Gelesen: „The Underground Railroad“

Ich habe den kompletten Sonntag auf meinem Sofa verbracht, um das Buch durchzulesen, das ich am Samstag begonnen hatte: The Underground Railroad von Colson Whitehead, hier der Link zur deutschen Fassung, Übersetzung von Nikolaus Stingl. Nach dem Reinlesen in die deutsche Leseprobe glaube ich, dass die Übersetzung gut gelungen ist, denn was mir am Roman fast am besten gefallen hat, war seine unromanhafte Sprache, er liest sich fast dokumentarisch. Das ist allerdings auch genau die fiese Falle, in die man als Leserin tappt – man meint, historische Fakten mit einer Romanhandlung ummantelt zu lesen, was größtenteils falsch ist. Aber das hat mir noch vor der Sprache am besten gefallen.

Ich interessiere mich schon recht lange für den Amerikanischen Bürgerkrieg bzw. seine Vorgeschichte sowie die Zeit danach (Reconstruction). Neben Machwerken wie Vom Winde verweht, das ich mit 13 erstmals las und damit ein richtig schön falsches Bild der Südstaaten vermittelt bekam, habe ich aber, soweit ich mich erinnere, keinen Roman über diese Zeit gelesen, auch Onkel Toms Hütte nicht. Stattdessen las ich ausgezeichnete Werke wie James McPhersons Battle Cry of Freedom: The Civil War Era (hier auf deutsch), das ich schon hundertmal in diesem Blog empfohlen habe und ich höre auch nicht auf damit, sowie Eric Foners Reconstruction: America’s Unfinished Revolution, 1863-1877 oder Slavery By Another Name: The Re-Enslavement of Black Americans from the Civil War to World War II von Douglas Blackmon, das sich mit den Langzeitfolgen des Krieges beschäftigt. Daher wusste ich, dass die Underground Railroad nicht wirklich eine Bahnstrecke ist, sondern ein Netzwerk aus Menschen und Wegen, die geflohene Sklaven in den vermeintlich sicheren Norden brachten. „Vermeintlich“ wegen der Fugitive Slave Laws, die Sklaven nicht automatisch zu freien Menschen werden ließen, sobald sie die Südstaaten hinter sich gelassen hatten. Der Roman tut nun aber so, als ob die Underground Railroad genau das ist, wonach es klingt: eine unterirdische Bahnstrecke, von Unbekannten in die Felsen und in den Grund geschlagen, auf der Züge verkehren, die Sklaven und Sklavinnen schnell über weite Strecken transportieren.

Ich habe mich recht lange während des Lesens gefragt, warum Whitehead zu diesem Kniff gegriffen hat. Ohne jetzt groß Rezensionen gegoogelt zu haben, glaube ich, dass diese Möglichkeit des weiten Reisens (wenn man eine Flucht als Reise bezeichnen will) ihm schlicht die Möglichkeit gab, mehrere Staaten der USA und der späteren Konföderierten zu beschreiben bzw. ihre jeweilige Auffassung von Recht und Gesetz, dem Umgang mit der schwarzen Bevölkerung und der eigenen Geschichte. Teils fiktiv, teils immerhin historisch inspiriert. (Zum Beispiel das Kapitel zu Indiana.)

Die Sklavin Cora ist die Figur, der wir hauptsächlich folgen, aber wir erfahren in kleinen Einzelkapiteln auch Hintergrund zu anderen, zum Beispiel zum slave catcher Ridgeway. Dessen Vater war Schmied und sein Gehilfe, ein amerikanischer Ureinwohner, erzählte gerne vom great spirit, in dessen Namen nun auch der Vater arbeitete. Der Sohn schlug eine andere Karriere ein. Das Buch klingt streckenweise so, oft einen historischen Fakt (die Maßlosigkeit der Menschenjäger) mit einer deskriptiven und doch evokativen Sprache verbindend:

„Ridgeway gathered renown with his facility for ensuring that property remained property. When a runaway took off down an alley, he knew where the man was headed. The direction and aim. His trick: Don’t speculate where the slave is headed next. Concentrate instead on the idea that he is running away from you. Not from a cruel master, or the vast agency of bondage, but you specifically. It worked again and again, his own iron fact, in alleys and pine barrens and swamps. He finally left his father behind, and the burden of that man’s philosophy. Ridgeway was not working the spirit. He was not the smith, rendering order. Not the hammer. Not the anvil. He was the heat.“ (S. 96)

