im Kino war. War man interessanterweise eher selten, woraufhin ich meine Eltern, die auch da waren, gleich mal fragte, wie das bei ihnen war; ich wusste ja, dass Mama Autogramme der gesamten deutschen Filmbranche der 50er Jahre gesammelt hatte und dass Papa stapelweise Filmprogramme von Western im Keller hortete, aber auch die beiden waren kaum gemeinsam im Kino gewesen. Wieder was gelernt. Auch lustig: Bei der Frage, ob es die Hippiebewegung auch in die schwäbische Kleinstadt geschafft hätte, gingen die Meinungen sehr auseinander, von „Davon habe ich nichts mitbekommen“ bis zu einem verschmitzten „Aber hallo“.

Das Ehepaar ist bis heute ehrenamtlich sehr engagiert, was bereits damals begonnen hatte. So erzählte die Frau meines Patenonkels von der Umbenennung der männlichen und weiblichen Pfadfinderverbände bzw. der neuen Logoentwicklung. Kurz zuvor war aus dem Christlichen Verein junger Männer der Christliche Verein junger Menschen geworden. Bei den Pfadfindern wollte sie diese „Vereinnahmung“ der Frauen nicht einfach so hinnehmen und sie erklärte uns das Logo des 1973 entstandenen, gemeinsames Vereins : Die Lilie entstamme den christlichen Pfadfindern, das Kleeblatt drumrum den Pfadfinderinnen; beide bleiben sichtbar. Und ich saß wieder mit offenem Mund rum.

Ich fand es spannend, bei Menschen, die man seit fast 50 Jahren kennt, noch neue Facetten zu entdecken. Gerade meine „Tante“ hatte ich jetzt gar nicht als eine so dezidierte Streiterin für Frauenrechte wahrgenommen, obwohl mir die menschenfreundlichen und fortschrittlichen Ansichten der beiden natürlich klar gewesen war. Das war mit dem Effekt vergleichbar, wenn man alte Fotos der eigenen Eltern anschaut, die vor der Zeit entstanden sind, bevor man selbst auf der Welt war; es ist immer seltsam sich daran zu erinnern, dass die eigenen Eltern mal in dem Alter waren, in dem man selbst ist, mit ähnlichem Quatsch im Kopf, mit einem Lebensentwurf, mit Zielen und Plänen. Sie waren Einzelpersonen, bevor sie ein Paar und Eltern wurden, aber ich kenne sie halt nur im Doppelpack und vergesse manchmal, dass auch sie sich finden und zusammenraufen mussten.

Wir fuhren abends wieder nach München zurück, und nach dem langen Tag schlief ich recht schnell ein und erholte mich den Sonntag über alleine von den vielen Menschen am Samstag. Ich machte einen langen Spaziergang zu einer bewusst gewählten weiter entfernten Packstation und holte frischen Espresso ab, für den ich netterweise einen Gutschein geschenkt bekommen hatte. Dann schlief ich wie immer bei der Bundesliga auf dem Sofa ein, las ein bisschen die FAS, die ich gerade als vierwöchiges Geschenk der FAZ kriege, daddelte Candy Crush, plante im Kopf am Umzug weiter, bereitete mir abends herrliche Frühlingszwiebelpfannkuchen zu und schlief ebenso entspannt ein wie am Samstag.