Proust lesen

„Ein Gefühl der Müdigkeit und des Grauens befiel mich bei dem Gedanken, daß diese ganze so lange Zeit nicht nur ohne Unterbrechung von mir gelebt, gedacht und wie ein körperliches Sekret abgelagert worden war und daß sie mein Leben, daß sie ich selbst war, sondern daß ich sie auch noch jede Minute bei mir festhalten mußte, daß sie mich, der ich auf ihrem schwindelnden Gipfel hockte und mich nicht rühren konnte, ohne sie ins Gleiten zu bringen, gewissermaßen trug. Das Datum, zu dem ich das Geräusch des Glöckchens an der Gartenpforte in Combray gehört hatte, jenen Klang, der jetzt so fern und dennoch in mich eingebettet war, bildete einen Markstein in dieser unendlichen Weite, von deren Vorhandensein in mir ich nichts ahnte. Es schwindelte mir, wenn ich unter mir und trotz allem in mir, als sei ich viele Meilen hoch, so viele Jahre erblickte.“

(Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 7: Die wiedergefundene Zeit, Suhrkamp 3647, 2002, Seite 526/527, Ãœbersetzung von Eva Rechel-Mertens)

„J’éprouvais un sentiment de fatigue profonde à sentir que tout ce temps si long non seulement avait sans une interruption été vécu, pensé, sécrété par moi, qu’il était ma vie, qu’il était moi-même, mais encore que j’avais à toute minute à le maintenir attaché à moi, qu’il me supportait, que j’étais juché à son sommet vertigineux, que je ne pouvais me mouvoir, sans le déplacer avec moi. La date à laquelle j’entendais le bruit de la sonnette du jardin de Combray si distant et pourtant intérieur, était un point de repère dans cette dimension énorme que je ne savais pas avoir. J’avais le vertige de voir au-dessous de moi et en moi pourtant comme si j’avais des lieues de hauteur, tant d’années.“

(Marcel Proust, À la recherche du temps perdu 7: Le temps retrouvé, Quelle 1, 2)

Das ist nicht der Schluss des Werks, aber es fehlen nur noch wenige Zeilen, und dann taucht das Wort Ende auf. Und ich konnte es kaum glauben, als ich dieses Wort sah, dass ich das Buch jetzt aus der Hand legen sollte, denn schließlich hatte ich seit Monaten ständig „einen Proust“ im Rucksack, neben dem Bett, auf dem Sofa liegen. Die Wiedergefundene Zeit zuzuklappen, hat sich ein bisschen wie Abschied nehmen angefühlt – von jemandem, der irgendwie immer da war, ohne dass man es groß bemerkt hätte. Erst jetzt, als er gehen will, fällt auf, wie sehr er fehlen wird.

Laut meines Eintrags im ersten Band – In Swanns Welt, heute mit Unterwegs zu Swann übersetzt – habe ich das blaue Suhrkampbändchen 1992 gekauft. Ich erinnere mich, dass ich damals zu Schmorl & v. Seefeld in Hannover gegangen bin, weil ich irgendwo aufgeschnappt hatte, dass die Verlorene Zeit ein Jahrhundertwerk sei, das man gelesen haben musste. Also habe ich danach gefragt, worauf die Verkäuferin zurückfragte: „Welcher Band denn?“ Bis dahin wusste ich nicht mal, dass das Buch mehrere Bände hätte, also nahm ich klugerweise den ersten, fing an zu lesen – und war relativ schnell gelangweilt. Die langen Sätze haben mich nicht unbedingt überfordert, aber damals war ich eher dabei, amerikanische Gegenwartsliteratur zu entdecken, die eindeutig schneller zum Punkt kam. Also wanderte der Band ins Regal, zog von der Wedemark nach Hannover und von dort nach Hamburg, von Altona nach Eimsbüttel nach Hoheluft, und irgendwann im letzten Jahr habe ich ihn wieder aus dem Regal gezogen, warum, weiß ich bis heute nicht. Vielleicht war die Zeit einfach reif für die Zeit.

Der erste Band hat mich begeistert; ich weiß, dass ich des Öfteren beim Lesen das Buch mal kurz umarmt habe, weil es mich so umfangen hat. Da konnte der Kerl lästern wie er wollte; ich hatte stets ein glückliches Grinsen im Gesicht, wenn ich mit dem kleinen Marcel durch Combray stapfte oder mit ihm verständnislos dem liebeskranken Swann folgte.

Zwischen dem ersten und dem zweiten Band lag eine längere Pause, wenn ich meinem eigenen Blog glauben darf: Erst im Mai diesen Jahres habe ich Im Schatten junger Mädchenblüte erwähnt. (Ich bin gerade selber etwas überrascht – das heißt ja, dass man das ganze Ding in gut einem halben Jahr durchlesen kann. Los, macht!) Ich weiß, dass ich im letzten Jahr, als ich in Berlin gebucht war, meine Schwierigkeiten mit Proust hatte. Für Zugfahrten nach langen Arbeitswochen oder morgens um 7 war er nicht ganz so geeignet; außerdem musste ich dringend das Comicregal vom Kerl leerlesen. Aber mit der Mädchenblüte fing der Sog an, den das Werk langsam, aber zwingend entwickelt. Es geht gar nicht so sehr um die Handlung; man muss nicht dringend wissen, wer jetzt mit wem und wieso (denn mehr passiert eigentlich nicht), aber die vielen Figuren wachsen einem mehr ans Herz als man mitkriegt. Ich habe es immer daran gemerkt, dass ich, wenn sich ein Band dem Ende näherte, sofort bei Amazon einkaufen gehen musste. Ich habe nie mehr als den jeweils nächsten Band bestellt, ich glaube, ich habe mir selbst nicht zugetraut, das ganze Ding durchzulesen. Auch weil es eigentlich völlig dem widerspricht, was ich sonst gerne lese.