Das nächste Zitat hat mir besonders gefallen, was vermutlich am Gegenstand liegt, der hier beschrieben wird. Gleichzeitig schwingen zwei Dinge mit: dass Cora als Nicht-Mehr-Sklavin inzwischen lesen gelernt hat und dass ihr inzwischen Dinge gehören. Vieles, was sich ändert, wird so fast nebenbei abgehandelt; das Buch macht kein großes moralisches Fass auf. Das muss es gar nicht, die Diskussion um Sklaverei verbietet schlicht mehr als eine Seite oder Meinung. Aber wieviel sich ändert, nicht nur im Großen, sondern im Kleinen, vermittelt das Buch auf vielen Seiten in intimen Szenen wie dieser hier:

„The almanac had a strange, soapy smell and made a cracking noise like fire as [Cora] turned the pages. She’d never been the first person to open a book.“ (S. 301)

Wir lesen auch die Biografien von anderen Geflohenen, von Helfern und Helferinnen und auch von einer Angehörigen von Cora. Darauf habe ich das ganze Buch gehofft – ich hatte bräsigerweise das Inhaltsverzeichnis überblättert, in dem ich schon hätte sehen können, dass auch Coras Mutter ein paar Seiten gewidmet werden. (Daher ist das kein Spoiler. Hoffe ich.) Ein Hauptmotiv in Railroad ist das Entwurzeltsein, das Gefühl, nirgends hinzugehören. Zu wissen, man stammt aus Afrika, aber nicht zu wissen, woher genau, keine Familie zu haben, als Eltern in Sklaverei nicht zu wissen, ob man seine Kinder wachsen sehen wird, weil die Chance groß ist, dass sie verkauft werden, all das schwingt immer mit, wenn Cora nach ihrem Platz sucht.

(Kleiner Einschub: Die eigene Familie zu finden, beschäftigte ehemalige Sklaven und Sklavinnen noch lange Zeit. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts fanden sich in Zeitungen Anzeigen, in denen nach Familienmitgliedern gesucht wurden. (Foner 1988, 84.) Gleichzeitig gab es Lithografien wie diese hier, mit denen man einen eigenen Stammbaum begründen konnte.)

Cora macht sich außerdem Gedanken über die Weißen und ihren Umgang mit dem Land und den Menschen, die andere Hautfarben haben. Es wird oft angedeutet, dass die Vereinigten Staaten ein Land sind, das auf Verbrechen gegründet wurde: der Mord an den amerikanischen Ureinwohnern, die unrechtmäßige Landnahme und natürlich die Sklaverei, ohne die vor allem die Südstaaten nicht so einen großen wirtschaftlichen Aufschwung erlebten. Der allerdings immer noch geringer war als der der Nordstaaten: 1850 besaßen die Südstaaten gerade 18 Prozent der Produktionskapazitäten, obwohl sie 42 Prozent der Gesamtbevölkerung stellten. 70 Prozent der Baumwolle wurden in den Norden exportiert, wo die Webereien aus dem Rohstoff Kleidung herstellten, die zu höheren Preisen exportiert werden konnte. Nur fünf Prozent der Ernte wurde in den Südstaaten verarbeitet. (McPherson 1988, 91.)

Auch die Tatsache, dass in vielen Landkreisen der Südstaaten mehr schwarze als weiße Menschen lebten, wird angesprochen; einerseits hoffnungsvoll aus der Sicht von Cora, andererseits ängstlich aus der Sicht der Plantagenbesitzer und slave catcher, denen durchaus bewusst ist, dass sie im Falle einer Revolte zahlenmäßig weit unterlegen wären.


(Quelle: James McPherson, Battle Cry of Freedom. The Civil War Era, New York 1988, S. 101. Man sieht sehr gut, dass gerade die Gebiete, in denen die arbeitsintensive Baumwolle angebaut wurde, eine große schwarze Bevölkerung haben.)