Die oben angesprochene amerikanische Literatur liegt mir immer noch, die Comics sind ganz neu, und meine Güte gibt es davon VIELE, die noch gelesen werden wollen, ich habe immer noch Bücher hier liegen, die ich zum Geburtstag im März bekommen habe und auf die ich sehr neugierig bin, aber irgendwann hatte Proust mich im Griff. Irgendwann war der Punkt erreicht, den man vom langen Gehen oder von fiesen Radtouren kennt: das Wissen, dass der Rückweg jetzt länger wäre als die Strecke, die man noch vor sich hat. Aufgeben gilt nicht. Bei der Verlorenen Zeit war irgendwann das Gefühl da, jetzt hab ich’s bis hier geschafft, jetzt lese ich’s durch.

Ja, es gab durchaus Stellen und Seiten und viele Seiten hintereinander, bei denen ich sehr versucht war, mal querzulesen. Ja, es gab Momente, in denen ich überhaupt keine Lust auf den nächsten Salon hatte. Aber über die Stellen kommt man weg, und dann kommt wieder eine Landschaftsbeschreibung, die mich gerührt hat, ein Psychogramm, das mich seitenlang faszinieren konnte, eine Pastiche, die ich genossen habe, auch wenn ich von denjenigen, die Proust nachahmt, nichts gelesen hatte.

Und dann der Anhang. Die Übersetzung der sieben Suhrkamp-Taschenbücher, die ich habe, stammt von Eva Rechel-Mertens, die sie bereits in den 50er Jahren verfasst hat. Für eine neue Werksausgabe wurde ihre Übersetzung von Luzius Keller revidiert; der letzte Band dieser Ausgabe (Die wiedergefundene Zeit) erschien 2002 im Rahmen der Frankfurter Ausgabe. Luzius Keller erklärt im Anhang nicht nur die vielen Figuren, die von Proust so nebenbei erwähnt werden, die teilweise real, teilweise fiktiv sind; er schafft es viel mehr, die Recherche zu erden. Die vielen Hintergrundinfos machen das Werk fassbarer, ohne eine Interpretation vorwegzunehmen. Es bleibt immer noch genug Raum für den Leser, sich selber mit dem Geschriebenen auseinanderzusetzen, aber man fühlt sich in diesem Wust von Menschen und Orten nicht ganz so alleingelassen.

Als ich den letzten Band zugeklappt habe, war ich mal wieder sehr dankbar, wie immer nach einem guten Buch oder Film, nach einem warmen Abend mit Freunden oder einer perfekten Mahlzeit allein. Dankbar für diese vielen Augenblicke, in denen ich eine ganz besondere Schönheit genießen durfte, die nicht alltäglich ist, weil sie schlicht in keinen Alltag passt. Die Recherche spielt in einer ganz bestimmten Zeit, aber in ihren guten Momenten ist sie zeitlos; ich war seitenlang davon fasziniert, wie modern das Buch trotz seines anstrengenden Satzbaus ist. Das Werk nimmt einen mit in eine versunkene Welt, eine Welt der Salons, in denen man Nichtigkeiten austauschte und sich wochenlang Gedanken darüber machen konnte, wer jetzt was zu wem im welchem Tonfall gesagt hatte und was das wohl bedeutete. Es ist ein Einblick in eine Kultur, die mir völlig fremd ist, aber wie bei der Tante Jolesch ist es eine Kultur, die mir jetzt fehlt, obwohl ich sie nie kennengelernt habe.

Ich bin ein kleines bisschen stolz darauf, dieses Werk bezwungen zu haben. Der Kerl hat mich mal mittendrin gefragt, was ich davon hätte, dieses Konvolut durchzulesen. Ich hatte damals keine Antwort darauf, denn was hat man schon generell davon, ein Buch durchzulesen außer: Es ist nicht so langweilig im Bus. Ich habe immer noch keine ausformulierte Antwort, aber ich glaube, das Gefühl der Dankbarkeit ist eine. Es ist ein bisschen Demut dabei, denn die Recherche macht einen irgendwann ehrfürchtig durch ihren Stil, ihre Gedankengänge, die über 1.000 Seiten hinweggetragen werden, ihre Präzision, mit der genealogische Linien wiedergegeben werden. Es ist auch Freude dabei; Freude, ein Meisterwerk schätzen zu können, es lesen zu dürfen, die Zeit zu haben, es lesen zu können. Es war eine kleine Übung in Disziplin und gleichzeitig eine große Belohnung.

PS: Das Lied, das ich vorgestern gepostet habe – Warmer Climate von Snow Patrol – war mein persönlicher Abschied von der Recherche. Die letzte Songzeile hat mein Grundgefühl sehr gut zusammengefasst: “And I’m so glad that this has taken me so long / ‘Cause it’s the journey that made me so strong”. Vielleicht ist es profan, einen Popsong mit Proust in Verbindung zu bringen, aber ein Großteil des Werkes beschäftigt sich mit bildender Kunst, Literatur und Musik und wie sie individuell erlebt werden. Daher glaube ich, dass es Proust gefallen haben könnte.