In The Internal Enemy von Alan Taylor las ich, dass gerade die zahlenmäßige Überlegenheit das bescheuerte Denkgebäude der Sklavenhalter noch wackeliger machte. Ihre Begründung für die Rechtmäßigkeit von Sklaverei war, dass Schwarze minderbemittelt seien und die guten Weißen sich quasi um sie bemühten, indem sie ihnen ein Dach über dem Kopf und Nahrung zur Verfügung stellten – im „Tausch“ gegen Arbeitskraft. Ohne die Weißen wären die Schwarzen quasi hilflos. (Ich kann dieses paraphrasierte Zitat leider gerade nicht belegen, weil ich das Buch nur aus der Bibliothek geliehen hatte.) Dass diese Auffassung kompletter Blödsinn war, war den meisten spätestens nach den ersten Revolten klar, als sehr deutlich wurde, wie groß die Sehnsucht nach Freiheit war. Als der Anteil der schwarzen Bevölkerung immer größer wurde, nahm auch die Angst vor weiteren gewaltsamen Auseinandersetzungen zu. Auch deswegen neigten viele Sklavenhalter zu großer Brutalität – grausame Strafen sollten zur Abschreckung vor Flucht oder Ungehorsam dienen. Gleichzeitig durften diese Strafen aber nicht so schwer sein, dass Sklaven und Slavinnen arbeitsunfähig wurden, denn sie waren schlicht wertvolles Gut, für das man durchaus hohe Preise gezahlt hatte. (Der slave catcher im Buch spricht nie von he oder she, wenn er über die Menschen redet, denen er nachstellt, sondern stets von it, dem Besitz, dem Ding.)

In Railroad Unterground gibt es also diverse Themen, die angerissen und aus der Sicht von Cora geschildert werden. Whitehead beschreibt die verschiedenen Staaten, in denen Cora sich aufhält, unterschiedlich, und auch hier vermischt er wieder Fakten mit Fiktion oder deutet Dinge an, die noch nicht passiert sind. Der Roman scheint vor dem Bürgerkrieg zu spielen, aber als Cora sich in Tennessee bewegt, wird verbrannte Erde beschrieben, verkohlte Häuser, schwarze, kahle Bäume, was ich als Vorausahnung auf den Bürgerkrieg interpretieren würde. In einer anderen Situation erinnerte mich Cora an Anne Frank, was ich für keinen ganz schiefen Vergleich halte, in einer anderen an ausgestellte Menschen in Tierparks, auch hier in Deutschland. Ich weiß bei beidem nicht, ob es diese Vorbilder auch in den USA gab, aber ich hatte das Gefühl, dass Whitehead hier bewusst die Geschichte auf weitere Verfolgte weltweit ausdehnt. Auch daher halte ich seinen Kniff, die Underground zu einem echten Zug zu machen, für einen genialen Trick, um der Leserin eine viel größere Welt zu eröffnen – und damit eine Welt an Problemfeldern, die eben nicht auf eine kurze Zeit in den Südstaaten begrenzt und damit erledigte Geschichte sind, sondern bis heute vorherrschen oder einen Einfluss auf heutige Politik haben.

(Noch ein Einschub: Mit der unsäglichen Aussage John Kellys, der Bürgerkrieg wäre deshalb ausgebrochen, weil man keinen vernünftigen Kompromiss hatte finden können, hat sich unter anderem Ta-Nehisi Coates auf Twitter beschäftigt. Der Thread hat leider zu viele Antworten, um vernünftig angezeigt zu werden, aber ich fand den verlinkten Tweet mit dem Link zu einer Quelle sehr wichtig; in ihr wird ganz klar auf Sklaverei als Wirtschaftsfaktor hingewiesen, was die Entwicklung der Argumentation von Weißen beschreibt: vom angeblich guten Förderer der schwarzen Rasse zu ihrem Ausbeuter. Ich halte Coates für einen derzeit sehr wichtigen Autoren, der eine sehr herausfordernde und unbequeme Sichtweise auf die amerikanische Geschichte der Schwarzen hat, und verweise einmal mehr auf sein neues Buch mit Essays aus den vergangenen Jahren, darunter auch das meiner Meinung nach bahnbrechende und sehr informative The Case for Reparations.)

Zurück zu Underground Railroad: Während des Lesens erinnerte ich mich an viele der Dinge, die ich eben erwähnte, während ich andere nachschlagen musste, weil ich selbst nicht sicher war, was jetzt Fakt und was Erfindung war. Ich mochte dieses Leseerlebnis sehr gerne. Vielleicht inspiriert es Menschen, die noch nicht so viel zu diesem Teil der amerikanischen Geschichte gelesen habe, auch dazu, wenigstens mal in der Wikipedia rumzuklicken. Und neben dem Lerneffekt ist das Buch sehr unwiderstehlich geschrieben. Ich habe es, wie erwähnt, an knapp zwei Tagen durchgelesen und lege es euch hiermit sehr ans Herz. Auch wenn euch der Bürgerkrieg nicht die Bohne interessiert.